Sie verheimlichen etwas, die beiden«, sagte Wilfrid zu Eirik, als sie am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch im großen Saal allein waren und ihr Frühstück einnahmen. Verärgert stellte er so heftig seinen Becher zurück, dass sich das mit Wasser verdünnte Bier auf den Tisch ergoss. »Britta und Eure Frau Gemahlin haben gestern den ganzen Tag die Köpfe zusammengesteckt. Und wann immer ich Britta gefragt habe, worum es ging, ist sie so nervös geworden, dass sie fast aus der Haut fuhr.«
»Bei Eadyth ist es ganz genauso«, sagte Eirik unglücklich. So wütend, wie er in der vergangenen Nacht gewesen war, hatte er nicht einmal mehr daran denken können, erneut mit seiner Frau zu schlafen. Sie hatte ihren Reiz für ihn verloren, nachdem ihm bewusst geworden war, dass sie ihn schon wieder hinters Licht zu führen versuchte, zumal sie sich hartnäckig geweigert hatte, ihm die Wahrheit zu sagen. Trotz ihres tränenreichen Protestierens hatte er nicht einmal mehr das Bett mit ihr teilen wollen, sondern den Rest der Nacht auf einem der Strohsäcke im großen Saal verbracht. Allerdings hatte er nicht geschlafen.
»Vielleicht sind sie nur besorgt wegen Godric«, sagte Wilfrid nicht sehr überzeugend.
»Das sind wir alle, aber ich weiß, dass da noch mehr ist. Herrgott noch mal, hast du Eadyths lahme Ausrede gehört, warum sie während meiner Abwesenheit nicht auf der Burg war? So viel Gestotter, Gestammel und glatte Lügen habe ich meinem ganzen Leben noch nicht gehört.«
»Dann glaubst du also nicht, dass sie sich im Wald verirrt hatte?«
Eirik schnaubte ungläubig. »Was mich furchtbar wütend macht, ist, dass Eadyth gegen meinen ausdrücklichen Befehl die Burg verlassen hat. Die Widerspenstigkeit dieser Frau verschlägt mir schier die Sprache. Aber schlimmer noch, es gibt gar keine Wälder in der Nähe der Burg, und schon gar keine so dichten, dass jemand sich darin verlaufen könnte.«
»Ich weiß, dass du wütend bist, Eirik, aber es muss eine Erklärung geben.«
»Es gibt keine Erklärung für Lügen. Absolut keine. Eadyth weiß, wie wichtig mir Ehrlichkeit ist, und trotzdem führt sie mich mit voller Absicht hinters Licht. Schon wieder.«
Wilfrid richtete sich gerader auf. »Mir fällt gerade noch etwas anderes ein. Seit ihrer Rückkehr hat Lady Eadyth sich auch in anderer Hinsicht ausgesprochen merkwürdig verhalten. Sie ist ganz aufgeregt und hektisch in der Burg umhergeschwirrt …«
»Sie schwirrt immer umher«, sagte Eirik, »oder nörgelt, kommandiert herum oder regelt und erledigt irgendetwas, wie sie es so nett ausdrückt.«
Wilfrid winkte ab. »Nein, was ich sagen wollte, ist, dass sie für jedermann hier so merkwürdige Listen erstellt hat. Einen Kalender für jeden einzelnen Bediensteten auf Ravenshire, mit Aufgaben bis zum nächsten Jahr. Eine Liste mit den auf der Burg und in den Bauernkaten zu machenden Reparaturen. Oder eine weitere mit Dingen, die aus Jorvik hergebracht werden müssen. Anweisungen für die Pflege ihrer Bienen und die Herstellung ihrer Produkte. Es ist fast so, als …« Wilfrids Augen weiteten sich alarmiert.
»Was?«
»Es ist fast so, wie wenn ein Sterbender seine Angelegenheiten ordnet«, stellte Wilfrid fest.
Eirik lachte freudlos. »Eadyth ist gesund wie ein Maulesel. Wie ein heimtückischer, dickköpfiger Maulesel.« Mit den Moralvorstellungen einer Schlange. Dennoch gaben Wilfrids Worte ihm zu denken, und er strich sich versonnen über die Oberlippe. »Ich bin sicher, dass eine Verbindung zwischen ihr und Brittas Heimlichtuerei, Godrics Abwesenheit, ihren Listen und … ich sage das nur ungern … Steven von Gravely besteht. Ich garantiere dir, dass ich dieser Sache auf den Grund gehen werde, aber ich werde dieser Frau nie, nie wieder vertrauen.«
Wilfrid nickte ernst.
»Und sieh du bitte auch zu, was du herausfinden kannst, Wilfrid.«
Eirik wollte gerade zu seinem Schlafzimmer hinaufgehen und Eadyth noch einmal zur Rede stellen, als Wilfrid ihm ein Zeichen gab, zu der Tür zum Burghof hinüberzukommen.
»Himmelherrgottsakra!«, rief Eirik, als er Jeremy, Eadyths Steinmetz aus Hawk’s Lair, einen völlig überladenen Pferdekarren durch das Tor fahren sah. Er und Wilfrid eilten die Steintreppe hinunter und gingen zu dem Gebäude, vor dem der Wagen angehalten hatte. Auf dessen Ladefläche befanden sich genügend Bienenkörbe, Tongefäße für den Honig, Durchseihtücher, Formen zum Kerzengießen und Küchenvorräte, um für ein Jahr auszureichen. »Was um Himmels willen soll das?«, fuhr er den erschrockenen Diener an.
