29

Ausweichen

Bob – September 2334

Garacks Rücken

Ich kam beinahe einen ganzen Block weit, bevor sich weitere Verfolger an meine Fersen hefteten. Sechs Maskierte wirbelten herum und setzten mir nach, als ich an ihnen vorbeihastete. Ich vernahm den dumpfen Knall von Betäubungsgewehren, spürte eigenartigerweise jedoch keine Treffer. Und ich hörte auch keine Flechettes von irgendwo abprallen. Wie schlecht schossen diese Typen eigentlich?

Ich drehte ein Auge nach hinten. Da ich große Mühe hatte, nicht aufs Gesicht zu fallen, während ich die beiden völlig unterschiedlichen Perspektiven zu verarbeiten versuchte, überließ ich das Rennen einen Moment lang meiner internen KMI und konzentrierte mich stattdessen komplett auf den Anblick hinter mir.

Offenbar mischte nun auch der Widerstand mit. Zwei der sechs Quinlaner hinter mir lagen getroffen auf dem Boden, während die anderen vier auf etwas schossen, das ich nicht sehen konnte. In gewisser Weise war das natürlich nicht ganz schlecht, doch in diesem Fall war der Feind meines Feindes leider auch mein Feind.

Ich fragte mich, wie sie sich gegenseitig auseinanderhalten konnten, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder, da ich genug damit zu tun hatte, mich auf meine Flucht zu konzentrieren.

Ich musste es zur Station schaffen, aber nicht unbedingt auf der direkten Route. Wussten oder vermuteten die Quinlaner, dass ich nicht den Wasserweg wählen konnte? Falls nicht, würden sie den Fluss und die Bäche, die zu meinem Ziel führten, ebenfalls überwachen.

Ich konnte es mir nicht leisten, in der Nähe der Stadt zu verharren. Wenn sie einen Suchkordon bildeten, würden sie mich bald aufstöbern. Es brachte mir nichts, mich zu verstecken. Ich musste aus Himmelsfluss hinaus.

Ich behielt das hohe Tempo so lange wie möglich bei, doch nach einer Weile tauchte in meinem Head-up-Display ein Signal auf, das mich vor Überhitzung warnte. Das war durchaus okay, denn zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mehrere Meilen von der Stadt entfernt, und die Quinlaner würden doppelt so lange wie ich für diese Strecke brauchen. Und um mich einzuholen, mussten sie genau wissen, wo ich mich befand.

Ich setzte mich hin, nahm die Betäubungspistole aus dem Mund und begann, tief Luft zu holen. Ich benötigte zwar keinen Sauerstoff, aber jeder Atemzug leitete überschüssige Wärme ab. Nach ein bisschen Fummelei fand ich heraus, dass die Pistole in eine Netztasche seitlich am Rucksack passte. Das war zwar nicht ideal, aber in diesem Moment kümmerte es mich nicht, ob mich jemand mit einer Crew-Waffe sah.

Zeit für eine Bestandsaufnahme.

»Wie ist deine Lage, Hugh?«

»Sie haben mir Handschellen angelegt und einen Wagen beschlagnahmt. Die Hauns waren groggy, aber nicht bewusstlos. Sie blöken protestierend, machen aber, was ihnen befohlen wird.«

»Wohin bist du unterwegs?«

»Wie es aussieht, zum östlichen Bahnhof. Wahrscheinlich werde ich zu irgendjemandem hingefahren.«

»Okay, halt mich auf dem Laufenden.«

Er schien nicht in akuter Gefahr zu sein.

»Was ist bei dir los, Bill?«

»Ich habe gerade eine Vollversammlung beendet. Wir haben mit der Sternenflotte gesprochen. Man kann sagen, es war ziemlich unbefriedigend. Es ist nichts dabei herausgekommen.«

»Okay, klingt interessant. Es tut mir fast leid, dass ich das verpasst habe.«

»Du kannst dir ja die Mitschriften ansehen. Ich habe übrigens deine letzten Blogbeiträge gelesen. Ist mit Bender immer noch alles in Ordnung?«

»Soweit ich weiß, ist die Matrix noch nicht zerbrochen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie viele Erschütterungen diese Dinger aushalten. Davon steht nichts in den technischen Daten.«

