17

Der Troll will den Schatz

Bill – August 2334

Virt, Gruben von Paebak

Der Troll lag in zwei Teile zerschnitten zu meinen Füßen, die beiden Hälften waren sauber kauterisiert. Ich wischte vorsichtig mein Schwert ab und schob es in die Scheide zurück. Die Feuerklinge sowie eine verzauberte Rüstung hatte ich im Tausch für den Feuerballstab und fast meinen gesamten Anteil an Garghs Schatz erhalten. Es war ein fairer Handel gewesen, auch wenn sowohl Saruman der Weise als auch ich anschließend behauptet hatten, wir wären dabei über den Tisch gezogen worden. Dennoch war keiner von uns beiden vom Geschäft zurückgetreten.

Gerade schlich unsere Dungeon Party durch einen dunklen Korridor in den Gruben von Paebak. Als wir den derzeitigen DM nach dem Namen fragten, lächelte er nur mysteriös und sagte, dass am Ende der Kampagne alles klar sein würde. Was vermutlich bedeutete, dass wir mit einer schlechten Pointe rechnen mussten.

Da von Kevin genug identifizierbare Stücke übrig geblieben waren, um ihn wiederauferstehen zu lassen, war er in Gestalt seiner ursprünglichen Spielfigur wieder mit dabei. Gandalf hatte den entsprechenden Zauber an ihm gewirkt, nachdem Kevin ihm seine sämtlichen verbliebenen irdischen Güter überlassen hatte. Zum Glück schien Kevin endlich über den Verlust seines Stabs hinweg zu sein. Zumindest starrte er mich nicht mehr böse an. Da Tim nur schwebende Asche hinterlassen hatte, war er als Erst-Level-Dieb zurückgekehrt. Bis er sich genug aufgelevelt hatte, um nicht von einem unbeabsichtigten Nieser getötet zu werden, würde er sich in der Mitte der Gruppe aufhalten müssen.

Verne, Pete und ich stellten die Muskeln und die scharfen Waffen. Bisher hatten wir jeden Gegner abwehren können. Doch die Kämpfe wurden immer schwieriger, was darauf hindeutete, dass wir uns dem Höhepunkt des Spiels näherten.

Gandalf ging direkt hinter mir und benahm sich, als wäre er der Allergrößte. Ich konnte nur hoffen, dass er wirklich so talentiert war, wie er sich gab, da er sich über seine tatsächlichen Fähigkeiten nachhaltig ausschwieg.

»Das war ein Troll«, bemerkte Tim unnötigerweise.

Wir drehten uns zu ihm um. »Und?«, fragte Verne.

»Ein ziemlich heftiges Monster für einen Dungeon dieses Levels«, gab Tim zurück. »Ohne Bills Flammenklinge hätten wir ihn vielleicht gar nicht besiegen können. Jeden falls nicht, ohne dabei einen oder zwei Spieler zu verlieren.«

Ich blickte zum Kadaver des Trolls zurück. Tim hatte recht. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich so gut wie alles mit einem einzigen Hieb zerteilen konnte, doch Trolle waren im Allgemeinen sehr anspruchsvolle Gegner.

»Willst du damit andeuten, dass man uns eine Falle gestellt hat?«, fragte Gandalf. »Hat sich in letzter Zeit einer von euch irgendwelche Feinde gemacht?«

Ich sah zu Kevin hinüber, der meinen Blick unschuldig erwiderte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er dahintersteckte. Wenn er den Verlust eines Schatzes schlecht wegstecken würde, hätte er es als Gamer nicht weit gebracht. Die anderen schienen ebenfalls über ihre jüngste Vergangenheit nachzugrübeln.

»Hier gibt es eine Geheimtür«, sagte Tim.

Wir wandten uns zu ihm um und sahen, dass er mit dem Finger an eine Stelle in der Wand stieß.

»Bist du sicher?«

»Das ist so ziemlich das Einzige, worin ich gut bin«, erwiderte Tim. »Was glaubst du, wieso ich diesen Spielercharakter gewählt habe?«

»Na schön«, sagte ich. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir sie aufbekommen.«

Und damit begannen wir, sämtliche Vorsprünge und Erhebungen in der näheren Umgebung zu drehen, zu drücken und anzuheben, bis ein paar Sekunden später schließlich mit dem typischen knirschenden Soundeffekt eine Tür aufschwang und den Blick auf einen stockfinsteren Tunnel freigab.