Jeremy zuckte mit den Schultern und wich angesichts Eiriks grimmiger Miene einen Schritt zurück. »Meine Herrin hat mich gestern Morgen mit einer langen Liste nach Jorvik geschickt.«
»Einer Liste!«, sagten Eirik und Wilfrid wie aus einem Munde und wechselten einen vielsagenden Blick.
»Und du bist die ganze Nacht hindurch gefahren, um schon kurz nach Tagesanbruch wieder hier zu sein? Wozu die Eile?«
Jeremy schüttelte unsicher den Kopf. »Meine Herrin sagte, es sei dringend.«
»Was? Die Honigtöpfe?«
»Mylord«, sagte Jeremy ungeduldig. »Ich tue, was meine Herrin mir befiehlt. Es steht mir nicht zu, nach ihren Beweggründen zu fragen.«
Eirik erlaubte Jeremy, den Wagen zu entladen, aber vorher überreichte der Bedienstete ihm ein großes, in ein Stück Tuch gewickeltes Paket.
»Was ist das?«, fragte Eirik unwirsch.
»Stoff für Bienenschutzschleier. Würdet Ihr ihn bitte der Herrin übergeben? Und richtet Ihr doch bitte auch aus, dass ihr Vertreter gesagt hat, dies sei der letzte, den er in ganz Jorvik auftreiben konnte. Und er sei mächtig wütend auf sie, weil sie verlangt hat …«
Zu aufgebracht, um höflich zu sein, fuhr Eirik jäh herum und ließ den Diener nicht einmal seinen Satz beenden. Mit großen Schritten hastete er zur Burg zurück. Eadyths Vertreter war nicht der Einzige, der mächtig wütend auf sie war. Er war fest entschlossen, seine Frau erneut zur Rede zu stellen und diesmal Antworten auf seine Fragen zu erhalten.
»Jetzt gibt’s Ärger«, krächzte Abdul, als Eirik das Schlafzimmer betrat. Nicht in der Stimmung für zänkisches Genörgel, weder von einem Papagei noch von seiner Frau, warf Eirik eine Decke über den Käfig. Aber der verflixte Vogel musste wie immer das letzte Wort behalten. »Abscheulicher Flegel! Arrk!«, krächzte er verärgert.
Eirik sah, dass Eadyth noch schlief, obwohl sie sich unruhig von einer Seite auf die andere warf. Wahrscheinlich wegen ihrer neuesten Betrügereien, dachte Eirik. Nachdem er sich einen Stuhl an das Bett herangezogen hatte, ließ er sich darauf nieder, streckte seine langen Beine aus und legte nachdenklich seine Zeigefingerspitze an die Lippen.
In dem schwachen Licht des Zimmers konnte er Eadyth nicht sehr gut erkennen, sah nur die Umrisse ihres nackten, vom Bettlaken nur knapp bedeckten Körpers. Und ausnahmsweise einmal fühlte er sich nicht verlockt – weder von ihren erstaunlich langen Beinen noch von den weichen Rundungen ihrer Brüste, ja, nicht einmal von dem entzückenden kleinen Muttermal an ihren Lippen. Das Einzige, was er sah, als er seine Frau betrachtete, war Falschheit.
Wie soll ich je mit einer Frau zusammenleben können, die lügt, wenn sie den Mund aufmacht? Kann ich überhaupt noch mit ihr leben?
»Eirik?«, fragte Eadyth zaghaft, als sie verschlafen die Augen öffnete und sich aufsetzte. Nachdem sie das Bettlaken über ihre Brust gezogen hatte, schüttelte sie ihre lange Mähne silberblonden Haars. »Du bist nicht ins Bett zurückgekommen«, warf sie ihm mit unsicherer Stimme vor.
Er sagte nichts, starrte sie nur an und versuchte zu verstehen, was in ihrem hinterhältigen Kopf vorging.
»Komm ins Bett, Eirik. Bitte.«
»Ich werde nie wieder bei dir liegen, Eadyth«, sagte er und wunderte sich, dass er trotz seiner Wut so ruhig sprechen konnte.
Sie sog scharf den Atem ein und gab einen erschrockenen kleinen Laut von sich.
»Es sei denn, du sagst mir jetzt die Wahrheit«, fuhr er mit unnachgiebiger Stimme fort. Und vielleicht nicht einmal dann, setzte er bei sich hinzu.
Sie schloss die Augen und wiegte sich bedrückt vor und zurück, gab ihm aber keine Antwort. Tatsächlich biss sie sich sogar auf die Unterlippe, als wollte sie verhindern, dass die Worte ihr wie von selbst über die Lippen kamen.
Eiriks Stimmung sank sogar noch mehr.
Als sie schließlich die Augen öffnete, sah er, dass sie in Tränen schwammen und eine flehentliche Bitte darin lag. Aber weder das eine noch das andere rührte ihn.
»Ich liebe dich«, sagte sie mit leiser Stimme.
