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Immer weiter

Bob – August 2334

Schleierfälle

»Wir müssen einen Blick in deinen Koffer werfen, mein Herr«, sagte einer der Polizisten zu mir. Ich stand ein paar Sekunden lang wie erstarrt da und überlegte, ob ich einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Theresas Stimme durchbrach das Schweigen: »Wieso wollt ihr ausgerechnet meinen Koffer durchsuchen?«

Der Mann drehte sich überrascht zu ihr um. »Deinen Koffer?«

Sie schaute ihn amüsiert an. »Sehe ich aus, als könnte ich dieses Ding allein herumschleppen? Ich habe ihm zwei Kupferstücke gegeben, damit er es für mich trägt. Wenn ihr uns noch länger aufhaltet, kann die Kapitänin nicht planmäßig ablegen.«

»Oh, äh, und du bist …?«

»Ich heiße Theresa Sykorski und habe früher an der Universität von Pfirsichland gelehrt. Vielleicht habt ihr davon schon mal gehört?«

Der Wachtmeister trat verlegen einen Schritt zurück. Ich konnte es ihm nicht zum Vorwurf machen. Mir war bislang auch nicht klar gewesen, dass Theresa einen Familiennamen hatte. Noch dazu offenbar einen bekannten. Dass sie Otto nicht damit konfrontiert hatte, war ein Belegt für ihre selbstsichere Zurückhaltung.

Die Polizisten gaben sich nun alle Mühe, sie zu beschwichtigen. Theresa rümpfte die Nase und bedeutete mir gebieterisch, ihr zu folgen.

Während wir davongingen, raunte ich ihr zu: »Ein bisschen Fell hättest du ihm schon noch lassen können.«

Sie blieb lachend stehen. »Das war mein Abschiedsgeschenk für dich, Enoki. Ich hoffe, dass ich eines Tages mehr über deine Welt erfahren werde. Und auch über meine eigene. Auf Wiedersehen.«

Ich verabschiedete mich ebenfalls von ihr und bog mit einem Kloß im Hals rasch in die nächste Straße ab.

Meine Arbeit auf der Hurrikan hatte mir sechs Eisenstücke eingebracht. Zusammen mit den zwei Eisenstücken, die sich immer noch in meinem Bauch befanden, machten sie mich zu einem wohlhabenden Mann. Okay, nicht gerade wohlhabend. Wenn ich in einem Hotel abstieg, würde das Geld nur ein paar Tage reichen. Ich musste also zügig wieder ein Boot besteigen. Im Moment konnte ich allerdings nicht zum Hafen zurückkehren. Die Polizisten würden sich bestimmt an mich und den Koffer erinnern. Mein eigenes Aussehen konnte ich verändern, aber nicht das des Koffers. Oder etwa doch?

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wo das Schifffahrtsamt war. Als wir die Hafengegend verließen, hatte ich es aus dem Augenwinkel gesehen. Ich ließ die Videoaufnahme in schnellem Tempo rückwärtslaufen, bis ich es fand.

Ich kehrte auf einem Umweg zum Hafen zurück. Wenn die Polizisten immer noch dort Wache hielten, wollte ich auf keinen Fall an ihnen vorbeikommen. Unterwegs veränderte ich schrittweise mein Äußeres, wobei ich aus den Gesichtszügen verschiedener Passanten eine Collage schuf, die keiner bestimmten Person zuzuordnen sein sollte. Ich konnte nur hoffen, dass ich es richtig hinbekam, da ich nicht meine Spinne herausholen konnte, um ein Selfie zu schießen. Falls die Leute schrien und sich abwandten, würde ich noch mal von vorne anfangen müssen.

Wie erhofft wurden im Schifffahrtsamt Frachtbehälter verkauft. Sie kosteten nur jeweils ein Eisenstück, waren aber auch von entsprechend schlechter Qualität. Allerdings wollte ich die Matrix darin auch nicht sichern, sondern nur verstecken. Der Deckel war mit Ösen versehen und konnte mit einer Art Schuhband zugeschnürt werden, was für meine Zwecke vollkommen ausreichte.

Der Schalterbeamte wollte mir auch Porto berechnen, was mir zunächst widerstrebte, da ich das Frachtstück weiterhin als Gepäck mitnehmen wollte. Doch dann beschloss ich, mich an das übliche Prozedere zu halten und gab ihm die drei Eisenstücke. Auf dem Etikett trug ich lediglich meinen Namen und »Garacks Rücken« ein. Ich bestand jedoch darauf, die Kiste selbst bei einem passenden Boot abzuliefern.