»Ja, ich verstehe. Na gut, immer mit der Ruhe, mein Freund. Hoffentlich können wir uns später stressfreier unterhalten.«

Und das war es dann. Ich hatte keine Ausrede, Will oder Howard, geschweige denn Marvin oder Luke anzurufen. Mit einem unterdrückten Seufzer blickte ich auf mein Head-up-Display. Die Temperaturen waren auf einen vernünftigen Wert gesunken, wenn auch noch längst nicht da, wo sie eigentlich sein sollten. Aber solange ich es locker anging, konnte ich in diesem Zustand auf Reisen gehen. Damit war die Zeit zum Aufbruch gekommen.

Der restliche Trip bis zur Station verlief fast eintönig. Ich rechnete halb damit, dass sich meine Gegner aus Baumwipfeln auf mich stürzen würden, besonders kurz vor de m Ziel. Doch die Quinlaner waren von Natur aus keine Geschöpfe des Waldes. Ich stellte mir vor, dass sie auf Bäumen und weit weg vom Wasser schnell nervös würden.

Schließlich erhaschte ich durch eine Lücke zwischen den Stämmen einen Blick auf die Transitstation. Mit der Freiheit in Sichtweite musste ich mich zusammenreißen, um nicht loszurennen. Auf keinen Fall würde ich die Station durch die Vordertür betreten. Und auch nicht durch den Wartungseingang. Zum Glück gab es noch die Luke, die Gandalf … Oh, oh.

In der näheren Umgebung der Luke standen mehrere Quinlaner mit Schaufeln und diskutierten miteinander. Unser getarnter Eingang war entdeckt worden. Die Lage wurde immer schlimmer. Ich war buchstäblich nur noch einen Steinwurf vom Ausgang entfernt – doch es sah aus, als hätten sich sämtliche Bewohner von Himmelsfluss davor versammelt.

Aber vielleicht hatten sie die Wartungstür offen stehen lassen? Sonst musste ich mir irgendeinen anderen Weg suchen, auf dem ich unbemerkt ins Gebäude eindringen konnte. Sorgsam darauf bedacht, die Blätter nicht zum Rascheln zu bringen, schlich ich zur anderen Seite der Station. Als ich dort eintraf, hielt gerade eine Quinlanerin ihre Karte an das Lesegerät des Wartungseingangs und trat ein. Ich war zu weit entfernt, um ihr die Karte wegzunehmen. Solange ich nicht besser über die Situation vor Ort Bescheid wusste, wäre das auch eine schlechte Idee gewesen. Doch es kamen und gingen noch mehr Quinlaner, und sie alle führten Sicherheitskarten mit sich. Irgendwie würde ich das zu meinem Vorteil nutzen.

Ich beobachtete aufmerksam meine Umgebung und wartete so lange, bis niemand in Sichtweite war. Dann zog ich die Betäubungspistole aus der Netztasche meines Rucksacks und robbte zum Wartungseingang. Von drinnen war nichts zu hören, aber die Wände dieses Gebäudes waren auch ziemlich dick. Möglicherweise konnte ich durch das Fenster sehen, ob sich in der Lobby jemand aufhielt. Und vielleicht hatte ich sogar genügend Flöhe, um das Schloss zu knacken …

Die Tür flog auf, und ein Pulk Quinlaner mit gezogenen Betäubungspistolen strömte heraus.

Ich starrte die auf mich gerichteten Mündungen an. Ich wusste nicht, ob diese Leute zur Crew oder zum Widerstand gehörten, doch zu diesem Zeitpunkt spielte es ohnehin keine Rolle. Beide Gruppierungen waren hinter mir her. Diese Leute standen zwischen mir und dem Ausgang, und ich merkte, dass ich die Nase voll hatte. Diesmal würde ich mich nicht zurückhalten. Ich konnte Flechette-Geschosse mit der Brust abfangen, ohne ernsten Schaden zu nehmen, und Benders Matrix wurde von meinem Körper abgeschirmt. Zudem hatte ich ein volles Magazin in meiner Waffe stecken. Ich würde einfach so lange auf sie schießen, bis außer mir keiner mehr stand.