Er stand auf und starrte sie in eisiger Verachtung an. »Das ist mir egal.« Gott helfe mir, ich wünschte, es wäre so. Er warf das in Stoff gewickelte Päckchen, das Jeremy ihm gegeben hatte, auf das Bett. »Hier. Das ist gerade für dich angekommen.«
Voller Entsetzen starrte Eadyth auf das Päckchen und stieß es von sich weg. Es fiel in die Binsenstreu auf dem Boden. Dann begann sie laut zu jammern. »Oh nein, bitte, lass es nicht so sein. O Gott, das ist erst der zweite Tag. O Gott …«
»Verdammt, was ist denn los mit dir, Eadyth? Das ist nur der Stoff, den du in Jorvik bestellt hast. Jeremy hat ihn mitgebracht.« Er sah verblüfft auf sie hinunter. »Was dachtest du denn, was es ist – ein Leichentuch?«
Ihre veilchenblauen, von Tränen verschleierten Augen blinzelten verwirrt. »Stoff?« Als sie endlich verstand, presste Eadyth eine Hand ans Herz, als könnte sie sein wildes Pochen so beruhigen. Dann presste sie ihre Lippen zusammen und weigerte sich beharrlich, seine Frage zu beantworten.
Zutiefst betrübt über Eadyths hartnäckiges Schweigen, ging Eirik resigniert zur Tür und schlug sie laut hinter sich zu. Sigurd und Tykir erwarteten ihn draußen direkt vor der Zimmertür.
»Endlich einmal gute Neuigkeiten, Eirik«, informierte Tykir ihn. »Graf Orm schickte eine Botschaft. Wir kennen jetzt Gravelys Versteck in Northumbria … mit absoluter Sicherheit. Es ist ein kleines Herrenhaus in etwa zweistündiger Entfernung von hier, in der Nähe von Lord Cyrils Ländereien.«
Eirik schloss die Augen und schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel, dass er den niederträchtigen Gravely nun vielleicht endlich fassen konnte. Auch wenn nichts in seinem Leben so lief, wie es laufen sollte, würde er doch zumindest diese Genugtuung bekommen.
»Mit etwas Glück werden wir dort vielleicht auch den kleinen Godric finden«, sagte Sigurd, und alle nickten zustimmend.
In diesem Augenblick kam Wilfrid zu Eirik hinübergelaufen. »Mylord, kommt bitte sofort mit! Ihr werdet nicht glauben, was ich gefunden habe.«
»Ich habe keine Zeit …«
»Glaubt mir, Eirik, dafür habt Ihr Zeit.«
Eirik befahl Tykir und Sigurd, ihre Pferde zu zäumen. »Ich bin gleich bei euch.« Dann eilte er seinem Seneschall hinterher und brummte irgendetwas über Zeitverschwendung. Ohne die geschäftigen Bediensteten zu beachten, die ihnen neugierig nachsahen, gingen sie durch die Küche und in den Hof hinaus. Als sie vor dem kleinen Schuppen standen, in dem Eadyth ihren Honigwein herstellte, riss Wilfrid mit einer schwungvollen Bewegung dessen Tür auf.
Eirik war so verblüfft, dass ihm fast die Kinnlade herunterfiel.
Ein Haufen blutiger Knochen lag auf dem Boden der Destillerie. Alle Arten von Knochen – Kuhbeine, Kalbsschulterknochen, der Hüftknochen eines Schafs, etwas, das wie ein Schweinekopf aussah, Augäpfel … Augäpfel! Es war ein fast hüfthoher Berg Tierabfälle, der bereits einen fauligen Gestank ausdünstete.
»Was soll das alles?«, rief Eirik gereizt. »Ich muss mich mit Sigurd und Tykir auf den Weg machen, um Gravely zu ergreifen. Warum verschwendest du meine Zeit mit Tierabfällen? Und warum sind sie hier und nicht auf dem Misthaufen?«, fragte er naserümpfend.
»Sie sind ein Hinweis«, verkündete Wilfrid mit einem selbstzufriedenen Grinsen.
»Hast du den Verstand verloren wie alle anderen in dieser Burg? Was für ein Hinweis?«
»Ein Hinweis auf Lady Eadyths und Brittas Komplott.«
Eirik stützte die Hände in die Hüften, tippte gereizt mit dem Fuß auf den Boden und funkelte seinen Seneschall verdrossen an.
»Seht Ihr es denn nicht? Sie haben die Tierknochen mit irgendeiner hinterhältigen Absicht hier versteckt. Ich habe das Gefühl, dass es etwas mit Godric zu tun hat.«
»Und ich habe das Gefühl, dass du dir heute Morgen den Kopf gestoßen hast. Viel wahrscheinlicher ist, dass dies die geheimen Zutaten für Eadyths Honigwein sind.«
Wilfrids Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Glaubt Ihr das wirklich?«
»Nein, du Dummkopf, das glaube ich nicht. Such Britta und bring sie auf der Stelle her. Ich habe genug von diesem Unsinn. Ich will Antworten und zwar jetzt.«
Kurz darauf stand eine sichtlich verängstigte Britte vor ihnen im Schuppen. Ihr rotes Haar war wild zerzaust, und ihre Schürze hing schief, als wäre sie in großer Eile oder sehr nervös.
»Ich werde dir Gelegenheit geben, meine Fragen zu beantworten, Britta«, sagte Eirik angespannt. »Eine Lüge … eine einzige Lüge nur … und du kannst Ravenshire noch heute verlassen. Und glaub nicht, dass deine Herrin dir beistehen kann, denn es ist gut möglich, dass sie den gleichen Weg wie du beschreiten wird.«
Britta sah Hilfe suchend Wilfrid an, aber er verschränkte seine Arme vor der Brust, blickte sie finster an und weigerte sich, ihr zu helfen. »Sag die Wahrheit, Britta«, sagte er kalt, »denn wenn du von der Burg verbannt wirst, werde ich weder mit dir gehen noch dir nacheilen können.«
Ihr gehetzter Blick huschte durch die Hütte wie der eines gefangenen Kaninchens.