»Tu, was du nicht lassen kannst.«, sagte der Mann und hob die Hände.

Ich kehrte mit dem Frachtbehälter, den ich mühsam mit beiden Armen umfasste, zum Anlegesteg zurück, und hielt am Büro des Hafenmeisters an. »Guten Tag, mein Herr«, begrüßte ich den Mann am Schalter. »Kannst du mir sagen, ob ein Schiff, das flussabwärts fährt, nach Deckarbeitern sucht?«

Der Typ betrachtete mit gerunzelter Stirn meinen Frachtbehälter. »Äh, Deckarbeiter? Oder Kuriere?«

»Beides. Ich muss auch dieses Paket flussabwärts schicken und möchte gern zwei Fische mit einem Speer erlegen. Die Fracht kann aber auch auf ein anderes Boot.«

Er nickte zufrieden und nannte mir zwei Namen. In Wahrheit hatte ich natürlich keinesfalls vor, Bender auf einem anderen Schiff unterzubringen, und hoffte, dass der Kapitän, der nach einem Deckarbeiter suchte, auch einen zusätzlichen Frachtbehälter an Bord nehmen würde.

Ich dankte ihm und begab mich zum Liegeplatz, den er mir zuerst genannt hatte.

Die Clipper ähnelte nicht ganz so sehr einem Lastkahn wie die Hurrikan . Es gab sogar eine Sammelunterkunft unter Deck, in der es allerdings ein bisschen eng zuging. An Bord herrschte ziemliches Chaos. Die Besatzung rannte an Deck hin und her, während der Kapitän mit der gleichen Lautstärke und Begeisterung wie Lisa Befehle brüllte. Ich stand fünf Sekunden lang nur da und nahm das hektische Treiben in mich auf.

Dann winkte ich einem der Deckarbeiter, der auf mein Zeichen hin zwar langsamer wurde, aber nicht komplett anhielt. Er war eindeutig gestresst. Ich ging neben ihm her. »Ich habe gehört, dass ihr noch einen Deckarbeiter sucht.«

»Ach, tatsächlich? Was ist das da für eine Kiste?«

»Ein Paket. Ich habe Porto dafür gezahlt …«

»Wie auch immer. Stell es zu den anderen Postpaketen an Deck. Wir zahlen die Standardheuer. Siehst du den Kistenstapel? Der muss nach dort drüben. Mach dich an die Arbeit.«

Ich klappte ein paarmal den Mund auf und zu und fragte mich, wem ich meine Talente als Nächstes anpreisen sollte. Als mir endlich klar wurde, dass ich den Job bereits ergattert hatte, stellte ich meinen Frachtbehälter auf den Poststapel. Dann packte ich eine Kiste nach der anderen und schleppte sie die Landeplanke hinauf. Es waren zwar viele und ziemlich schwere, aber der Manny war dieser Aufgabe mehr als gewachsen. Zweimal musste ich ins Wasser springen, um mich abzukühlen, doch den anderen erging es wie üblich nicht anders.

Nach kurzer Zeit hatte ich die Palettenladung umgeschichtet. »Was soll ich als Nächstes tun?«, fragte ich den Mann von vorhin, der sich als Vorarbeiter erwies. Mit zufriedener Miene deutete er auf einen weiteren Kistenstapel.

Ungefähr zwei Stunden später schien es, als würden wir rechtzeitig fertig werden. Der Vorarbeiter klopfte mir auf die Schulter. »Gute Arbeit. Ich hoffe, du schaffst es, diesen Elan beizubehalten. Wie es aussieht, erreichen wir nicht die volle Mannschaftsstärke.«

»Weshalb?«, fragte ich.

»Die Polizei kam vorbei und hat ohne ersichtlichen Grund zwei unserer Besatzungsmitglieder verhaftet. Sie haben außerdem ihre Habseligkeiten mitgenommen. Die beiden sollen zwar nur eine Nacht in Haft bleiben, aber so lange können wir nicht warten. Bei dieser Lieferung haben wir keinen festen Abgabetermin. Deswegen werden wir auf jeden Fall in der Abenddämmerung aufbrechen, selbst wenn der Kapitän das Boot eigenhändig rudern muss.«

»Das erklärt, weshalb er so aufgeregt wirkt«, erwiderte ich.