Ich richtete mich gerade auf und ging mit vorgestreckter Beruhigungspistole auf die Gruppe zu. Bestürzt schauten mehrere von ihnen mit einem Auge nach hinten, um zu sehen, ob sich von dort ebenfalls jemand näherte. Die Übrigen gingen in Schussposition.

Dann hob einer von den Quinlanern die Hand und rief: »Einen Moment.« Die andere Hand legte er sich ans Ohr. Ich war mir nicht sicher, ob die Geste mir oder seinen Kameraden galt. Ihren verwirrten Mienen nach wussten die es auch nicht.

Es war eine Situation wie aus einem Comic. Die Schlacht pausierte, weil einer der Beteiligten telefonierte. Und der Quinlaner führte tatsächlich ein Gespräch. Er redete, dann hörte er zu und redete anschließend wieder. Ein paarmal verdrehte er die Augen.

Ich merkte, dass ich mich in einer äußerst schlechten strategischen Position befand. Während ich den Typen mit dem Telefon anstarrte, konnten andere …

»Uff«, sagte ich, als sich mehrere Quinlaner von hinten auf mich warfen. Ich landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Arme und Beine vom Gewicht zahlreicher Körper festgeklemmt. Mein Fehler. Ein echter Quinlaner hätte seine beweglichen Augen darauf verwendet, auch hinter sich nach Bedrohungen Ausschau zu halten. Als ehemaliger Mensch neigte ich dazu, immer nur in eine Richtung zu blicken.

Ich wehrte mich, hatte aber schreckliche Angst, dass Bender in dem Gerangel beschädigt werden könnte. Interessanterweise schienen meine Gegner diese Sorge zu teilen. Sie waren eindeutig ausschließlich darauf aus, meine Gliedmaßen zu fixieren, und achteten darauf, sich nicht komplett auf mich zu legen.

Plötzlich verschwand mein Rucksack. Ich drehte – zu spät – die Augen nach hinten und sah einen Quinlaner mit einem Messer in der Hand. In der anderen hielt er meinen Rucksack, von dem die zerschnittenen Träger herabbaumelten.

Da sie jetzt Bender hatten, kam eine Flucht nicht mehr infrage. Also hörte ich auf, mich zu wehren.

Ein paar Sekunden lang bewegte sich keiner von uns. Wahrscheinlich dachten sie, ich würde nur darauf warten, dass sie sich entspannten und dann einen Befreiungsschlag versuchen. Was gar keine schlechte Taktik gewesen wäre, hätte ich vorgehabt, ohne Bender abzuhauen.

Ein Quinlaner bückte sich so vor mich hin, dass ich sein Gesicht sehen konnte. »Wir haben den Rucksack mit dem Würfel. Deine Ergreifung ist nur ein untergeordnetes Missionsziel. Die Verwaltung wird den Würfel bekommen, mit dir oder ohne dich. Hast du das verstanden?«

»Ja«, gab ich grimmig zurück. Ich würde sie nicht über meine Beweggründe informieren. Sie gingen vermutlich davon aus, dass ich Bender bei erstbester Gelegenheit schnappen und davonrennen würde. Der Sprecher der Gruppe machte eine Geste, und das Knäuel aus Quinlanern begann, sich aufzulösen. Einen Moment später konnte ich mich wieder frei bewegen.

Ich stand auf und schaute mich um. Mein Rucksack war nirgends zu sehen, und ich war von ungefähr einem Dutzend Quinlanern umzingelt, die allesamt bereit waren, sich jederzeit erneut auf mich zu stürzen.

»Und was jetzt?«

Der Anführer zeigte auf die Eingangstür. »Der Würfel wird auf einem anderen Weg transportiert, um sicherzustellen, dass du nicht auf dumme Gedanken kommst.«

Mir wurde übel. Ich hatte verloren. Viertausend Meilen auf der Flucht, um dann auf der Ziellinie erwischt zu werden. Ich hob das Kinn. Es war noch nicht vorüber. Sie konnten mich nicht töten, und wir würden zurückkehren. In großer Zahl. Mit genügend Scannern, um die gesamte Topopolis zu erfassen, falls das nötig sein sollte. Es sei denn, sie nahmen die Matrix auseinander …

Ohne zu antworten, marschierte ich auf den Wartungseingang zu. Ich würde kooperieren. Ich würde sogar versuchen, mit der Verwaltung zu sprechen. Aber wenn sie sich weigerten, Bender herauszugeben, mussten sie sich auf einen langwierigen Guerillakrieg gefasst machen. Und auf Schlimmeres.

