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Probleme mit Otto

Bob – August 2334

Nirwana-Flusssystem

Die Dinge entwickelten sich erst gut und dann noch besser. Gut war, dass Otto mir inzwischen gezielt aus dem Weg ging. Noch besser fand ich, dass alle anderen es bemerkten und deswegen noch mehr meine Nähe suchten.

Während des Mittagessens saßen wir wieder einmal um eine Schüssel voller Fische. Mjam.

Wir beschäftigten uns mit Fragen der Moral, und Frieda hatte Theresa gerade gefragt, wie sie wissen wolle, was moralisch sei und was nicht, wenn sie nicht an eine Gottheit glaube, die dazu Vorgaben mache. Wie üblich musste ich die Zähne zusammenbeißen, um mir nicht mit der flachen Hand an die Stirn zu schlagen. Meines Wissens kannten die Quinlaner keine äquivalente Geste. Andernfalls hätte ich sie mittlerweile schon längst angewendet.

»Die Götter machen keine moralischen Vorschriften«, entgegnete Theresa, »sondern nur Vorschriften. Tu dies, und du wirst belohnt. Tu das, und du wirst bestraft. So bringen wir unseren Haustieren bei, ihre Notdurft nicht im Haus zu verrichten. Ich will doch sehr hoffen, dass wahre Moral mehr bedeutet, als nicht auf den Teppich zu kacken, weil man sonst einen Nasenstüber bekommt.«

Ich dachte an das kleine Tier mit dem Leckschutz, das Garfield gesehen hatte. Anscheinend war bei Haustieren auch das Thema Stubenreinheit universell.

»Tatsächlich«, fuhr Theresa fort, »glaube ich, dass echte Moral nur ohne Einflussnahme durch eine Gottheit möglich ist. Man kann lediglich moralisch handeln, wenn man etwas tut, weil man es für das Richtige hält – und nicht, weil man auf irgendeine Belohnung hofft. Beziehungsweise wenn man sich wegen der Goldenen Regel weigert , etwas zu tun – und nicht aus Angst vor einer Strafe.«

»Ah«, warf ich ein. »Die Goldene Regel. Behandele andere so, wie du auch selbst behandelt werden möchtest.«

Theresa sah mich verdutzt an. »Nein, das ist die Silberne Regel.«

»Was?« Hatte ich etwas nicht mitbekommen?

»Es existieren drei Verhaltensregeln«, erwiderte Theresa mit Dozentinnenstimme. »Die Eiserne Regel: Behandle diejenigen, die weniger Macht haben als du, wie immer es dir beliebt. Die Silberne Regel: Behandle andere so, wie du selbst gern behandelt werden möchtest. Die Goldene Regel: Behandle andere so, wie sie behandelt werden möchten.«

»Ha. Von dieser Regel habe ich noch nie gehört.«

Theresa sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Das ist eine merkwürdige Wissenslücke. Wie weit ist deine Heimat eigentlich von hier entfernt? Vielleicht muss sich mal ein Missionar auf den Weg dorthin machen.«

»Und das aus dem Mund einer Atheistin …«, sagte Frieda grinsend.

Ich unterbrach Frieda mit erhobener Hand. »Einen Moment bitte.« Dann wandte ich mich zu Theresa um. »Inwiefern ist das besser?«

»Wenn ich dich so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte, nehme ich keine Rücksicht auf deine Wünsche.« Sie schaute mich eindringlich an. »Wenn du ein Unitist bist und kein Landfleisch zu dir nehmen darfst, während ich selbst Landfleisch am liebsten esse, verhalte ich mich gemäß der Silbernen Regel moralisch korrekt, wenn ich dir ein Steak anbiete, um deinen Hunger zu stillen. Aber du wirst es natürlich nicht essen und dich von meinem Angebot vielleicht sogar gekränkt fühlen. Die Silberne Regel dreht sich also vorwiegend um mich und meine eigenen Wünsche. Die Goldene Regel verpflichtet mich dagegen dazu, deine Grundsätze und Vorlieben zu bedenken, wenn ich mir überlege, wie ich mich dir gegenüber am besten verhalte. Meinst du nicht, dass diese Herangehensweise zu einem besseren Ergebnis führt?«

»Ha«, wiederholte ich und merkte selbst, dass ich nicht sehr klug klang. »Darüber muss ich nachdenken.«

Theresa lächelte. »Das ist der Satz, den eine Lehrerin am liebsten hört.«

»Aber«, mischte Frieda sich ein, »man könnte buchstäblich alles glauben, und keiner könnte sagen, was richtig und was falsch ist …«

»Wollen wir etwa am Hafen vorbeisegeln?«, dröhnte Kapitän Lisas Stimme. Verdammt, diese Frau hatte wirklich eine starke Präsenz. Ich fragte mich allmählich, ob Kapitäne in dieser Art des Brüllens ausgebildet wurden. »Vielleicht sollten wir einfach gegen die Felsen knallen, wie? Oder könnt ihr eventuell ein paar Sekunden erübrigen, um diese gottverdammte Badewanne wieder auf den richtigen Kurs zu bringen?«

Damit war die zehnminütige Mittagspause wieder einmal beendet.