Der Vorarbeiter lachte. »Ja. Aufgeregt. So kann man es auch ausdrücken. Er hat ein paar Drohungen ausgestoßen, die ich noch nie zuvor gehört habe. Ich glaube, die hat er sich extra für den heutigen Tag aufgespart.«

Ich grinste. »Ich heiße Sam G …« Ups! Fast hätte ich mir erneut einen Familiennamen verpasst. Nein, diese Art der Aufmerksamkeit brauchte ich nicht noch einmal.

Der Vorabeiter, der sich selbst als Ralph vorstellte, schien meinen Fauxpas nicht bemerkt zu haben. Vielleicht hatte ihn die Software aber auch einfach herausgefiltert. Während Ralph mir die Mannschaft vorstellte, setzte der Kapitän zu einer neuen Schimpftirade an.

»Zeit zum Ablegen, Leute«, sagte Ralph und verdrehte die Augen. Angefeuert von den Rufen des Kapitäns machten wir uns erneut an die Arbeit. Mir fiel auf, dass seine Beleidigungen anatomisch miteinander zusammenhingen. Offenbar standen sie unter einem bestimmten Motto.

Die Aufgaben auf der Clipper waren generell die gleichen wie auf der Hurrikan , allerdings mit ein paar zusätzlichen Herausforderungen, da das Boot größer und ein Katamaran war. Auf Ralphs Befehl verstauten wir zuletzt ein paar Gegenstände unter Deck und checkten noch einmal die Segel. Damit war alles erledigt. Zumindest so lange, bis dem Kapitän zum nächsten Mal die Hutschnur platzen würde.

Ich war ein paarmal fast über ein Quartett aus Quinlanern gestolpert, die ihre Hintern mitten auf dem Deck geparkt hatten. Nach ein paar wohlgewählten Worten von Ralph suchten sie sich einen etwas abgelegeneren Ort. Als ich nun Zeit hatte, sie mir genauer anzusehen, erkannte ich, dass es sich bei ihnen wahrscheinlich um ein Sabbat handelte. Es war eigenartig, dass sie für eine Passage bezahlten, obwohl wir auf keinem Nebenfluss oder über eine Segmentgrenze fahren würden, wo die Turbulenzen für Schwimmer unangenehm werden konnten.

»Hallo, alle miteinander«, sagte ich und hob eine Hand. »Ich heiße Sam und war vor bis vor Kurzem auch Teil eines Sabbats . Wir sind vor wenigen Wochen auseinandergegangen.«

»Hallo, Sam«, antwortete eine Frau aus der Gruppe. »Ich heiße Tina, und das hier sind Fred, Tony und Barb. Wir suchen nach einem Ort, an dem wir uns niederlassen können. Sobald wir eine geeignete Stelle entdecken, werden wir von Bord springen.«

»Wollt ihr eine eigene Stadt gründen?«

»Nein, so ambitioniert sind unsere Pläne nicht. Tatsächlich wollen wir uns von allen Städten fernhalten. In diesem Segment gibt es genügend Fische, es ist nicht so kalt wie andernorts, und ein Nest ist leichter zu bauen und instand zu halten. Außerdem müssen wir uns keine Sorgen um unseren Nachwuchs machen.«

»Dann möchtet ihr also in die Wildnis zurückkehren?«

»Könnte man so sagen. Den Rest brauchen wir nicht. Wir wollen nicht die ganze Zeit unsere Eisenstücke zählen, um zu sehen, wie weit wir es in der Welt gebracht haben, verstehst du?«

»Ja«, erwiderte ich. »Irgendwie schon. Ich bin auch schon anderen Gruppen begegnet, die diesen Plan verfolgen.«

Sie lächelte mich an, und ich nahm die anderen in Augenschein. Keiner von ihnen schien sich in das Gespräch einschalten zu wollen. Es war verstörend. Die Quinlaner waren eine intelligente Spezies, die sich vor meinen Augen zurückentwickelte.

Tina und ich unterhielten uns noch ein bisschen miteinander, bis Tony plötzlich verkündete, dass nun Essenszeit sei und sich über die Reling ins Wasser gleiten ließ. Die anderen schlossen sich ihm an. Tina zuckte entschuldigend die Achseln, bevor sie ebenfalls verschwand.

Ich folgte derweil der alten Seefahrertradition, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Rast zu machen, und ließ mich an Deck nieder, um ein bisschen Sonne zu tanken. Nach einem kurzen Blick zum Kapitän, der uns gerade keine Aufmerksamkeit schenkte, gesellten sich auch die anderen Deckarbeiter zu mir.