Ich versuchte aufzupassen, als wir uns zum Bahnsteig begaben, aber meine Gedanken waren nach innen gerichtet. Und so bekam ich es kaum mit, als der Anführer einen Zug rief, und hörte auch nicht zu, als er das Ziel angab. Wenige Sekunden später öffnete sich zischend eine Zugtür, und wir stiegen ein.

Die Quinlaner behielten mich weiterhin in ihrer Mitte, aber sie gingen davon aus, dass ich keinen Fluchtversuch unternehmen würde, solange sie Bender hatten. Wir setzten uns alle hin, und der Zug fuhr sanft aus der Station hinaus.

Sobald die Beschleunigungsphase vorbei war, wandte sich der Anführer, der neben mir saß, mir zu. »Kannst du mir verraten, warum du den Würfel unbedingt haben willst?«

Ich sah keinen Sinn darin, ihn anzulügen. Und vielleicht würde die Wahrheit sogar helfen. »Er ist ein Freund von mir. Ein Verwandter.«

Er neigte den Kopf zur Seite, was eine sehr menschlich wirkende Geste darstellte. »Ihr seht euch gar nicht ähnlich.«

»Du weißt, dass hinter der Verwaltung kein Quinlaner steckt, oder?«, entgegnete ich. Als er nickte, fuhr ich fort: »Intelligente Wesen müssen nicht aus Fleisch und Blut sein.«

Er runzelte die Stirn und schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Das erklärt eure Unbeirrbarkeit.« Er stand auf und ging zum anderen Ende des Abteils. Ich sah ihn in sein Kommunikationsgerät sprechen. Zweifellos gab er unser Gespräch weiter. Ich hatte keine Ahnung, ob das gut oder schlecht für mich war.

Nach einer überraschend kurzen Fahrt traten wir in einen Stationskorridor hinaus. Ich merkte schnell, dass wir uns nicht in einer öffentlichen Haltestelle, sondern in einem Segmentgebirge befanden. Natürlich: Wir waren in eine Crew-Festung zurückgekehrt.

Sie brachten mich in eine Art Konferenzraum. Er war mit einem Tisch und Stühlen möbliert. Mitten auf dem Tisch stand ein Gerät, das auf den ersten Blick wie eine deutlich modernere Version von Motorola aussah.

»Wir sind da«, sagte der Anführer, als wir uns setzten.

»Bestätigt«, erwiderte das Gerät. Es war also wirklich ein Motorola.

»Bist du die Verwaltung?«, fragte ich.

»Ja. Du kannst mich ANEC nennen. Ich habe ein paar Fragen an dich.«

»Ich will meinen Freund wiederhaben.«

»Eine Antwort auf eine ungestellte Frage. Noch dazu eine äußerst offensichtliche, wenn man bedenkt, was ihr alles unternommen habt, um uns aus dem Weg zu gehen.«

»Das ist nicht verhandelbar.« Ich merkte, dass ich wütend war und mich beherrschen musste, um nicht alles zu verderben.

»Da wir nicht miteinander verhandeln, ist diese Bemerkung irrelevant.« Pause. »Ich spreche soeben auch mit deinem Partner Hugh. Ich werde eure Antworten miteinander vergleichen. Unwahrheiten werden nicht toleriert, und sie werden ernste Konsequenzen nach sich ziehen. Denk daran, dass ich euren Würfel besitze.«

Nun, das war eine unmissverständliche Drohung. Ich dachte kurz darüber nach, ebenfalls eine auszusprechen, war aber ziemlich sicher, dass wir dadurch nur in einen Teufelskreis geraten würden. Stattdessen beschloss ich, mich erst einmal mit Hugh in Verbindung zu setzen.

»Hallo, Hugh, hast du irgendwelche Lügen erzählt?«

»Nein. Bleib bei der Wahrheit. Vertrau mir, Bob. Alles wird gut.«

Das machte die Angelegenheit zumindest ein wenig leichter. »Fahr fort«, sagte ich laut.