Wir legten ohne Zwischenfälle in Obsthügel an. Sobald die Landeplanke ausgelegt war, marschierte Otto noch vor der Kapitänin von Bord. Da er seinen Koffer nicht mitnahm, würde er wohl leider zurückkehren – und sich vermutlich einiges von Lisa anhören müssen.

Zwischen der Kapitänin und dem Hafenmeister kam es zu der üblichen lautstarken Auseinandersetzung, die wie immer mit Arbeit für uns endete. Wir hievten Kisten von der Hurrikan und schichteten sie auf ein speziell für diesen Zweck konstruiertes niedriges Fuhrwerk.

Es war eine geistlose Tätigkeit, bei der ich ungestört nachdenken konnte. Mittlerweile war ich eine Woche lang unterwegs und hatte in dieser Zeit ein Segment durchquert. Wenn dies die normale Reisegeschwindigkeit war, würde ich bis Garacks Rücken anderthalb Monate brauchen. Möglicherweise sogar noch länger, da ich wieder vom Nirwana zum Arkadien zurückkehren musste. Vielleicht fand ich ein Boot, das auf dieser Route fuhr.

Im ersten Moment konnte ich nicht sagen, was mich aus meinen Gedanken riss. Es war die Art, wie sich die Hintergrundgeräusche veränderten, wenn Polizisten auftauchten. Es ist keine große Sache, aber doch so auffällig, dass man gar nicht anders kann, als den Blick zu heben.

Otto näherte sich auf dem Steg und redete dabei aufgeregt auf einen von vier Polizisten ein. Ich bezweifelte, dass er sie dazu bringen wollte, Kapitänin Lisas Bootsführerschein zu überprüfen. Falls es hier so etwas überhaupt gab.

Er marschierte direkt auf mich zu und verkündete triumphierend: »Der hier ist es.«

Der Polizist, vermutlich der ranghöchste der vier, musterte mich mit leicht geneigtem Kopf. »Er passt nicht zur Beschreibung.« Der Mann seufzte. »Aber wenn wir schon mal hier sind.« Er bedeutete mir, vor ihm die Planke hinaufzugehen.

»Was ist hier los?«, verlangte Kapitänin Lisa zu wissen. Sie stellte sich vor den befehlshabenden Polizisten und versperrte ihm den Weg.

Der Mann zeigte auf Otto. »Dieser Herr hier beschuldigt diesen Mann, der Flüchtige zu sein, der derzeit in mehreren Abschnitten gesucht wird.«

»Da ich ihn dabei erwischt habe, wie er meinen Koffer aufbrechen wollte, und weil ich ihn bedroht habe«, sagte ich.

»Und wieso sollte er versuchen, deinen Koffer aufzubrechen?«

»Du kennst ihn mittlerweile schon seit mindestens fünf Minuten. Willst du allen Ernstes behaupten, das entspräche nicht seinem Charakter?«

Der Polizist sagte nichts, doch seine starren Züge deuteten darauf hin, dass er einen vielsagenden Gesichtsausdruck zu unterdrücken versuchte. Einen Augenblick später seufzte er. »Wie auch immer, wir sind jetzt hier, und Herr Ochsenfrosch stammt aus einer wichtigen Familie.« Er drehte sich zur Kapitänin um. »Du kannst dich weigern, uns an Bord zu lassen. Aber der Hafenmeister kann sich auch weigern, dich weiter be- und entladen zu lassen. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Kapitän Lisa bedachte Otto mit einem vernichtenden Blick, ehe sie dem Wachtmeister antwortete: »Du darfst mein Schiff betreten, er nicht.« Damit wandte sie sich zu Ted um. »Bring Herrn Ochsenfroschs Koffer von Bord.«

Otto lächelte sie an. »Und wenn schon. Bis zum Abend habe ich eine neue Mitfahrgelegenheit.«

»Aber nicht mit uns«, erwiderte die Kapitänin. »Und die Gemeinschaft der Flussschiffer ist klein und eng vernetzt. Sei dir deiner Auswahlmöglichkeiten also nicht allzu sicher.« Sie zog ihre Westentasche auf, wühlte einen Moment lang darin herum und brachte zwei Münzen zum Vorschein. »Hier ist der Restbetrag deiner Passage.« Sie warf Otto das Geld vor die Füße.