»Warum habt ihr diese Knochen gesammelt, du und deine Herrin?«, fragte Eirik in gereiztem Ton.
Das Mädchen atmete tief ein, um Mut zu fassen, und ließ den Atem seufzend wieder aus. »Damit sie und John sterben können«, gestand Britta so leise, dass ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern war.
Eirik starrte sie mit offenem Mund an, und Wilfrid fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Sterben? Sterben!« Eirik packte Britta an den Oberarmen und schüttelte sie heftig. »Hör auf, dummes Zeug zu reden. Warum sind diese Knochen hier?«
»Das habe ich doch schon gesagt«, sagte Britta mit klappernden Zähnen. »Die Herrin muss so tun, als wären sie und John von wilden Wölfen getötet worden, und diese Knochen sollten der Beweis dafür sein. O Heilige Maria Gottes, jetzt wird der arme Godric sterben. Und Ihr auch, Lord Eirik.« Sie warf sich in die Arme des ganz und gar verblüfften Seneschalls und jammerte etwas von Gift, Ertrinken und abgeschlagenen Köpfen.
Als Britta sich ein bisschen beruhigt hatte, setzten sie sich alle auf eine Bank, und Eirik zwang die junge Frau, ihm alles zu erzählen. Nach ihrer langen, schier unglaublichen Geschichte erhob sich Eirik ganz steif vor Zorn. »Sie wollte mich mit Kuhknochen und den Augäpfeln von Schweinen täuschen?«, fragte er ungläubig. »Glaubt sie wirklich, ich wäre dermaßen begriffsstutzig und blind?«
»Oh nein, Herr, wir wollten die Knochen vorher noch zerschlagen. Wenn wir sie erst einmal alle ein bisschen mit einem Hammer bearbeitet hätten, hätte man nicht mehr sagen können …« Sie beendete ihren Satz nicht, als sie Eirik scharf die Luft einziehen hörte. Er warf ihr einen Blick zu, der pure Fassungslosigkeit verriet.
»Wie konntest du nur, Britta?«, entfuhr es Wilfrid. »Ich habe dir vertraut. Ich habe dich sogar gebeten, meine Frau zu werden. Wie konntest du?«
Sie begann wieder zu weinen.
»Und wo wollte sie hin?«, fragte Eirik mit eisiger Ruhe.
»In die Normandie.«
Eirik biss die Zähne zusammen.
»In der Botschaft an ihren Vertreter hat meine Herrin nicht nur die Vorräte bestellt, sondern ihn auch gebeten, eine Schiffspassage für sie und John zu buchen.«
»Und wovon wollte sie dort leben?«
»Von ihren Bienen«, sagte Britta hilflos. »Sie wollte einen kleinen Stock mitnehmen, um eine neue Kolonie zu züchten.«
Eirik verdrehte seine Augen. »Eine letzte Frage. Wo ist das Gift, das Steven ihr gegeben hat, um es mir zu verabreichen?«
Britta wirkte etwas unsicher. »Es war über dem Türrahmen in Eurem Schlafzimmer versteckt, damit die Kinder nicht herankommen konnten. Aber es kann auch sein, dass die Herrin es inzwischen weggeworfen hat. Oh, Herr, Ihr glaubt doch nicht etwa, dass sie es Euch wirklich geben würde?«
»Nein. Aber ich bin stark versucht, es ihr zu geben.« Er wandte sich an Wilfrid. »Ich erwarte von dir, dass du Britta für ihre Rolle in diesem aberwitzigen Komplott bestrafst. So wie auch ich es mit meiner eigenen hintertückischen Gattin tun werde.«
Wilfrid nickte, und Eirik wandte sich ab, um zur Burg und seiner starrsinnigen, hinterlistigen, schwachköpfigen Frau zurückzugehen. In diesem Augenblick hätte er sie ohne die geringsten Gewissensbisse umbringen können.
Edeath war nicht die einzige Person, die Listen machen konnte. In Gedanken begann Eirik schon eine Liste all der Möglichkeiten zu erstellen, wie er sie quälen konnte, bevor er ihr den Todesstoß versetzte. Vielleicht würde er damit beginnen, ihren Kopf in die blutigen Tierabfälle hineinzustecken. Oder sie zwingen, ein paar Schweineaugen zu essen.
Zum Glück befand sich Eadyth gerade hinter einem Wandschirm in seinem Schlafzimmer, als Eirik den Raum betrat. Er griff mit der Hand zum Türrahmen und nahm das Fläschchen mit dem Gift an sich. Dann schloss er die Tür hinter sich ab. Nachdem er das Fläschchen rasch in einen Nachttopf entleert hatte, spülte er es aus und füllte es mit Wasser.
Er sah das noch unausgepackte Päckchen auf dem Boden liegen und verspürte vorübergehend Mitleid mit Eadyth, als ihm bewusst wurde, dass sie geglaubt haben musste, es enthielte Godrics Kopf. Aber ihr Schmerz war nichts verglichen mit dem, den er empfunden hätte, wenn er von ihrem und Johns Tod erfahren hätte. Wie konnte sie?
Eadyth fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als sie angekleidet hinter dem Wandschirm hervorkam und sah, dass er an der Tür lehnte und sie erwartete.
»Du bist zurückgekommen«, sagte sie erfreut und streckte beide Hände nach ihm aus.