Ein paar Minuten später puhteten die Mitglieder des Sabbats wieder an Bord und ließen sich mit ihrem Fang nieder. Es war eine behagliche Atempause, wie sie mir seit den ersten Problemen mit der Sternenflotte nicht mehr vergönnt gewesen war. Hätte ich noch gelebt, wäre ich in diesem Moment weggedämmert. Ein paar meiner Kollegen schienen genau das zu tun.

Tina hatte kältere Abschnitte erwähnt. Das interessierte mich. »Bist du je in solch einem Segment gewesen, Tina?«

»Nein, aber mein Papa hat eine Weile in einem gelebt. Manchmal hat es dort geschneit, und von Zeit zu Zeit lag auf manchen Bächen sogar Eis. Ich habe noch nie Schnee oder Eis gesehen. Hartes Wasser … Das kann man sich kaum vorstellen, oder? Es gibt dort auch andere Fische, Pflanzen und Landtiere.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Papa hat uns auch Geschichten von anderen eigenartigen Segmenten erzählt. Eins soll fast nur aus Wasser bestehen, mit Inseln, die hier und da aus der Oberfläche ragen. Ein anderes ist angeblich komplett trocken. Der Fluss verschwindet unter der Erde. Ich weiß aber nicht, wie viel davon stimmt und was Papa nur erzählt hat, um uns Angst einzujagen.«

»Ich glaube nicht, dass dein Papa das nur erfunden hat« , sagte Ralph. »Ich habe von Segmenten mit unterschiedlichem Klima gehört. Dort sind die Flora und die Fauna anders als bei uns. Ich weiß aber nicht, was zuerst da war – die Pflanzen und die Tiere oder das andere Klima.«

Ich begann zu wünschen, ich hätte Bridgets Gespräche mit den Quinlanern aufmerksamer verfolgt. Das Ganze wirkte wie eine Diskussion über Evolution, die auf der falschen Vorstellung fußte, Himmelsfluss wäre eine natürliche Umgebung. Gleichzeitig wurde die Verwaltung immer weniger als historisches Phänomen betrachtet und dafür zunehmend als Gottheit verehrt. Wenn man zu alldem diese Zurück-zur-Natur-Bewegung hinzunahm, stand zu befürchten, dass die quinlanische Spezies innerhalb weniger Generationen ihre kollektive Intelligenz verlieren könnte. War es Zeit, dass der Baab einschritt? Würde ich es erneut wagen, ein komplettes Gesellschaftsgefüge aufzumischen?

Und konnte ich es tun, während ich vor Ort und verwundbar war? Falls ich in Schwierigkeiten geriet, konnte ich jederzeit den Manny in die Luft jagen und nach Virt zurückehren. Bender hatte diese Wahl jedoch nicht.

Endlich hatte ich es geschafft, alle zu einem Treffen zusammenzutrommeln. Hugh fläzte in Wills Sitzsack, die restlichen Expeditionsmitglieder hatten sich in frei schwebenden Videofenstern zugeschaltet. Ich hatte ihnen gerade von meiner jüngsten Unterhaltung mit den anderen Deckarbeitern und den Passagieren berichtet.

»Ich glaube, dass du recht hast, Bob. Die Entwicklung geht in diese Richtung, allerdings nicht so schnell, wie du befürchtest.« Bridgets verschränkte Arme und ihr eindeutig besorgter Gesichtsausdruck straften ihre beruhigenden Worte Lügen.

»Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt«, erwiderte Hugh. »Wie lange es dauern wird, meine ich. Wir können festhalten, dass es auf jeden Fall passieren wird, wenn sich nichts ändert. Meiner Meinung nach können wir nicht wegschauen und so tun, als ob nichts wäre.«

Ich sah ihn forschend an. Ich hatte immer noch keine Gelegenheit gehabt, über das Wesen der Verwaltung und seine wahren Absichten mit ihm zu sprechen. Wie würde er sich in dieser Angelegenheit positionieren?

»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fragte Will.

»Die Verwaltung kontaktieren und mit ihr sprechen. Vielleicht ist ihr gar nicht klar, was vor sich geht.«

»Sobald Bender in Sicherheit ist«, sagte ich. »Davor nicht. Das ist nicht verhandelbar. Und wie kommst du eigentlich darauf, dass sie es nicht wissen könnten?«

Hugh sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Ernsthaft? Glaubst du wirklich, sie will das?«

»Das hängt von ihren Beweggründen ab. Vielleicht ist ihr eine nicht intelligente, aber lebendige quinlanische Spezies lieber als eine intelligente, aber dafür vom Aussterben bedrohte Version. Stell es dir wie eine perverse Instanziierung vor.«

Nun starrte Hugh mich mit zusammengekniffenen Augen an. Ich glaube, in diesem Moment verstanden wir einander. Möglicherweise hatte ich mit dieser Bemerkung den Überraschungseffekt komplett verspielt, aber dafür würde ich vielleicht irgendeine Reaktion von ihm erzwingen. Das schien es mir wert zu sein.