Ich muss Otto zugutehalten, dass er sich nicht danach bückte. Außerdem bedachte er sie mit einem Blick, zu dem ihrer im Vergleich fast verliebt wirkte. Es hätte mich nicht überrascht, wenn plötzlich Blitze zwischen ihren Augen hin und her gezuckt wären.

Die Münzen rollten ein kurzes Stück und wurden dann von zwei Schaulustigen geschnappt. Der Wachtmeister schaute Kapitän Lisa mitfühlend an, dann drehte er sich zu mir um und wies erneut auf die Planke.

Auf dem Weg an Bord kam uns Ted mit Ottos Koffer entgegen. Im Vorbeigehen überzeugte ich mich davon, dass er nicht den falschen erwischt hatte.

Die Plane war immer noch zurückgeschlagen. Ich nahm meinen Koffer vom Stapel, legte ihn flach auf den Boden und sperrte ihn auf. Der Polizist beugte sich vor, klappte den Deckel auf und gab den Blick auf … verschiedenste Dinge frei. Eine zusammengefaltete Weste, ein paar kleine Werkzeuge, mehrere Bücher, eine winzige Porzellanfigur und ein Tagebuch mitsamt Schreibutensilien. Er nahm ein paar der Gegenstände in die Hand und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Das sind ganz gewöhnliche Sachen. Weshalb hast du ihm die nicht gezeigt?«

»Hättest du es getan, wenn dieser aufgeblasene Blödmann es von dir verlangt hätte?«

Der Wachtmeister schnaubte. »Nein, wahrscheinlich nicht. Herr Ochsenfrosch wird einiges zu erklären haben. Niemand verschwendet ungestraft die Zeit der Polizei. Entschuldige bitte die Unannehmlichkeiten.«

Ich nickte lächelnd, und die Polizisten kehrten auf den Steg zurück. Ich stellte mir ein strenges und hoffentlich nicht allzu kurzes Gespräch vor, das sie mit Otto führen würden. Dann warf ich einen Blick auf den Frachtbehälter, der anstatt dieser belanglosen Gegenstände Benders Matrix enthielt. Ich würde noch heute Nacht alles zurücktauschen müssen, da der Behälter bei unserem nächsten Halt abgeladen werden sollte.

»Was für ein Idiot«, sagte Ted.

Ich grinste und schob ihm die Fischschüssel zu. »Ja, habt ihr seinen Gesichtsausdruck gesehen, als sie ihn auf dem Dock abführten? Ich nehme an, dass es ihm heute Nachmittag nicht langweilig wird.«

Theresa bekam von Belinda ein Filetstück gereicht und kaute ein paar Sekunden lang nachdenklich darauf herum. »Leider wird er wahrscheinlich viele Kinder zeugen.«

Wir lachten alle, und unser neuer Deckarbeiter, Harvey, sagte: »Anscheinend habe ich etwas Interessantes verpasst. Ich habe auch schon mit unausstehlichen Passagieren zu tun gehabt. Das macht nie Spaß.«

Theresa drehte sich zu mir um. »Na gut, Enoki, dann erzähl mir mehr über Utilitarismus.«

Die anderen stöhnten. Anscheinend kannte die Abneigung gegen Moralphilosophie keine Artengrenzen.

Frieda hielt Nachtwache. Was gut war, da ich nachts zuvor ihre Abläufe studiert hatte. Ich musste in völliger Dunkelheit den Inhalt meines Koffers und des Frachtbehälters austauschen. Dank meiner Nachtsicht war das jedoch kein Problem.

Beide Behältnisse standen aufgeklappt vor mir, und ich hatte bereits alle Gegenstände aus meinem Koffer in die Frachtkiste zurückgeräumt. Als ich gerade Benders Matrix hochhob, um sie vorsichtig in meinem ausgepolsterten Koffer zu verstauen, hörte ich hinter mir eine Stimme: »Das ist sehr hübsch. Was ist das?«

Ich wirbelte herum, wobei ich fast die Matrix fallen ließ, und blickte in Theresas lächelndes Gesicht. »Ääääh …«

»Es ist tatsächlich ungefähr so groß wie eine Begräbniskiste. Und da du es versteckt hast, unterstelle ich ein gewisses Schuldgefühl, wenn man es so nennen kann.«

Na, wundervoll. Würde ich Theresa umbringen müssen? Wäre ich dazu überhaupt in der Lage? Was waren meine Alternativen?