Er aber trat zur Seite, um ihr auszuweichen. »Ich reite mit Sigurd und Tykir weg«, teilte er ihr ruhig mit, obwohl er sie am liebsten vor Wut über ihr mangelndes Vertrauen in ihn angebrüllt hätte. »Endlich ist Steven uns zum Greifen nahe. Ich hoffe, dir noch vor Ende dieses Tages mitteilen zu können, dass dieser Teufel endlich tot ist.«
»Oh, nein, du kannst Steven jetzt nicht zu stellen versuchen!«
»Und warum nicht?«, fragte Eirik mit erhobener Augenbraue.
Die Hand, die sie an ihre Lippen presste, zitterte, und ihre Bewegungen waren fahrig und nervös. Sie war völlig überreizt. Schließlich sagte sie erstickt: »Bitte. Wenn du je etwas für mich empfunden hast, dann geh nicht heute hin.«
»Warum nicht?«
»Weil … weil ich einen Traum hatte, der auf großes Unglück hinzuweisen schien.« Sie brachte es nicht über sich, ihn dabei anzusehen.
Lügnerin!
»Und mir geht es gar nicht gut.« Ihre Augen irrten überall herum, nur ihn sah sie nicht an.
Lügnerin! »Befürchtest du, ich könnte Steven von Gravely in einem Kampf nicht gewachsen sein?«
»Nein.«
Lügnerin!
»Glaubst du, dass er Godric in seiner Gewalt haben und mein übereiltes Handeln das Leben des Jungen in Gefahr bringen könnte?«
Sie sog scharf den Atem ein, und ihre Augen weiteten sich vor Furcht bei seinen Worten, die ihr geradezu erstaunlich einsichtig erscheinen mussten. »Natürlich nicht, aber du weißt, wie heimtückisch Steven sein kann, und falls er Godric entführt haben sollte, könnte er den Jungen in irgendeiner Weise benutzen …« Sie unterbrach sich, als sie merkte, wie sie daherschwafelte und wie Eirik sie mit eisiger Verachtung musterte. »Eirik, ich bitte, bleib heute hier auf Ravenshire. Du wirst noch andere Möglichkeiten haben, Steven zu schnappen.«
»Gib mir einen guten Grund zu bleiben.«
»Weil ich dich liebe.«
Eadyths Worte verletzten Eirik sehr, weil er nun wusste, was für eine meisterhafte Lügnerin sie war. Wenn sie in einer Sache log, würde sie auch in einer anderen lügen. Er wappnete sich gegen ihre Bitten. »Liebe und Lügen gehen nicht Hand in Hand, Eadyth.«
Resigniert ließ sie die Schultern hängen.
»Warum zitterst du, Eadyth?«
Sie versteifte sich und ballte ihre Hände zu Fäusten, um ihr Zittern zu beherrschen. Die Willenskraft dieser Frau war sehr beeindruckend. Und ihre Courage auch, das musste er zugeben.
Eirik trat einen Schritt vor und stieß mit der Fußspitze das Fläschchen an, das er kurz zuvor in die Binsenstreu gelegt hatte. »Was ist das?«, fragte er, als er es in gespielter Verwunderung aufhob.
»Oh!«, rief sie und wurde leichenblass. »Gib es mir. Es muss heruntergefallen sein …« Sie blickte schuldbewusst zum Türrahmen hinauf.
Eirik hielt es dicht an sein Gesicht und schnupperte daran. »Was für ein komischer Geruch!«
»Gib es mir«, verlangte sie mit schon fast hysterischer Stimme und trat näher.
Er hielt es außerhalb ihrer Reichweite und legte fragend seinen Kopf zur Seite.
»Es ist ein Mittel gegen Kopfweh, das die Kräuterfrau aus dem Dorf mir gegeben hat. Ich habe dir doch gesagt, dass es mir nicht gut geht.«
Lügnerin! Er riss die Augen auf und zwang sich, eine erfreute Miene aufzusetzen. »Oh, das ist ja wunderbar! Ich habe nämlich grauenhafte Kopfschmerzen.« Dann, bevor sie reagieren konnte, entkorkte er das Fläschchen und stürzte seinen Inhalt in einem einzigen großen Schluck hinunter.
Und da schrie Eadyth auf. »Oh nein! Oh nein! Das war Gift, mein Liebster! Schnell, versuch es zu erbrechen!«
»Du wolltest mich vergiften?«, fragte er und setzte eine zutiefst gekränkte Miene auf.
»Nein, es war Gravely.« Sie versuchte, ihm einen Finger in den Hals zu stecken, um ihn dazu zu bringen, das Gift zu erbrechen, woraufhin er sie in den Finger biss.
Dann stieß er sie grob beiseite, taumelte zum Bett hinüber und ließ sich auf den Rücken fallen. Mit einem übertriebenen Seufzer schloss er seine Augen und stöhnte: »Meine liebende Gattin, ich werde dich sehr vermissen«, und mimte unter Zuhilfenahme seiner ganzen Schauspielkunst den Sterbenden.
Er hätte schwören können, Abdul höhnisch kichern zu hören.
Aber Eadyth gab nicht auf. Sie warf sich auf ihn und bemühte sich verzweifelt, ihn hochzuheben. Dann versuchte sie erneut, seinen Mund zu öffnen und ihm einen Finger in den Hals zu stecken, damit er das tödliche Gift ausspuckte. Und die ganze Zeit über weinte sie und sagte ihm, wie leid es ihr tat und wie sehr sie ihn doch liebte.