Ein paar Minuten lang stellte ANEC mir eine Reihe vergleichsweise unverfänglicher Fragen. Offensichtlich wollte er lediglich die Dinge überprüfen, die Hugh ihm erzählt hatte. Schließlich wandte er sich jedoch wichtigeren Themen zu.

»Seid ihr eine interstellare Spezies?«

»Ähm, der Begriff Spezies trifft es nicht ganz«, erwider te ich. »Aber wenn du wissen willst, ob wir zu interstellaren Reisen fähig sind, dann lautet die Antwort ja.«

»Unterhaltet ihr in mehreren Systemen Kolonien?«

Ich überlegte, ob ich zwischen Menschen und Bobs sowie zwischen Kolonien und planetenumkreisenden Raumschiffen differenzieren sollte, doch wenn ich mit meiner Vermutung, worauf er hinauswollte, richtiglag, waren diese Unterscheidungen wahrscheinlich unerheblich. »Ja.«

»Seid ihr künstliche Intelligenzen?«

»Wir sind Replikanten. Kopien von Lebewesen.«

»Der Würfel auch?«

»Ja.«

Keine Antwort. Als sich die Stille in die Länge zog, rutschten meine quinlanischen Begleiter auf ihren Stühlen herum. Während der bisherigen Unterhaltung hatten sie geschwiegen, doch nun begannen sie, miteinander zu flüstern. Ich war mir nicht sicher, ob es an meinen Antworten oder ANEC s Schweigen lag, aber irgendetwas machte sie sehr nervös.

Nachdem ANEC sich mehrere Minuten lang nicht gemeldet hatte, stand der Anführer meiner Eskorte auf und ging zur anderen Seite des Raumes hinüber. Er hielt sich eine Hand ans Ohr und murmelte etwas in seinen Kommunikator, dann kehrte er mit verblüfftem Gesichtsausdruck an seinen Platz zurück.

»Du hast offensichtlich in ein Lorusch -Nest gestochen«, sagte er zu mir. »ANEC hat mich angewiesen, auf weitere Befehle zu warten.«

Trotz der angespannten Lage und meiner Angst um Bender musste ich lachen. »Das ist meine Superkraft.«

»Möchtest du etwas essen oder zur Toilette?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich brauche nichts. Aber wenn ihr mich für eine Weile irgendwo einsperren wollt, ist das für mich in Ordnung.«

Ich saß in meinem La-Z-Boy und trank gerade meinen vierten oder fünften Kaffee, als mein Manny einen Audiostream an mich weiterleitete. »Zeit zum Aufstehen. ANEC ist wieder da.«

Ich kehrte schnell in meinen Manny zurück. Der Anführer der Eskorte, der sich mir als Norm vorgestellt hatte, bevor sie mich einsperrten, stand in der offenen Tür.

Ich stand auf. »Showtime.«

Norm runzelte die Stirn. »Ein paar von den Dingen, die du sagst, ergeben überhaupt keinen Sinn. Aber da du kein Quinlaner bist, ist das wohl völlig normal.«

»Wenn wir vor Beginn unserer Expedition genug Zeit für eine komplette Recherche gehabt hätten, würde ich keine merkwürdigen Dinge von mir geben. Aber unter den gegebenen Umständen werden ein paar unserer Redewendungen wortwörtlich übersetzt.«

Er zuckte die Achseln.

Kurze Zeit später kehrten wir in den Konferenzraum zurück. Beim Eintreten sah ich zu meinem Erstaunen Hugh auf einem der Stühle sitzen.

»Hey, Bob.«

»Hugh.« Ich versuchte keine Miene zu verziehen, war mir aber nicht sicher, ob seine Anwesenheit ein gutes oder schlechtes Zeichen war. »Haben sie dich gefoltert?«

Er kicherte. »Kann man so sagen. Ich hatte das Gefühl, noch einmal meine Doktorarbeit verteidigen zu müssen. Äh, besser gesagt deine … Ich meine die des Ursprünglichen Bob.«

Ich lachte. »Ja, ich weiß. Daran erinnere ich mich auch. Ich hatte noch nie so geschwitzt wie bei diesem Termin.« Ich drehte mich zu Norm um. »Und was jetzt?«

»Keine Ahnung, ich arbeite bloß hier.«

Hugh und ich glucksten. Beamte tickten offenbar überall gleich.