»Du bist nicht von hier, oder, Enoki?«

»Das gilt für uns alle, Theresa.«

Sie lachte. »Du weißt, wie ich das meine. Du bist kein gebürtiger Quinlaner. Zumindest kein Bewohner von Himmelsfluss wie wir anderen. Bist du überhaupt ein Quinlaner?«

»Was für eine absonderliche Frage. Was sollte ich sonst sein?«

»Na ja, du bist jemand, der über Utilitarismus und den ähnlichsten Fortsetzer Bescheid weiß – beides Konzepte, von denen ich noch nie gehört habe –, aber dafür keine Ahnung von den Drei Regeln hat, die jedes Kind lernt. Und du bist jemand, der meint, dass die Schwerkraft in Himmelsfluss nicht ein, sondern 0,86 G beträgt. Was ist das für ein Ort, von dem du stammst, wo eine Schwerkraft von 1,16 G herrscht?«

Oh, Mist. An dieses Gespräch erinnerte ich mich noch gut. Ich war davon ausgegangen, dass die Übersetzungssoftware meine Angabe konvertieren würde, doch offensichtlich hatte sie das nicht getan. Nun, das war wirklich ein riesiger, dampfender und stinkender Haufen …

»Ich glaube, du interpretierst zu viel in eine Reihe von Gesprächen hinein, die nichts miteinander zu tun haben, Theresa.«

»Das könnte man annehmen, wenn da nicht dieses Ding in deinen Händen wäre. Es scheint aus Metall zu bestehen. Wenn das der Fall ist, ist es so wertvoll, dass man damit diesen gesamten Abschnitt kaufen könnte. Dennoch verdingst du ich als Deckarbeiter. Das passt nicht zusammen. Weißt du, was ich meine?« Sie lächelte.

»Ääääh …«

Theresa verdrehte die Augen. »Normalerweise bist du ein bisschen redegewandter, Enoki. Muss ich dir etwa einen Klaps geben?«

Ich lachte leise. »Nein, vielen Dank, Frau Lehrerin. Was willst du also unternehmen?«

»Würde ich es überleben, wenn ich dich zu verraten versuchte?«

Ich schloss kurz die Augen. »Dich zu beseitigen wäre die effektivste Lösung für dieses Problem, und aus einer rein utilitaristischen Warte wäre es vielleicht sogar angemessen. Aber nein. So etwas mache ich nicht. Ich würde einfach abhauen und riskieren müssen, dass das hier nass wird.« Ich hielt die Matrix hoch.

»Dann bist du also die Person, nach der sie suchen?«

»Ziemlich sicher. Es könnte zwar auch alles ein Zufall sein, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Und selbst wenn es so wäre, würde ich trotzdem im Knast landen, wenn sie mir auf die Schliche kämen.«

»Was hast du verbrochen?«

»Ich versuche, einen Freund zu retten, Theresa. Das ist alles, was ich will.«

Sie nickte. »Ich glaube dir. Vielleicht bin ich naiv, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand die Moralphilosophie verstehen kann, ohne ihren Prinzipien zu folgen. Außerdem bist du ein sehr interessanter Gesprächspartner.«

Ich schnaubte und murmelte: »Tanz, Äffchen, tanz.«

»Was?«

»Wo ich herkomme, ist das eine ironische Bemerkung. Das bedeutet, dass ich nur sicher bin, so lange ich dich bei Laune halte.«

»Ich hoffe, dass du mich nicht wirklich so einschätzt, Enoki.« Sie lächelte traurig. »Ich sehe keinen Grund, dich zu entlarven. Aber sag mir eins: Befindet sich der Ort, von dem du kommst, außerhalb von Himmelsfluss? Oder zumindest außerhalb von der Welt, in der wir leben?«

Ich zögerte kurz. Dann beschloss ich, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ja, Theresa, du hast recht: Ich bin kein Quinlaner. Es gibt eine Verwaltung, aber dabei handelt es sich nicht um eine Gottheit, sondern um ein künstlich geschaffenes Konstrukt. Und sie ist hinter mir her, weil sie das hier wiederhaben will.« Ich deutete auf die Matrix.