Eirik biss die Zähne zusammen und versteifte seine Muskeln, als träte bereits die Todesstarre ein. Als Eadyth seinen Mund nicht aufbekam, begann sie ihm ins Gesicht zu schlagen, um ihn von den Toten zu erwecken. Sie packte ihn sogar an den Ohren und schlug seinen Kopf so heftig auf die Matratze, dass ihm ganz schwindelig wurde. Seine Ohren dröhnten von ihrem Geschrei. Zum Teufel aber auch, denn nun bekam er wirklich Kopfschmerzen.
Ein lautes Klopfen an der Tür lenkte ihn ab, und er konnte Tykirs, Wilfrids und Sigurds besorgte Rufe hören. Offenbar hatten sie Eadyth schreien gehört. Verdammt, aber wahrscheinlich hatten sogar die Tauben in Jorvik ihr Geschrei gehört.
Eadyth ignorierte sie alle und kreischte wie eine Irre, als sie sich rittlings über ihn kniete, um ihm ihren Atem in den Mund zu blasen. Als sie ihm mit einer Hand die Nase zuhielt, ihren Mund auf seinen presste, um ihn zu beatmen, und gleichzeitig auf seine Brust einschlug, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, beschloss er, dass er mehr als genug gelitten hatte. Wenn er diese Frau nicht dazu brachte, einzuhalten, würde sie ihn am Ende wirklich noch umbringen.
Nach Atem ringend, schob er sie von seiner Brust und rollte sich vom Bett. »Erspar dir deine Bemühungen, Eadyth. Ich will sie nicht.«
Sie starrte ihn betroffen an. »Du bist nicht tot.«
»Wie scharfsinnig du doch bist!« Den Männern, die noch immer beunruhigt vor der Tür herumschrien, rief er zu: »Es ist alles in Ordnung. Ich bin gleich bei euch.« Er hörte, wie sie brummend weggingen.
Eadyth schüttelte den Kopf wie ein begossener Hund. Als ihr dämmerte, was sich gerade abgespielt hatte, stürzte sie sich auf ihn und begann mit beiden Fäusten gegen seine Brust zu schlagen. »Du Biest! Wie konntest du mir so einen grausamen Streich spielen?«
»Grausam? Grausam?«, fuhr er sie in wildem Jähzorn an, während er mit beiden Händen ihre Handgelenke packte und sie auf Armeslänge von sich abhielt. »Ich werde dir sagen, was grausam ist. Kein Vertrauen zu seinem Ehemann und seiner Fähigkeit, dich zu beschützen, zu haben. Zu lügen, wann immer es dir gerade passt. Deinen eigenen Tod und den deines Sohnes vortäuschen zu wollen. Den Mann, den du zu lieben behauptest, zu verlassen, vielleicht für ein Jahr oder vielleicht sogar für immer. Dich nicht um den Kummer und das Leid zu scheren, das du mit deinen unbedachten Manövern anrichtest. Das ist grausam, du Xanthippe von einer Ehefrau.« Er ließ ihre Hände los und stieß sie angewidert von sich.
Eirik weiß Bescheid. Endlich drang die Botschaft durch Eadyths benebelten Verstand. O Gott, wird er mir jetzt je wieder verzeihen?
»Ich werde Gravely fassen. Wir wissen jetzt, wo er steckt. Endlich. Und ja, mein hinterlistiges Eheweib, ich denke, ich bin der Aufgabe gewachsen, auch wenn du es nicht glauben magst.«
»Eirik, ich habe an deinen Fähigkeiten nie …«
Er hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Nichts, was du jetzt sagen könntest, wird mich deine Handlungsweise je vergessen lassen. Versuch also erst gar nicht, sie zu entschuldigen. Und nimm es Britta nicht krumm, dass sie uns deinen schwachsinnigen Plan gestanden hat. Es war unfair von dir, sie in diese Angelegenheit hineinzuziehen.«
Eadyth nickte und rang besorgt die Hände. »Ich habe Angst um dich, Eirik. Alles, was ich getan habe, geschah aus Sorge um dich und Godric.«
»Ich will nichts von dir, Eadyth. Weder deine Angst noch deine Zuneigung.« Er trat vor sie hin und stach ihr förmlich seinen Zeigefinger ins Gesicht. »Du wirst dieses Zimmer nicht verlassen, bis ich zurück bin oder du die Nachricht erhältst, dass Steven von Gravely keine Gefahr mehr darstellt. Muss ich dich an das Bett fesseln? Oder eine Wache vor der Tür aufstellen?«
Sie schüttelte den Kopf, und Tränen der Hoffnungslosigkeit liefen über ihre Wangen.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie, als er sich abwandte und ging.
»Das interessiert mich nicht«, entgegnete er mit ausdrucksloser Stimme und ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.
Eirik weigerte sich, an Eadyth und ihren schmerzlichen Vertrauensbruch zu denken, als er auf Steven von Gravelys Unterschlupf zuritt. Er musste seine ganze Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrieren. Tykir und Sigurd begleiteten ihn, zusammen mit drei Dutzend schwer bewaffneter Männern, alle hoch zu Ross.
Als sie sich auf sicheren Umwegen der heruntergekommenen Festung näherten, gab Eirik den Männern ein Zeichen, sich in vier Gruppen aufzuteilen und die Burg, die schwer bewacht zu sein schien, von allen Seiten zu umzingeln. Betreten würde er sie allein, von hinten, während Sigurd für Ablenkung am Haupttor sorgte.