»Es gibt zumindest keinen Grund, es nicht zu versuchen«, beendete Bill das Schweigen. »Natürlich erst dann, wie du gesagt hast, wenn Bender sicher ist. Dann können wir all unsere Drohnen Funknachrichten senden lassen. Oder eine Spinne nach Himmelsfluss schicken und vor einer Kamera tanzen lassen. Sie werden entweder der Sache nachgehen und einen Dialog eröffnen oder unsere Geräte in die Luft sprengen. Wenn wir sehen, wie sie darauf reagieren, wissen wir mehr.«

»Und was ist, wenn sie unseren Roamer oder was für ein Gerät auch immer sprengen?«, presste Bridget hervor. »Machen wir uns dann einfach davon? Lassen wir eine komplette intelligente Spezies sang- und klanglos vor die Hunde gehen? Können wir uns das moralisch leisten?

»Die Sternenflotte würde es so machen.«

Ich schaute Garfield an. »Sie sind keine besonders guten Vorbilder, Gar.«

»Nein, nein, ich meinte die Sternenflotte aus Star Trek . Nicht die Idioten, mit denen wir es gerade zu tun haben.«

»Oh.« Ich nickte. »Das stimmt. Der Ursprüngliche Bob hielt die allerdings auch für Mist.«

»Konzentriert euch bitte«, unterbrach Bridget. »Das hier ist keine Comic-Con. Wir sprechen über das Schicksal einer realen intelligenten Spezies.«

Bill grinste sie an. »Okay, lass es mich so sagen: Wir werden nicht einmarschieren oder irgendetwas in der Art tun, aber wir stehlen uns auch nicht einfach davon. Stattdessen bohren wir so lange nach, bis die Verwaltung sich zu dem Thema äußert. Aber haben wir wirklich ein Recht, uns einzumischen, wenn sie sagen, dass sie alles unter Kontrolle haben und uns wegschicken?«

Ich rieb mir den Nasenrücken und seufzte laut. »Letzten Endes läuft es immer auf dasselbe hinaus, stimmt’s? Grenzfälle und Graubereiche. Ich stimme Bill, zumindest grundsätzlich, zu. Wir können im Moment keine Entscheidung treffen. Dazu müssen wir erst die Verwaltung kontaktieren.« Ich bedachte Hugh mit einem eindringlichen Blick. »Was wir nicht tun werden, solange Bender noch in Gefahr ist.«

Als ich in meinen Manny auf der Clipper zurückkehrte, machte sich die Besatzung gerade zur Morgenschicht bereit. Ralph betraute einen Deckarbeiter namens Gil und mich mit der Aufgabe, das Essen einzufangen. Also sprang ich frohgemut mit einem kleinen Netz ins Wasser. An den liebsten Beutetieren der Quinlaner herrschte niemals Mangel. Was war eigentlich der Grund dafür? Tarierte die Verwaltung das Ökosystem sorgsam aus, oder gab es einfach zu wenig Räuber?

Über diese Frage dachte ich nach, während ich das Frühstück zusammensammelte. Schließlich puhtete ich wieder an Deck, und nur wenige Sekunden später folgte auch Gil. Ich sah, dass sein Sack voller war als meiner. Wahrscheinlich wollte er den Überschuss selbst essen. Gill war für seinen Appetit bekannt.

Zuerst nahm sich der Kapitän ein paar Fische, dann setzten wir übrigen uns um die Schüssel herum. Ich nahm so wenig wie möglich zu mir und sprach mehr, als dass ich aß. Tina und ihre Freunde waren gern bereit, über ihre Weltanschauung zu reden – na ja, vor allem Tina. Die anderen nickten bloß.

Während einer Gesprächspause schaute Ralph auf und sagte: »Das ist aber komisch.« Ich folgte seinem ausgestreckten Finger und sah ein kleines vogelartiges Tier auf einer Palette voller Kisten sitzen. »Das ist ein Firl , ein Waldvogel. Was macht der hier auf dem Fluss?«

»Vielleicht hat er sich verflogen«, sagte ich.

