Der Arbeiter war durch die schmale eisengraue Tür des Seiteneingangs wieder in der Hühnerhalle verschwunden. Hufeland folgte ihm wütend mit Siebenmeilenschritten, der kleine Kuczmanik keuchte hinterdrein. Sie ignorierten die Warnung ›Zutritt verboten‹ und betraten einen fensterlosen, neonbeleuchteten Vorraum. In hohen Metallregalen linkerhand standen allerlei Gerätschaften, an der Wand gegenüber lehnten zerrissene, hellbraune Papiersäcke, offenbar schadhaft gewordene Futtermittel für die Tiere.
Hufeland fasste sich unwillkürlich an die Kehle. Der Pestgestank, der über ganz Vennebeck lag – hier verdichtete er sich plötzlich zu einer aggressiven säuerlichen Mischung. Wie Magensäure, die sich in ein ätzendes Gas verwandelt hatte.
Kevin Kuczmanik schien der Gestank weniger auszumachen. Ihn plagte die sommerliche Temperatur, die in dem Raum herrschte.
»Das sind ja mindestens fünfundzwanzig Grad hier drinnen!«, schimpfte er. »Wenn nicht sechundzwanzig, siebenundzwanzig.«
Kevin nahm für die Feinjustierung seiner Schätzung sogar den Zeigefinger als Thermometer zu Hilfe. Das sah wirklich komisch aus, und Hufeland lächelte hinter dem Ärmel seines Mantels, den er sich vor die Nase hielt.
Eine weitere grau gestrichene Eisentür wartete auf sie. Und nach dieser Vorhölle ahnten sie, dass sich dahinter wohl kaum das Hühnerparadies von Vennebeck befinden würde.
Sie betraten eine Halle, die wie das Universum keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Und kein Licht, das von außen hereinfiel. Meterlange Neonröhren ersetzten das, was im All die Sterne machen, ähnlich dunkel war – wegen der riesigen Dimension – das Ergebnis.
Der Gestank war seltsamerweise weniger brechreizend als im Vorraum. Zu irgendetwas mussten die Lüftungsschächte unterm Dach ja gut sein. Dafür erreichte die Temperatur jetzt tropische Ausmaße. Hufeland fühlte sich sogleich an die feuchte Wärme im Tropenhaus des Allwetterzoos erinnert, den er mal mit Grit besucht hatte. Gott, das war nun auch schon wieder wie viele Jahre her?
Hinter einem breiten Gang für die Arbeiter mit ihren Transportmitteln sahen sie buchstäblich nur noch Huhn. Auf einer grüngräulichen Schmierage krochen oder glitschten vielfach verdreckte, ehemals vielleicht weiß gefiederte Kreaturen am Boden. Mit echten Hühnern, wie Hufeland sie sich vorstellte, hatten sie nur noch den Namen gemein. Es gab einzelne Exemplare, die ihm ins Auge stachen, weil sie wie gefederte Fußbälle oder nackt und scharlachrot aussahen. Oder solche, die drei Beine hatten, das dritte thronte auf bizarre Weise hoch oben auf dem Hinterteil. Eigentlich Grauen erregend aber war die ungeheure Masse in einem geradezu physikalischen Sinne: Dicht an dicht verschmolzen die Tiere vor seinen Augen zu einem einzigen gefiederten Teppich, der zuckte, sich ruckartig bewegte, mal in diese, mal in jene Richtung verschob und vor allem einen unvorstellbaren Lärm verursachte. Das war kein Gackern, kein Krähen oder was auch immer man von dieser Spezies als arttypische Lebensäußerung hätte erwarten können. Sondern einfach nur infernalischer Lärm. Wie eine Mischung aus hysterischem Jodeln und dem Gellen, das man von Totenklagen aus arabischen Ländern kannte.
In Längsreihen zogen sich die Futtertröge und Wasserspender durch die ganze Halle. Die Tröge dienten zugleich als Hühnergrab. Deutlich erkennbar lagen darin auch tote oder halbtote Küken, auf denen ihre (noch) lebenden Artgenossen wie versessen herumpickten. Als wollten sie sie wieder zum Leben erwecken oder endgültig in den Hühnerhades befördern.
»Ich dachte immer, Hühner wären Vegetarier«, schrie Kevin Hufeland zu. Er war ganz blass geworden und stand sichtlich unter Schock.
Tote Tiere gab es aber nicht nur in den Trögen, sondern eigentlich überall. Etliche der verendeten Vögel hatten sich dermaßen fett gefressen, dass sie den Weg zurück zum Wasserspender offenbar nicht mehr geschafft hatten. Manche waren nur wenige Zentimeter davor verdurstet und krepiert.
Kevin lief inzwischen der Schweiß in Strömen von der bleichen Stirn. »Manche Viecher haben nicht mal mehr Federn!«, brüllte er gegen den Lärm an. »Sehen aus wie Nacktmulle.«
Hufeland überlegte, wie Nacktmulle aussahen, und suchte in seiner Erinnerung wieder nach Bildern aus dem Allwetterzoo.
In diesem Moment sah er den Mann, der vorhin die Hühner im Hof ›entsorgt‹ hatte. Er kam aus einem Nebenraum, auf dessen Tür etwas schief hängend das Schild Personal angebracht war. Schluff, schluff, schluff, gleichmütig stiefelte er jetzt durch den Hühnerteppich. Er fischte so viele tote und verendende Tiere aus der breiigen Masse aus Kot und Streu, wie Hühnerbeine in seine zwei Plastikhände passten. Mit der schlaff baumelnden Beute, vier oder fünf Stück in jeder Hand, bahnte er sich den Weg zurück zu seiner Schubkarre und warf die Kadaver-Sträuße hinein.
Wo sie anschließend landen sollten, das hatten Hufeland und Kuczmanik bereits gesehen.
»Ich glaube, mir wird schlecht, Herr Hufeland«, sagte Kevin. »Ich muss hier raus.«
»Gut«, sagte Hufeland, »warte draußen. Ich erledige das hier.«