Eirik band sein Pferd in einiger Entfernung an einen Baum und schlich vorsichtig zur hinteren Burgmauer. Sie war nicht so gut bewacht wie die vordere, da es dort keinen Eingang, sondern nur solide Steinmauern gab. Er wartete, bis die patrouillierende Wache vorbeigegangen war, und rechnete sich aus, dass er nur wenige Minuten hatte. Er warf ein am Ende mit einer Schlaufe versehenes Seil hinauf und hoffte, dass es sich an einer der Zinnen verfing. Aber es gelang erst nach drei Versuchen.
Er hörte Geschrei und das Klirren von Metall in der Ferne und wusste, dass seine Männer versuchten, den Haupteingang zu stürmen. Schnell zog er das Seil straff und zog sich vorsichtig die Mauer hinauf. Mauern zu erklimmen war etwas, was er und Tykir als junge Männer unter den wachsamen Augen seines Großvaters unzählige Male geübt hatten. Es war ein Spiel, das sie sehr schnell zu beherrschen gelernt hatten. Er betete zu Gott, dass diese Geschicklichkeit ihm auch heute zugutekommen würde.
Es gelang ihm, nach oben zu kommen, wo er augenblicklich feststellen musste, dass er sich in Gefahr befand. Zwei von Gravelys Wachen kamen fluchend aus zwei verschiedenen Richtungen auf ihn zu. Eirik zog sein Schwert und setzte einen der Männer mit einem einzigen Hieb gegen seinen enormen Bauch außer Gefecht. Der andere war ein ebenbürtigerer Gegner, und Eirik konnte ihm nur ein paar geringfügige Verletzungen an Oberarmen und Schenkeln beibringen. Als Eirik vor einem besonders heftigen Angriff zurückwich, stolperte er über die Beine des gefallenen Soldaten und wurde mit dem Rücken gegen die Wand des Mauergangs getrieben.
»Wer seid Ihr?«, knurrte der stämmige Soldat, während er die Klinge seines Schwerts so fest an Eiriks Kehle presste, dass sie seine Haut aufriss. »Kommt Ihr aus Ravenshire?«
Eirik antwortete nicht und spürte, dass er blutete und sich die Klinge noch tiefer in seine Haut bohrte. »Dann bereitet Euch darauf vor, Eurem Schöpfer zu begegnen«, drohte die Wache.
Eirik schickte schon ein stummes Stoßgebet zum Himmel, weil er sich dem Tode nahe glaubte, aber dann erkannte er, dass Gravely wieder einmal entkommen würde, und versteifte sich in grimmiger Entschlossenheit. Mit seinem Rachedurst entsprungener neuer Kraft versetzte er dem Soldaten einen kräftigen Tritt in den Unterleib. Als diesem vorübergehend vor Schmerz der Atem stockte, schossen Eiriks beide Arme hoch und prallten gegen den breiten Oberkörper. Sekunden später lag der Mann, Eiriks Schwert in seiner Brust, mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden und folgte seinem Kameraden in den Tod. Mit angewidertem Gesicht zog Eirik seine Klinge aus dem Leib des Mannes und wischte sie schnell an dessen Tunika ab.
Dann drehte er sich um und fuhr fast aus der Haut.
Mit einem breiten Grinsen lehnte Tykir an der Wand des Mauergangs. »Na, da bin ich aber froh, dass ich dich nicht retten musste.«
»Verdammt noch mal, Tykir, was machst du hier? Du solltest doch bei Sigurd bleiben.«
»Glaubst du, ich würde dich ohne mich an deiner Seite eine Mauer hinaufklettern lassen? Ich war immer der Sieger bei diesem Wettbewerb.«
Eirik schüttelte den Kopf über Tykirs Frotzeleien, aber er wusste, dass sich hinter dem unpassend erscheinenden Humor seines Bruders nur aufrichtige Sorge um sein Wohlergehen verbarg. Eirik hätte das Gleiche für Tykir getan.
Kurz darauf lagen Dutzende von Gravelys Männern tot oder dem Tode nahe im Burghof, im großen Saal und auf den Gängen, aber vom diabolischen Herrn der Burg war nirgendwo etwas zu sehen.
Als Eirik einen Raum nach dem anderen durchsuchte, fand er schließlich in einem abgelegenen Zimmer Godric. Nachdem er den gefesselten Jungen befreit hatte, klammerte der Kleine sich weinend an ihn. Er war so verängstigt, dass er außerstande war, etwas zu sagen. Doch abgesehen von seiner Panik schien der kleine Junge unverletzt zu sein. Vielleicht hatte Eadyth recht gehabt, als sie Britta gesagt hatte, dass Steven dem Kind nichts antun würde.
Eirik nahm Godric auf den Schoß und fragte ihn behutsam: »Weißt du, wo Gravely ist?«
Ein heftiges Zittern ging durch Godrics schmalen Körper, und er umklammerte Eirik sogar noch fester, aber sein Blick glitt unwillkürlich zu einem hinter geschlossenen Vorhängen verborgenen Alkoven auf der anderen Seite des Raums. Scheinbar völlig ruhig gab Eirik Tykir mit den Augen ein Zeichen und drückte ihm dann den Jungen in die Arme. »Vielleicht suchst du Godric besser etwas zu essen, bevor wir ihn nach Hause bringen. John und die anderen Kinder werden ihn bestimmt wie einen Helden feiern.« Und damit schob er Tykir und das Kind zur Tür hinaus und zog sein Schwert aus seiner Scheide und seinen Dolch aus seinem Gürtel.