Ralph schüttelte den Kopf. »Nein, das …« In diesem Moment erhob sich der Vogel, dem die viele Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm war, in die Luft und flog davon. Ralph schüttelte erneut den Kopf, und das Gespräch wandte sich wieder anderen Themen zu.

Ich hätte diesem Vorfall keine große Bedeutung beigemessen, wenn ich nicht auch schon vorher Vögel dieser Art in der Nähe des Bootes bemerkt hätte. Bislang war ich davon ausgegangen, dass sie nach Essensresten Ausschau hielten, doch Ralphs Verblüffung hatte mich misstrauisch gemacht. Ich nahm ein paar Fischstücke von meiner Portion und packte sie weg.

Als wir mit dem Frühstück fertig waren und der Kapitän seinen allmorgendlichen Schwall Beleidigungen vom Stapel ließ, nahm ich mir einen Moment Zeit, um die Essensreste auf die Kiste zu legen, auf der der Vogel gestanden hatte.

Auf einem quinlanischen Boot herrschte entweder Hektik oder Langeweile. Solange wir uns in einem Hafen befanden, arbeiteten wir bis zur totalen Erschöpfung, unterwegs mussten wir dagegen nur leichte, allerdings auch ein wenig fade Routineaufgaben erledigen. Daher hatte ich immer wieder Gelegenheit, einen Blick auf das ausgelegte Futter zu werfen. Der Firl flog noch zweimal dicht über das Boot hinweg, zeigte jedoch keinerlei Interesse an den Fischbrocken. Zwei Ackrels stürzten sich dagegen mit Begeisterungsschreien darauf.

Vielleicht waren Firls ja Pflanzenfresser. Wenn ich von der pragmatischen Ernährungsweise der irdischen Vögel ausging, konnte ich mir das jedoch kaum vorstellen. Selbst Kolibris fraßen Insekten, wenn sie ihnen vor den Schnabel kamen.

Ich stieß einen stummen Seufzer aus und nahm das Netz, um das Nachmittagessen zu fangen. Ich kam mir ein wenig dumm vor, weil mich ein Vogel derart aus der Fassung brachte. Ralph hatte zwar sehr überzeugend geklungen, aber dennoch …

Die Gespräche beim Essen verliefen ungezwungen, waren aber nicht mehr annähernd so interessant wie zuvor mit Theresa. Ich ertappte mich oft dabei, dass ich gedanklich abschweifte, während die anderen über die Feinheiten des quinlanischen Lebens sprachen. Bridget hätte sich wahrscheinlich sehr für diese Unterhaltungen interessiert. Ich hielt es sogar durchaus für möglich, dass sie sich jedes Mal die Mitschnitte ansah, sobald sie sie über die SCUT -Verbindung empfing. Doch mit einem Mal kehrten meine Gedanken schlagartig wieder in die Gegenwart zurück, denn Gil sagte: »Hey, Sam, dein Schoßtier ist wieder da.«

Und tatsächlich hüpfte ein Firl auf dem Kistenstapel herum. Ich riss ein Stückchen von meinem Fisch ab und warf es in seine Richtung. Der Firl erstarrte kurz, dann hopste er weiter herum, ohne das Fressen zu beachten.

Tatsächlich schien er … Moment mal, entzifferte er etwa die Etiketten? Das konnte doch nicht sein. Ich wandte mich wieder meinen Gefährten zu, betrachtete das Tier aber weiterhin aus dem Augenwinkel. Schließlich stieg der Vogel von der Palette auf und flog zum nächsten Stapel hinüber, wo er die Prozedur wiederholte. Je länger ich ihn beobachtete, desto mehr war ich davon überzeugt, dass er die Frachtinformationen auf den Kisten durchlas.

Ich kontaktierte Hugh über das Interkom. »Hey, Hugh.«

»Was gibt’s, Bob?«

»Wissen wir, ob die von der Verwaltung technisch so fortgeschritten sind, dass sie kleine drohnenartige Einheiten bauen könnten?«

»Unwahrscheinlich. Kein SURGE -Antrieb.«

»Was wäre mit einem Gerät, das einen Vogel nachahmt?«

»Ah … eine Art Ornithopter? Ja, warum nicht? Die Boojums waren Meisterwerke der Miniaturisierung. Das hast du selbst gesagt.«

»Ja. Äh, du bist auf einem Boot, stimmt’s? Hast du da irgendwelche kleinen Vögel beobachtet?«

»Viele Ackrels. Das sind wahre Ratten mit Flügeln, wen du mich fragst. Aber sonst nichts.«

»Sag mir bitte Bescheid, wenn du irgendwelche Firls entdeckst.«

»Wird gemacht.«

Hugh klang ein bisschen verwirrt, als er die Verbindung beendete. Allerdings wusste ich nicht, ob es an meiner Bitte lag oder an der Tatsache, dass ich ihn nicht über die KI ausgefragt hatte.