Norm legte eine Hand ans Ohr. Wahrscheinlich würden wir gleich eine Antwort auf meine Frage erhalten. Er nickte mehrere Male. Schließlich sagte er: »Verstanden.« Er ließ die Hand sinken und schaute uns an. »Wie’s aussieht, könnt ihr nach Hause gehen.«

Norm führte Hugh und mich zum Eingang der Wartungsanlage. Der Großteil meiner ursprünglichen Eskorte schloss sich uns an, doch diesmal hatten sie eindeutig nicht den Auftrag, uns als Gefangene zu bewachen, sondern wollten offenbar nur ein bisschen mit uns schlendern. Auf dem Weg nach draußen fiel mir auf, dass das gesamte Gebäude bis hin zum Eingangsbereich eine exakte Kopie der Anlage in Haleps Ende war. Als wir umgeben von Wald und Tiergeräuschen ins Tageslicht hinaustraten, fragte ich: »Sollen wir nach Garacks Rücken zurücklaufen?«

Norm lachte. »Nein. ANEC hat uns angewiesen, hier draußen zu warten.« Er deutete zum Eingang zurück. »Charlie wird gleich euren Würfel bringen. Wir haben ihn an einem anderen Ort aufbewahrt – für den Fall, dass etwas schiefgeht.«

»Klingt logisch. Ich habe allerdings das Gefühl, dass noch eine Pointe kommt.«

Norm grinste mich an und hob seinen Kommunikator zum Mund. »Wir sind bereit.«

Ich hatte kaum Zeit, fragend die Augenbrauen zu heben, als wie aus dem Nichts ein gigantisches quinlanisches Gesicht am Himmel erschien und zu sprechen begann. Und wenn ich gigantisch sage, meine ich damit ein so riesiges Antlitz, wie es wohl auch Gott zeigen würde, wenn er sich an die Menschen wenden wollte. Meine Eskorte sah ebenfalls nach oben und lauschte mit offenen Mündern der Stimme, die dröhnend über das Land schallte.

Hier spricht ANEC -23. Viele von euch kennen mich als die Verwaltung. Ich beobachte euch seit mehr als dreihundert Jahren. Meine primäre Aufgabe besteht darin, die quinlanische Spezies am Leben zu erhalten. Zwanzig Generationen lang habt ihr in größerer Sicherheit gelebt als irgendwer sonst vor dem Bau von Himmelsfluss. Das war nur möglich, weil ich euch die Kontrolle über eure Kultur und eure Technologien genommen habe.

Die Gefahr, dass ihr euch selbst vernichtet, ist nun jedoch so gut wie gebannt. Aufgrund eines Abkommens, das ich soeben mit einer außerirdischen Spezies namens BAABS getroffen habe, ist der Fortbestand der quinlanischen Spezies zwar nicht garantiert, aber sehr wahrscheinlich geworden. Daher sind die Beschränkungen, die ich euch auferlegt habe, nicht länger notwendig. Es wird keine Verstreuungen mehr geben. Ebenso werde ich euch schrittweise Zugang zu allen bislang gesperrten Bereichen von Himmelsfluss gewähren. Die Ära der Kontrolle ist vorbei. Es wird Zeit, dass die Quinlaner ihr Schicksal wieder selbst in die Hände nehmen.

Für jene Gruppe, die als Widerstand bekannt ist, gibt es nun keinen Grund mehr, sich gegen mich aufzulehnen. Ich lade ihre Mitglieder dazu ein, am Aufbau einer selbstregierten quinlanischen Gesellschaft mitzuwirken. Kontaktiert mich bitte über die Standard-Kommunikationssysteme, damit wir mit den entsprechenden Diskussionen beginnen können.

Das ist alles.

Ich senkte langsam den Kopf und begegnete Norms Blick. »Das war … beeindruckend.«

»Mit diesem Vertrauensvorschuss stellt ANEC seinen guten Willen unter Beweis.« Norm grinste. »Außerdem gibt er manchmal gerne ein bisschen an.«

Ich nickte, dann drehte ich mich zu Hugh um.