»Gehört es der Verwaltung?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Tatsächlich habe ich diesen Gegenstand selbst gebaut. Erst hat die Verwaltung ihn mir weggenommen, dann hat der Widerstand ihn der Verwaltung geklaut, und jetzt versuche ich, ihn wieder zurückzuholen. Das ist zwar grob verkürzt und vereinfacht dargestellt, aber es entspricht der Wahrheit.«

Sie lächelte und nickte. »Danke, dass du es mir gesagt hast. Ich werde unsere Diskussionen vermissen.«

»Was? Wieso?«

»Weil du zweifellos bei der erstbesten Gelegenheit verschwinden wirst. Gute Nacht, Enoki.« Damit drehte sie sich um und ging zu der Stelle zurück, an der sich ihre Enkelin zum Schlafen zusammengerollt hatte.

Ich war erschüttert. Während ich die Matrix sicherte und meine Spinne im Koffer verschwinden ließ, hatte ich Zeit, um meine Optionen gegeneinander abzuwägen. Von allen, die mein Geheimnis hätten lüften können, war sie vermutlich die Ungefährlichste. Dennoch war ich, wie ich es auch drehte und wendete, entlarvt worden. Und sie hatte recht: Wahrscheinlich war es das Beste, wenn ich mich unverzüglich aus dem Staub machte.

Neunzig Meilen. Mehr oder weniger.

So groß war die Entfernung zwischen den beiden Flusssystemen. Ich dachte kurz darüber nach, mich zu Fuß auf den Weg zu begeben, doch dafür war er viel zu weit. Diese Wanderung würde mich fünf Tage kosten, und das auch nur, wenn nicht das Geringste schiefging. Und ich würde keine Bäche oder Nebenflüsse verwenden können.

Theresa war wieder bei ihrem Lieblingsthema: theistische und atheistische Moralvorstellungen. All das hatte ich schon so oft gehört – vor allem, als ich noch am Leben gewesen war –, dass ich mich kaum noch dafür interessierte. Gelegentlich warf Theresa mir einen Blick zu. Doch sie unternahm keinen Versuch, mich in die Unterhaltung zu verwickeln.

Oric hatte damit kein Problem. »Was im Namen des Vaters ist bloß los mit dir, Enoki? Sind dir die Gesprächsthemen ausgegangen?«

»Mir, äh, geht bloß gerade einiges durch den Kopf, Oric. Tut mir leid. Das dauert sicher nicht lange.«

Theresa lächelte mich an. »Schon in Ordnung, schließlich haben wir keine dringenden Termine.«

Als ich gerade zu einer Antwort ansetzte, begann die Kapitänin mit ihrer täglichen Schimpftirade über schlampige und faule Deckarbeiter. Anscheinen hatten wir doch Termine.

»Am Ende dieses Abschnitts kehren wir um«, sagte Ted während einer Rast. »Willst du immer noch weiter nach Osten fahren?«

»Ja. Soweit ich weiß, haben sie meine Heimatstadt nicht verlegt.«

»Theresa und Belinda steigen in Schleierfälle aus. Das ist der letzte Halt, bevor wir wenden. Ihr geht also zusammen von Bord.«

Ich dachte einen Moment lang darüber nach, sah aber keinen Grund, mir deswegen gesteigerte Sorgen zu machen. Theresa würde mich nicht plötzlich an den Pranger stellen wollen, nur weil sie wieder an Land war. Dennoch würde ich mich viel besser fühlen, sobald ich mich auf einem anderen Boot befand.

Gegen Mittag näherten wir uns dem Hafen von Schleier fälle. Mir war nicht klar, wieso ich eher traurig als besorgt war, bis mir schließlich bewusst wurde, dass ich Theresa niemals wiedersehen würde. Sie war erstaunlich schnell eine echte Freundin für mich geworden. Dennoch hatte ich keine andere Wahl. Es war nicht einmal so, dass ich von der Hurrikan floh. Schließlich würde das Schiff wenden und auf dem Paradies-Fluss zurückfahren.

Das Anlegen war wie immer ein chaotisches Durcheinander aus gebrüllten Befehlen und herumfliegenden Seilen, doch schließlich war das Schiff fest vertäut. Kapitänin Lisa kam herüber, um sich von Theresa, Belinda und mir zu verabschieden. Da Harvey an Bord blieb, hatte sie zwar genügend Deckarbeiter, allerdings würden sich auf der Rückfahrt keine Passagiere an Bord befinden. Ich hoffte, dass sie dennoch Profit machen würde.

Ich nahm meinen Koffer und ging hinter Belinda und Theresa die Landeplanke hinunter. Dabei achtete ich kaum auf meine Umgebung, und so war ich sehr überrascht, als wir unvermittelt in einen Kreis von Polizisten hineinmarschierten.