»Das sieht dunkel aus«, bemerkte Tim. »Und eng.« Er zog ein Kupferstück aus der Tasche und warf es in die Schwärze. Ein dumpfer Aufprall ertönte, gefolgt von einem metallischen Klimpern.

»Äh …«

»Ja. Da drin ist irgendwas. Hat einer von euch einen Helligkeitszauber? Oder eine Taschenlampe?«

Doch wir brauchten kein Licht. Ich weiß nicht, ob der Dämonenhund von dem Münzwurf aufgewacht war oder er zu dem Schluss kam, dass er uns nicht mehr überraschen konnte. Jedenfalls stürmte er in diesem Moment aus dem Tunnel und hielt direkt auf Verne zu. Der Halbzwerg, ein in vielen Schlachten gestählter, furchtloser Warlord, erstarrte vor Angst, und der Hund rannte ihn um, als wäre er ein aufblasbarer Clown.

Offensichtlich hatte das Untier mit mehr Widerstand gerechnet, denn es stürmte ungebremst weiter und krachte donnernd gegen die gegenüberliegende Wand. Mit einem eigenartig menschlich klingenden »Uff« rutschte es an ihr herab und sackte in sich zusammen.

Pete nutzte die Gelegenheit und spießte die Bestie auf, ehe sie sich wieder erheben konnte. Als das Licht in den Augen des Hundes erlosch, lächelte Pete und sagte: »Es wurde auch Zeit, dass ich endlich mal einen echten Gegner erledige …«

Der zweite Dämon traf ihn am Hals. »Scheiße!«, sagte sein abgetrennter Kopf, während er über den Boden hüpfte. Endlich gewann ich die Kontrolle über meine Muskeln zurück und hackte den Hund mit einem Schwerthieb mittendurch.

»Tja, das ist nicht ideal«, sagte Gandalf. Er packte Petes Kopf am Helmbusch und hob ihn sich vors Gesicht. »Selbst wenn du es dir leisten könntest, wäre eine Wiedererweckung unmöglich. Ich habe meinen letzten Zauber für Kevin aufgebraucht.«

Petes Kopf sagte: »Ist schon okay. Ich hatte diesen Charakter eh allmählich satt.«

Ein dumpfes Grollen vor uns im Korridor unterbrach ihr Gespräch.

»Was bei den lodernden blauen Feuern war das denn?«, flüsterte Kevin.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Tim, »aber es kommt mir irgendwie groß vor.«

»Und hungrig«, fügte ich hinzu.

Tim spähte in den Tunnel. »Ich glaube, wir sollen irgendwohin getrieben werden. Aber die einzige Alternative wäre, wieder zurückzukehren. Ich wünschte, du hättest noch den Stab, Bill.«

Ich schüttelte den Kopf. »In dieser engen Röhre würden wir wahrscheinlich vom Rückstoß geröstet werden. Hast du irgendetwas, das sich für einen Nahkampf eignet, Gandalf?«

»Nicht im eigentlichen Sinne, Bill. Ich glaube, deine Flammenklinge ist unsere größte Chance.«

»Na toll.« Das bedeutete, dass ich vorausgehen und das magische Schwert vor mich hinhalten musste, in der Hoffnung, damit einen Angreifer zu töten, bevor er sich auf uns stürzen konnte. Gegen eine magische Attacke würde ich mit dieser Waffe jedoch nichts ausrichten können. Meine Zukunftsaussichten begannen, sich drastisch zu verschlechtern.

Ich zuckte die Achseln und betrat vorsichtig den Tunnel. »Möchte vielleicht irgendwer Licht machen?«

Gandalf murmelte etwas, und ein Licht erhellte über meine Schulter hinweg den Tunnel vor mir. Die Decke war nicht so hoch, als dass wir aufrecht hätten hineingehen können. Wäre ich ein lebender Mensch gewesen, hätte ich in dieser Haltung nach ein oder zwei Minuten Rückenkrämpfe bekommen. Wie bei D&D-Kampagnen üblich ignorierte die Spiel-Engine jedoch ein paar der reali stischeren Aspekte des Abenteurerlebens.