Es fiel ihm offensichtlich nicht leicht, mir in die Augen zu schauen. »Ich nehme an, dass du ein paar Fragen hast«, sagte er.

»Ein oder zwei vielleicht, aber fang einfach ganz von vorn an.«

»Also gut. Ich hatte Glück, dass ich von der Crew gefasst wurde. Hätte mich der Widerstand erwischt, wäre alles viel komplizierter gewesen. Es war nicht schwer, sie dazu zu überreden, mich mit der Verwaltung sprechen zu lassen. Auch wenn es eine Weile gedauert hat. Ich glaube, am liebsten hätten sie mich seziert. Anscheinend sind wir allen ziemlich auf die Nerven gegangen.«

»Das kann man wohl sagen«, murmelte Norm.

Ich schnaubte und erwiderte: »Das war zwar nicht unsere Absicht, aber ich weiß, was du meinst.«

Hugh neigte verlegen den Kopf. »Wie auch immer, schließlich haben sie mich der Verwaltung vorgestellt. Unser Gespräch ähnelte deinem Verhör.«

»Mm-hm. Und?«

»Anfangs haben wir noch um den heißen Brei herumgeredet, aber irgendwann die Karten auf den Tisch gelegt. Ich habe der Verwaltung ein Angebot gemacht, das sie interessant fand. Sobald sie dich gefasst hatten und du bestätigt hast, dass ich die Wahrheit sage, hat ANEC es akzeptiert.«

»Auf was genau habt ihr euch geeinigt?«

»Das erzähle ich dir, wenn wir wieder zu Hause sind, einverstanden? Jetzt müssen wir uns wenigstens nicht mehr heimlich davonschleichen und können durch die Vordertür raus.«

»Die Verwaltung lässt uns wirklich gehen? Einfach so? Für ein Wesen, das sich bislang derart unnachgiebig verhalten hat, erscheint mir das erstaunlich vertrauensselig. Schließlich trage ich etwas bei mir, das ihm gestohlen wurde. Welche Garantien hast du der Verwaltung gegeben?«

»Darüber würde ich gern später sprechen, Bob. Lass uns erst einmal heimkehren.«

Nun, das klang wirklich sehr vertrauenserweckend.

Trotz meiner Bedenken lief alles glatt. Sobald Charlie mit Bender und einem neuen Rucksack auftauchte, wurden wir ohne Zwischenfälle zum Bahnhof eskortiert und in den Zug nach Garacks Rücken gesetzt. Zu meiner Erleichterung durften wir bei der Rückkehr zur Außenhülle das Spin-Übertragungssystem verwenden. Was wesentlich angenehmer war, als sich nacheinander in eine Schürfdrohne zu zwängen.

Während dieser Zeit versuchte die Verwaltung nicht, uns zu kontaktieren, und Hugh schwieg sich weiterhin hartnäckig über die Einzelheiten ihrer Vereinbarung aus. Daher verlief unsere Rückreise in dezent angespannter Stimmung.

Schließlich gelangten wir jedoch ins Raumdock von Himmelsfluss. Auf Hughs Anweisung hatte Gandalf bereits die Transportdrohne eingeflogen und bei einer Luftschleuse geparkt. Natürlich konnte sie sich nicht mit den quinlanischen Apparaturen verbinden, aber das war auch gar nicht nötig. Wir traten einfach durch eine Luftschleuse und sprangen durchs Vakuum in den Frachtraum der Drohne.

Als wir Benders Matrix sicher verstaut hatten, verließen wir unsere Mannys und begaben uns nach Virt zurück.

Ich war ein bisschen überrascht, als ich allein in meiner VR auftauchte. Aber nur ein kleines bisschen. Hughs Widerwillen, die Angelegenheit mit mir zu besprechen, ließ nichts Gutes erahnen. Ich nahm an, dass er sich überlegen wollte, wie er uns seine Absprache mit ANEC schmackhaft machen konnte.

Zu was hatte er uns verpflichtet? Würde das Bobiversum seine Zusagen absegnen? Und was war mit den Menschen? Würden sie komplett ausflippen?