In der Zwischenzeit hatte der Firl einen dritten Stapel inspiziert und war wieder zu dem bunt zusammengewürfelten Haufen zurückgekehrt, in dem sich auch meine Kiste befand. Nun konnte ich mein ungutes Gefühl nicht mehr als bloße Paranoia abtun.

Sobald sich alle schlafen gelegt hatten, kehrte ich nach Virt zurück und rief Bill an. Er tauchte sofort in einem Videofenster auf. »Was ist los, Bob?«

Ich beschrieb ihm das Verhalten des Firls und fragte ihn nach seiner Meinung zu quinlanischen Drohnen.

»Ich glaube wie Hugh, dass es ohne SURGE keine anständigen Drohnen geben kann. Aber es ist gut möglich, dass die Verwaltung über Sicherheitsgeräte verfügt, die Vögel nachahmen. Schließlich existierten schon zu Lebzeiten des Ursprünglichen Bob mechanische Apparate, die wie Vögel fliegen konnten. Und die Verwaltung hatte mehrere Generationen Zeit, an der entsprechenden Technik herumzufeilen.«

»Aber wieso die Clipper ? Ich habe sorgfältig darauf geachtet, alle Spuren zu meinem vorherigen Ich zu verwischen. Der Rucksack ist weggepackt, Bender ist nicht zu sehen, und ich schaue verändert aus. Was hat die Verwaltung auf meine Fährte gebracht?«

»Du weißt doch gar nicht, ob sie wirklich auf deiner Fährte ist, Bob. Denk doch nur daran, wie die CDC die Ausbreitungswege einer Krankheit aufgespürt hat. Sie haben jede Menge Detektivarbeit geleistet, Kontakte nachvollzogen, statistische Berechnungen angestellt und so weiter. Da sie Bob mit seinem sperrigen Rucksack nir gends finden kann, geht sie nun davon aus, dass du dich entweder versteckst oder eine andere Transportmöglichkeit aufgetan hast. Wegen des Fehlversuchs mit Nataschas Karte weiß sie, wo du die Infrastruktur verlassen hast. Von dieser Stelle aus muss sie sich nur nach außen vorarbeiten. Und wegen der quinlanischen körperlichen Beschränkungen und der Geografie von Himmelsfluss kann sie sich dabei vornehmlich auf den Osten und den Westen konzentrieren.«

Ich nickte und dachte über seine Worte nach. »Und die Flüsse sind die offensichtlichsten Reiserouten. Sie halten zweifellos auch nach zielstrebig schwimmenden Quinlanern Ausschau. Schließlich können sie nicht sicher wissen, dass ich es nicht riskieren werde, Bender unterzutauchen.«

»Deswegen können sie ihre Kräfte vermutlich nicht bündeln«, erwiderte Bill. »Gut für uns. Die Matrix als Fracht zu verschicken ist aber auch ein ziemlich vorhersehbarer Trick, wenn man genau darüber nachdenkt. Die Helfer der Verwaltung könnten in den zwei Segmenten an Bord jedes Schiffes gehen und es inspizieren, aber ich nehme an, dass sie dafür nicht genügend Personal haben.«

»Dann suchen sie vielleicht nach irgendwelchen Auffälligkeiten, so wie mein sehr nachlässig ausgefülltes Frachtetikett. Und vielleicht hat sich der Typ vom Schifffahrtsamt daran erinnert, dass ich mit meiner Kiste reisen wollte.«

»Mm-hm. Die Verwaltung hält nach den kleinsten Abweichungen Ausschau. Und selbst wenn nichts dabei herauskommt, erhöht es zumindest den Druck auf dich.«

»Ja, du hast recht. Und solange sie damit keinen Erfolg hat, wird sie immer neue Taktiken anwenden.« Ich schüttelte den Kopf und seufzte schwer. »Anscheinend stecke ich wieder tief im Naturdünger.«

Wir glitten auf den Anlegesteg in der Stadt Sechs Hügel zu. Keiner wusste, wie der Ort zu seinem Namen gekommen war. In der Umgebung waren lediglich vier Hügel auszumachen, und das auch nur, wenn man das Wort »Hügel« sehr großzügig auslegte. Mittlerweile verdrehte ich bloß noch die Augen, wenn ich quinlanische Ortsnamen hörte. Vielleicht lag ihnen ja eine subtile Ironie zugrunde – als würde man einen großen Mann als Winzling bezeichnen. Falls dem so war, hatte sich mir der Humor jedoch noch nicht erschlossen.