Schließlich endete der Tunnel an einer kahlen Wand, und wir drehten uns alle zu Tim um. Der zuckte die Achseln. »Ich sehe gar nichts.«

»Ich habe von dieser Kampagne allmählich die Nase voll«, flüsterte Verne. »Seit wir angefangen haben, haben wir gegen hochgerüstete Bestien gekämpft und dabei die Hälfte unserer Gruppe verloren, ohne dass dabei irgendwas für uns rausgesprungen wäre.«

»Hoffentlich ist die Beute am Ende all das wert.« Gandalf durchwühlte seinen Beutel. »Irgendwo hier drin habe ich einen Zauber des Wahren Sehvermögens … Ah ja.« Er zog ein kleines Notizbuch hervor und blätterte rasch die Seite um. Nachdem er ein paar Sekunden lang genickt und vor sich hingemurmelt hatte, blickte er auf. »Lasst es uns versuchen.«

Er vollführte ein paar Gesten und sprach in einer uralten Zunge. Dann kniff er die Augen zusammen und betrachtete eingehend die Tunnelwand. »Nichts. Was zum Teufel …?«

Wir starrten die kahle Wand an. Sie konnte zwar eine falsche Fährte sein, doch Sackgassen mussten immer irgendeinen Zweck erfüllen. »Mittlerweile hasse ich diesen DM «, erklärte Tim und machte kehrt, um durch den Tunnel zurückzugehen. Nach drei Schritten sagte er: »Hassen ist wirklich das richtige Wort.«

Wir schauten an ihm vorbei auf die Wand, die hinter uns erschienen war. Damit befanden wir uns in einem etwa zwanzig Fuß langen und auf beiden Seiten blockierten Abschnitt.

Ich runzelte die Stirn. »Gandalf, wirkt dein Zauber des Wahren Sehvermögens noch?«

»Ja, noch ungefähr eine Minute lang.«

»Siehst du irgendetwas in diesem Tunnel, von dem wir wissen sollten?«

»Nein.«

»Was kann ein Wahres Sehvermögen blockieren oder zunichtemachen?«

»Äh … natürlich Magie mit einem höheren Level. Aber das würde ich spüren.«

»Tim, kannst du irgendwas Wichtiges erkennen?«

»Nein. Außerdem würde ein Wahres Sehvermögen … Moment mal.« Tim hielt eine Hand dicht vor die Wand. »Ich fühle einen Luftzug.«

Wir gingen zu ihm hin und spürten ebenfalls die sanfte Brise.

»Damit können wir auf die Liste der Dinge, die das Wahre Sehvermögen unwirksam machen, auch einfache Tricks wie eine ohne Mörtel errichtete Wand setzen«, kommentierte Gandalf. Die Wand gab ein wenig nach, als er mit der Hand dagegen drückte.

Daraufhin stemmten wir uns alle mit dem Rücken dagegen. Nach ein paar Sekunden stürzte das Mauerwerk um.

Die gute Nachricht ist, dass sie mehrere Zombies erschlug, die auf der anderen Seite warteten. Die schlechte, dass davon ihre nicht zermalmten Kameraden alarmiert wurden. Wir standen an einem Ende einer riesigen unterirdischen Halle, die so hoch war, dass man im Dunkeln die Decke nicht erkennen konnte. Fackeln säumten die Wände. Sie brannten hell genug, um nicht nur die herumlaufenden Zombies, sondern auch die undefinierbare Statue zu beleuchten, die mindestens zwanzig Fuß hoch in der Mitte des Raumes aufragte.

»Ach du Scheiße«, schrie Tim und ging hastig rückwärts.

»Gehirrrne …«, grunzten die Zombies und hielten auf uns zu.

»Jetzt ist es aber gut«, rief Verne. »Das ist eine ganz falsche …«

»Halt die Klappe, Verne«, knurrte Gandalf. »Erst töten, dann meckern.«

Ich hob das Schwert und begann, es zu schwingen. Vielleicht ein wenig zu enthusiastisch, denn Verne rief »Hey, pass doch auf!« und sprang zur Seite.

Ohne Pete hatten wir nur noch zwei Kämpfer in unseren Reihen. Und selbst mit magischen Hilfsmitteln wür den Verne und ich die untote Meute nicht lange abwehren können. »Falls du irgendwelche Tricks auf Lager hast, Gandalf, wäre jetzt die Zeit, sie anzuwenden«, stieß ich hervor.

»Eine Sekunde noch«, brüllte er zurück. Ich hörte ihn unterdrückt fluchen, dann ein: »Aha!«

Ein Knall ertönte, und ein Zombie, der gerade Vernes Axt zu fressen versuchte, verwandelte sich in eine stinkende Gaswolke.

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe, doch ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Zombies waren zwar keine besonders mächtigen Gegner, doch diesen Nachteil machten sie mit zahlenmäßiger Überlegenheit und völliger Furchtlosigkeit wett. Außerdem waren sie sehr schwer zu töten. Um sie aufzuhalten, musste man sie förmlich zu Sushi verarbeiten. In den nächsten Sekunden würde ich es mit einem halben Dutzend dieser Widerlinge zu tun bekommen. Ich holte zum Schlag aus, und …

Peng, Peng, Peng.

