Zwei, drei Sekunden lang hing Hufeland dem Örtlichen am Hals wie eine Seemannsbraut, dann sprang Kevin Kuczmanik hinzu und griff seinem Chef von einer Seite unter den Arm, um ihn mit Wagner zusammen ins Haus zu schleppen. Es dauerte freilich eine Weile, ehe die inzwischen still gewordene und offenbar eingeschlafene Witwe Wagners Dauerklingeln und Kevins aufgeregtes Rufen zur Kenntnis nahm. Noch immer ganz in Pink (der Morgenmantel) und mit verheulten Augen, deren verlaufenes Make-up dunkle Alice Cooper-Schlieren über ihre Wangen zog, öffnete sie die Tür und ließ das keuchende Männer-Trio widerwillig eintreten. Wagner und Kuczmanik schleppten den großen, schweren Mann durch den Flur hinüber ins Wohnzimmer und kippten ihre Last auf dem schwarzen Ledersofa ab.
»Is ihm schlecht, oder was?«, krächzte Silke Kock vom Türbogen aus, unter dem sie stand. Sie erhielt keine Antwort. Wagner riss sein Handy aus der Gürteltasche unter der blauen Uniformjacke und alarmierte den Notdienst.
Hufeland bekam das alles nur schemenhaft mit. Er lag in Embryonalhaltung auf dem Sofa, das Gesicht ins weiche Leder gedrückt, die Hände gegen den Schritt. Tief in seinem Unterleib pulste der Schmerz. Ihm war schlecht, auf seiner Zunge machte sich ein metallischer Geschmack breit, sein ganzer Körper fühlte sich an wie vergiftet. Was, zum Teufel, bedeutete das? Fühlte er sich so an, der Unterleibskrebs des Mannes im vermeintlich besten Alter? Oder hatte das alles etwa mit der … örtlichen Pestilenz zu tun? An die zwar die Vennebecker seit Jahren gewöhnt waren, bei ihm aber Blitzvergiftung auslöste? Absurde Vorstellung … aber Gott, was für ein Schmerz!
Er spürte, wie Kevin Kuczmanik ihm mitfühlend seine schwere Patschhand auf die Schulter legte. »Arzt kommt gleich, Chef«, sagte er bloß. Geradezu einsilbig für seine Verhältnisse. Der Junge war charakterlich wirklich in Ordnung.
Die Witwe verzog sich wieder in den hinteren Teil des Hauses, und kurz darauf klingelte bereits das Notarztteam an der Tür. Drei Männer, eine Frau in alarmroten Westen. Sie sahen eher aus wie Straßenarbeiter.
Die Ärztin blickte ihm prüfend in die Augen, interviewte ihn in sachlichem, ruhigem Ton zu seinen Beschwerden, zählte unterdessen seinen Puls, fühlte seine Stirn und sagte, sie brächten ihn jetzt in das nächstgelegene Krankenhaus, um ihn dort in der Notaufnahme zu untersuchen.
»Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?«, fragte sie ihn schließlich.
Hufeland kam sich vor wie in einer Zeugenvernehmung, er nickte und winkte wie mit letzter Kraft Kevin Kuczmanik zu sich heran. Kevin beugte sich über ihn, und Hufeland zerrte an dessen Mantelkragen, bis sich Kevins Ohr ganz dicht an seinen Lippen befand. »Mach hier weiter, Kevin«, flüsterte er ihm mit heiserer, vom Schmerz verzerrter Stimme zu. »Fühl dem Wagner ordentlich auf den Zahn, hörst du! Nicht locker lassen, Junge!« Kevin nickte eifrig. Hufeland löste den Griff und drückte ihm seinen Schlüsselbund in die Hand. Und lauter, sodass alle ihn verstehen konnten, sagte er: »Tu mir den Gefallen und fahr meinen Wagen später nach Hause, Kevin, ja?« Wieder nickte Kevin beflissen.
Hufeland fiel kraftlos zurück aufs schwarze Leder. Die drei Männer hatten inzwischen eine Trage ausgeklappt, hievten ihn mit geschickten, starken Armen darauf und verließen mit ihm das Haus. Noch in dem mit allem Hightech ausgestatteten Rettungswagen zapften sie ihm literweise (so kam’s ihm vor) Blut ab, pflasterten seinen Schädel und seine Brust mit Elektroden und errechneten wahrscheinlich, wie lang er noch zu leben hatte: zwei Stunden, zwei Tage, zwei Monate oder Jahre? Er tat sich selbst ziemlich leid in diesem Moment, und der gemeine Schmerz zwischen seinen Beinen gab ihm auch volles Recht dazu.