Am Steg warten Polizisten auf uns, was alle außer mir erstaunte. Als wir die Landeplanke ausgelegt hatten, marschierte die Gendarmerie zu uns herauf und direkt auf den Posthaufen zu. Dort schnappten sie sich die Kiste, auf deren Etikett nur mein Name stand. Tatsächlich war das gar nicht meine Kiste, da ich deren Etikett nachts zuvor gegen das einer anderen Kiste ausgetauscht und – für den Fall, dass die Polizisten sehr spezifischen Anweisungen folgten – den Haufen umsortiert hatte. Es tat mir leid, dass irgendwer in Kleiner Bach vergeblich auf seine Lieferung warten würde, aber mir blieb keine andere Wahl.

Der Polizist las das Etikett und fragte laut: »Wer von euch ist Sam?«

Ich hob die Hand und trat einen Schritt vor.

»Du musst mit uns kommen.«

Ich tat, als wäre ich überrascht und wütend. Mein Auftritt wurde von der echten Überraschung und Wut des Kapitäns und der restlichen Besatzung untermalt. Ich war ein fleißiger Arbeiter und deswegen beliebt.

»Tut mir leid, Leute, aber wir müssen uns mit dieser Person auf der Wache unterhalten. Ich bin sicher, dass ihr sehr bald ein neues Besatzungsmitglied findet.«

Oh, oh. Ich hatte mit einer Prozedur wie bei dem Zwischenfall mit Otto gerechnet. Mach den Koffer auf … Da ist ja gar nix drin … Entschuldige bitte die Unannehmlichkeiten … et cetera. »Verzeihung«, sagte ich, »wie lange soll dieses Verhör denn genau dauern?«

»Möglicherweise ein paar Tage, Sam. Die Beamten, die es durchführen, kommen aus einer anderen Stadt.«

»Aber …« Oh, das war ungut. Wenn es höchstens um eine Nacht gegangen wäre, hätte der Kapitän wahrscheinlich gewartet. Er hatte für nichts, was sich derzeit an Bord befand, einen genauen Abgabetermin vereinbart. Und unterwegs würden wir ausschließlich unverderbliche Ware aufnehmen. Doch der Kapitän würde nicht mehrere Tage lang warten, schon gar nicht, wenn nicht klar war, um wie viele es sich handelte. Auf einem Flussboot war Zeit Geld.

Er kam zu mir herüber. »Ich lasse dich nur ungern ziehen, Sam. Du bist ein außerordentlich guter Arbeiter und beklagst dich nie. Hier hast du, was ich dir bis jetzt schulde.« Er reichte mir ein paar Münzen, und ich steckte sie ein. Die unterschwellige Botschaft war eindeutig: Die Clipper würde sofort ablegen, sobald die Fracht verstaut war.

Der Polizist wartete höflich ab, bis ich mich von allen verabschiedet und meinen Rucksack genommen hatte. Dann führte er mich über den Steg in die Stadt. Hinter uns trug ein weiterer Polizist die Frachtkiste. »Was ist los?«, fragte ich. »Wonach sucht ihr?«

Er schaute mich einen Moment an. Vielleicht überlegte er, was er mir verraten durfte. »Ich kann dir leider nicht viel sagen, Sam. Man hat uns den Namen des Bootes und den Namen auf dem Etikett genannt, nach dem wir suchen sollen. Außerdem haben wir Befehl, sowohl dich als auch die Kiste auf die Wache zu bringen und auf unsere Besucher zu warten. Ich weiß nicht einmal, wer kommt.« Er beugte sich dicht zu mir heran. »Aber es heißt, sie gehören zur Crew

»Zur Crew? Sind die nicht nur ein Mythos?«

Der Polizist lächelte über meine augenscheinliche Naivität. »Ich weiß, dass viele Leute das glauben, Sam, aber die Polizei muss manchmal mit ihnen zusammenarbeiten. Wir wissen, dass es sie wirklich gibt. Ein paar von ihnen haben Waffen« – er tat, als hielte er ein Gewehr und feuerte es ab – »mit denen sie dich aus der Ferne betäuben können. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«

Oh Mann. Dann würde ich also ein paar Tage darauf warten müssen, dass die Crew kam und mich auseinandernahm. Das war viel schlimmer als ungut. Eher Doppelplusungut.