»Wuuuhuuu!«, rief Gandalf. Nachdem mehrere Gegner auf einmal verschwunden waren, hatte ich Zeit für einen kurzen Blick über die Schulter. Gandalf gestikulierte mit einem Zauberstab. Jedes Mal, wenn er damit deutete, knallte es.

»Das ist wirklich verdammt praktisch«, sagte Verne und metzelte zwei weitere Zombies nieder.

»Bibbeti boppeti buh«, erwiderte Gandalf, während er herumtanzte und mit dem Zauberstab herumfuchtelte. »Bibbeti boppeti bibbeti bopetti bibbeti bopetti buh!« Mit jedem Taktschlag ging ein weiterer Zombie in Rauch auf. Der Gestank war überwältigend, und die Spiel-Engine ließ nicht zu, dass ich meinen Geruchsinn reduzierte.

Es waren nur noch wenige Zombies übrig, und ich glaubte bereits, dass wir diese Sache überleben würden, als aus dem Nichts eine gigantische Hand auftauchte. Sie schlang die Finger so fest um mich, dass ich keine Luft mehr bekam, und hob mich in die Höhe.

Nachdem sich auch die letzten Zombies knallend aufgelöst hatten, beendete Gandalf seine Showeinlage. Die schockierten Gesichter, in die ich nun blickte, legten nahe, dass die anderen von meiner misslichen Lage bislang noch gar nichts mitbekommen hatten. »Ein bisschen Hilfe?«, piepste ich.

»Hallo, Wabbit«, erklang hinter uns eine Stimme. Verne und Gandalf wandten sich um. Ich konnte mich nicht bewegen, doch die riesige Hand drehte mich netterweise herum, bis mein Blick auf Kevin fiel, der mich angrinste und eine Schriftrolle in die Höhe hielt. »Golem«, erklärte er und wedelte mit dem Dokument. Die hilfreiche Hand drehte mich weiter, und ich sah mich der Gestalt gegenüber, die ich bislang für eine Statue gehalten hatte. Ein zwanzig Fuß großes, lehmfarbenes humanoides Wesen starrte mich ausdruckslos an. Seine Visage hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Gesicht von Odo aus DS9 . Es lockerte seinen Griff ein wenig, damit ich leichter atmen und sprechen konnte.

Als Kevin die Schriftrolle wegsteckte, wehrte ich mich reflexartig ein bisschen. Natürlich vergebens. Er musste das Dokument nicht festhalten, um den Golem zu kontrollieren, sondern nur besitzen. Und Golems waren nicht nur so gut wie unzerstörbar, sondern auch noch höllisch stark.

Kevin trat zur Seite, um ein bisschen Abstand zwischen sich und den Rest der Gruppe zu bringen. Dabei feixte er immer noch triumphierend, sagte aber nichts. Offenbar wartete er darauf, dass wir die erste Frage stellten.

Verne tat ihm den Gefallen. »Was soll das, Kevin?«

Kevin deutete auf mich. »Es geht um Bill. Seine erste Kampagne hat er als Drachenfutter begonnen und ein Level über mir beendet, obwohl er die ganze Zeit über seine eigenen Füße gestolpert ist. Er macht so gut wie gar nichts und sahnt total ab.«

»Außerdem habe ich deinen Feuerballstab an mich genommen. Ich bin sicher, das spielt bei alldem hier auch eine gewisse Rolle.«

Kevin warf mir einen finsteren Blick zu. »Du hattest einen Dämpfer nötig, Kumpel.« Er grinste böse. »Deswegen habe ich diese Kampagne geplant und dafür gesorgt, dass du dazu eingeladen wirst.«

»Du hast gespielt und warst der DM ?«, fuhr Gandalf auf.

»Nein, die Leitung habe ich einem Freund überlassen. Ich bin nur so was wie …«

»Ein Kameradenschwein«, beendete Verne den Satz für ihn.

»Wie auch immer. Keiner von euch hat das Zeug dazu, einen Golem unschädlich zu machen. Genießt euren Tod, er geht auf Bills Kappe. Da ich gerade von ihm spreche …« Kevin hob eine Hand und vollführte eine Quetschbewegung.