Als er den Vorhang aufriss, sprang Gravely mit einer Streitaxt in der Hand aus dem Alkoven. Seine weit aufgerissenen blauen Augen hatten einen irren Blick, und aus seinen Mundwinkeln rann Schaum.
»Endlich!«, schrie Steven, und da der Überraschungseffekt ihm einen Vorteil gegenüber Eirik verschaffte, schwang er die Axt über dem Kopf und versuchte, Eirik einen Schlag mitten ins Gesicht zu verpassen. Eirik duckte sich und wich dem Hieb noch aus, konnte aber nicht verhindern, dass die Klinge ihm ein Stück Fleisch aus der Schulter riss und fast bis zum Knochen vordrang. Fluchend ignorierte er den Schmerz, so gut er konnte, parierte den nächsten Angriff seines Gegners und schaffte es, Steven am Oberbauch zu verletzen.
Trotz der Krankheit, die Stevens einst so stattlichen Körper verfallen ließ, war er immer noch ein starker Krieger, der sich Eiriks ausgezeichneter Fechtkunst gegenüber behaupten konnte, oder zumindest doch zu Anfang. Wieder und wieder attackierten sie einander. Schließlich ließ Steven blitzschnell seine Axt fallen und griff nach einem Schwert. Aber da begannen die verheerende Wirkung seiner Krankheit ihren Tribut zu fordern, und Gravelys Durchhaltevermögen ließ deutlich nach. Er wurde unaufmerksamer und ungeschickt.
Und Eirik verlor den Geschmack am Töten. Oh, natürlich würde er seinen ärgsten Feind auf jeden Fall vernichten. Er musste es tun, und wenn auch nur, um Stevens sinnlose Angriffe auf jeden, der seinen Weg kreuzte, zu beenden. Aber der Mann war ganz offensichtlich völlig unzurechnungsfähig. Seine Augen waren unnatürlich weit geöffnet und glasig von einer ungeheuren Gier nach Blut. Sein Mund war schlaff und zitterte wie der eines alten Mannes. Vielleicht war er schon immer verrückt gewesen und hatte es nur hinter einem ruhigen Äußeren verborgen.
Wie kann ich Mitleid mit einem Mann empfinden, der mich so verletzt hat?
Weil du weißt, wie furchtbar er gelitten haben muss, um diesen bedauernswerten Zustand zu erreichen, beantwortete er sich seine Frage.
Mit einem kräftigen Stoß stieß Eirik ihn gegen die Wand und hielt sein Schwert horizontal an Stevens Kehle. »Es ist vorbei, Gravely«, knurrte er. »Endlich wird deine Niedertracht ein Ende finden.«
Steven lachte meckernd. »Ja, aber wirst du mit meinem Tod leben können, Bruder?«
Ein kalter Schauder lief über Eiriks Rücken. Eine unheilvolle Stille legte sich über den Raum. Er hätte wissen müssen, dass Steven selbst im Angesicht des Todes einen Weg finden würde, ein Trümmerfeld zu hinterlassen.
»Hör nicht auf ihn, Eirik«, rief Tykir hinter ihm. »Bring den Mistkerl einfach um.«
Gravely lachte wieder und versuchte nicht einmal mehr sich zu befreien. »Hast du dir noch nie Gedanken über die Ähnlichkeit zwischen uns gemacht, Eirik? Schwarzes Haar. Blaue Augen. Die gleiche Größe. In deinen Adern fließt das gleiche Blut wie in meinen, Bruder. Und das weißt du.«
»Das kann nicht sein«, widersprach Eirik und schüttelte den Kopf.
»Dein Vater schwängerte meine Mutter, als es ihr einmal gelang, ihrem Gemahl, dem berüchtigten Graf von Gravely, den die meisten Leute für meinen wahren Vater gehalten haben, zu entkommen. Sie ist nach Gravely zurückgekehrt, als sie erfahren hat, dass sie ein Kind erwartete.«
Eirik schüttelte den Kopf, um Stevens Behauptung zurückzuweisen, und hielt seine Schwertklinge noch immer an die Kehle seines Feindes.
Steven fuhr mit seiner unglaublichen Geschichte fort. »Mein Vater hat mich nie gewollt, und als meine Mutter und kurz darauf auch er verstarben, ließen sie mich im Alter von zehn Jahren in der Obhut des infamsten Mannes ganz Britanniens zurück – in Jeromes, des Kastellans der Gravelys. Und mein Bruder Elwinus war kaum den Windeln entwachsen. O Gott«, stöhnte er und verdrehte die Augen über irgendeine Erinnerung, die so schmerzlich sein musste, dass er es nicht einmal zu ertragen schien, daran zu denken.
Dann schien Steven sich zu beruhigen. Für einen Moment lang völlig klar im Kopf, blickte er Eirik ruhig in die Augen und flüsterte mit gebrochener Stimme: »Bruder …« Gleichzeitig warf er seinen Kopf nach vorn und schlitzte sich mit voller Absicht die eigene Kehle auf. Blut spritzte nach allen Seiten, aber Eirik, der vor Entsetzen wie gelähmt war, hielt Steven immer noch an seinen Armen in aufrechter Position.
Und Eirik konnte auch nichts sehen, weil seine Augen plötzlich ganz verschleiert von Tränen um seinen nichtswürdigsten Feind waren.