Ich machte mich auf mein Ende gefasst und hoffte inständig, dass der Nervenfeedback-Filter auf höchste Stufe eingestellt war. Doch nichts geschah. Verblüfft wiederholte Kevin die Bewegung. Immer noch nichts. Als er die Hand in die Tasche steckte, wich die Sorge in seinem Gesicht einem Ausdruck von Panik.

»Suchst du das hier?«

Wir drehten uns zu Tim um. Er lehnte an der Wand und winkte mit der Schriftrolle.

Stimmt, er war ja ein Dieb.

»Du bist wirklich ein Arschloch, Kevin«, sagte Tim und öffnete die andere Hand. Der Golem ließ mich fallen. Dann streckte er den Arm aus, packte Kevin am Kopf und drückte zu. Ein Knall erklang, der nicht im Geringsten dem Geräusch ähnelte, mit dem die Zombies explodiert waren, und aus der Faust des Golems spritzten klebrige Flüssigkeiten in die Höhe.

Verne beugte sich vor und übergab sich. Es war widerlich.

»O GOTT !«, rief Gandalf. »War das wirklich nötig?«

Tim schnitt eine reumütige Grimasse. »Okay, das war vielleicht keine Glanzleistung. Aber …« Er hielt die Golem-Schriftrolle in die Höhe. »Anscheinend bin ich in den Besitz einer echt geilen Magie geraten. Ich sehe ein höheres Level auf mich zukommen. Lasst uns nachsehen, was wir sonst noch finden.«

Wir grinsten uns an und beendeten eine weitere erfolgreiche Kampagne.

Ich hatte mich erneut selbst in Gandalfs VR eingeladen und fühlte seinen misstrauischen Blick auf mir ruhen. Vielleicht rechnete er mit einem weiteren Vortrag über die Rolle der Gamer bei der Expedition. Doch diesmal hatte ich etwas anderes auf dem Herzen.

»Ich möchte über Kevin sprechen. So benimmt sich kein Bob. Es würde mich interessieren, wie weit er vom Original abgewichen ist.«

Gandalf zuckte die Achseln. »Er ist einer von meinen Nachfahren. Ich könnte ihn fragen, aber über den Daumen gepeilt müsste er ungefähr aus der vierundzwanzigsten Generation stammen. Man kann also davon ausgehen, dass die Abweichung ziemlich stark ausfällt.«

»Er ist ein ganz schönes Arschloch. Noch dazu ein rachsüchtiges.«

»Weißt du, Bill, ich verstehe ja, wieso sich die älteren Bobs wegen dieser Abweichungen Sorgen machen. Aber du musst auch begreifen, dass sie aus unserer Sicht mehr Vor- als Nachteile haben.«

Nun, das war interessant. Ich sah ihn fragend an.

»Als wir die Gamer-Gruppe aus der Taufe gehoben haben, waren die meisten von uns noch ziemlich Bob-artig, und ehrlich gesagt war das ein bisschen fad. Alle wollten Magier sein. Die Dungeons steckten voller intellektueller Rätsel. Alles war extrem ausgewogen … und sehr zivilisiert. Inzwischen« – er zuckte die Achseln – »kann man sich nicht immer auf seine Mitspieler verlassen. Manchmal passiert irgendein verrückter Scheiß – wie heute. Und gelegentlich gerät alles völlig aus den Fugen. Deswegen machen die Kampagnen viel mehr Spaß. Außerdem stoßen mittlerweile auch Nicht-Bob-Replikanten aus den Nachleben-Arkologien zu uns.«

»Was? Ernsthaft? Wer?«

»Heute war keiner dabei. Wir waren nur Bobs. Aber bei deinem letzten Besuch haben auch zwei Ex-Menschen mitgemischt. Interessant, dass dir das nicht aufgefallen ist.«

»Ha.« Damit hatte er wohl recht. »Und Kevin …«

»Sein Ruf wird leiden. Aber nicht wegen des versuchten Verrats, sondern weil dieser Versuch gescheitert ist. Wir werden ihn auch weiterhin an den Kampagnen teilnehmen lassen, uns aber nicht mehr von ihm den Rücken decken lassen – wenn du verstehst, was ich damit sagen will.«

Ich schüttelte lachend den Kopf. »Du hast recht. Ich betrachte alles zu sehr durch meine eigene Brille. Und das entwickelt sich allmählich zu einer gefährlichen Angewohnheit. Ich glaube, ich muss mich darum bemühen, alle als Individuen zu betrachten.« Ich stand auf. »Danke, Gandalf. Für das Spiel und für die Lektion.«

Er lächelte noch immer, als ich aus seiner VR verschwand.