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Ein Toter als Grabschmuck. Originell, aber kein schöner Anblick. Trotz der vollschlanken Tanne hinter dem XXL-Grab, auf dem die Leiche lag. Volle drei Meter strebte sie hinauf in den grauen Himmel. Wohl, um schon mal die Wunschrichtung des armen Sünders vorzugeben, der mit einem übereifrigen Bein bereits die freie Seite des Doppelgrabs touchierte. Es war eingefasst (das Grab) von niedrigen grauen Granitsteinen und mit pflegeleichten weißen Kieseln bestreut wie ein Kuchenteig mit Puderzucker. Ein magerer Strauß rosafarbener Blumen mit geknickten Köpfen (Astern, Hyazinthen, Begonien oder eine andere Sorte der üblichen Verdächtigen), in einer grünen, hochstieligen Vase, und ein Ewiges Licht in einer wuchtigen Metalllaterne, das womöglich schon ewig nicht mehr brannte, weil ihm dazu die Kerze fehlte, waren teilweise unter dem massigen Körper des Opfers begraben worden. Dafür prunkte aufrecht, breitschultrig und schwarz poliert ein mächtiger Stein am Kopfende des Grabs. Die goldene Inschrift († Helene Kock 1939 – 2008) schwebte hoch genug, um darunter ausreichend Platz für einen Grabnachbarn zu lassen. Der passende Bewerber lag schon an Ort und Stelle. Das schmatzende Geräusch und der blutige Anblick, als er den Kopf des Toten wendete, um das Mordwerkzeug, den Unkrautstecher im Auge des toten Betrachters, zu begutachten, drehte ihm, zusammen mit dem Pestgestank in der Luft, endgültig den Magen um.

Er erhob sich rasch wieder, was Kevin Kuczmanik als Zeichen deutete, sich wieder an seine Seite zu klemmen. Von ihm erfuhr Hufeland jetzt, dass und wie der Tote zwecks ärztlicher Untersuchung bereits zuvor gewendet und vom Forensiker wieder in seine ursprüngliche Position zurückgelegt worden war.

»Klingt, als hätte der Doktor ihn grillen wollen«, grummelte Hufeland. Solche Manipulationen am Tatort gefielen ihm nicht. Zu leicht wurden dadurch Details verändert.

»Es ging ihm um die Verlagerbarkeit der Totenflecken, hat er gemeint«, erklärte Kevin.

»So. Und wo ist er jetzt, der Herr Rechtsmediziner?«

»Doktor Tenberge? Der ist schon wieder weg. Wenig Zeit«, sagte Kevin schulterzuckend.

»Ach, Tenberge war das. Na, prima«, grunzte Hufeland. Er hatte mit Tenberges Akkorduntersuchungen schon in früheren Fällen ungute Bekanntschaft gemacht. »Ich hoffe doch, es wurden entsprechende Bilder gemacht, bevor die Leiche gewendet wurde.«

»Na klar, von der Spusi gefilmt«, sagte Kuczmanik leichthin und lieferte ab, was der Arzt gesagt hatte: »Todeszeitpunkt vor mindestens zwölf Stunden, der Doktor schätzt, spätestens gestern Abend gegen zehn, vermutlich sogar schon vor neun könnte es passiert sein. Genaues können ihm die Fliegen sagen.«

»Was, welche Fliegen?«

»Die Schmeißfliegen.«

»Ach so, bei der Obduktion.« Hufeland begriff. Die entomologische Untersuchung der Schmeißfliegenlarven war inzwischen die sicherste Methode zur Bestimmung des Todeszeitpunkts. Behaupteten die Entomologen.

Möllring, Chef der Spurensicherungsgruppe, trat jetzt auf sie zu. Sein Kondom hatte er bereits halb ausgezogen. Er erinnerte Hufeland jetzt eher an ein Ganzkörperspermium. Vielleicht war daran seine polierte Glatze schuld. Oder sein bleiches, schlaffes Milchbreigesicht (und ein Film von Woody Allen). Oder die Tatsache, dass sie sich nicht ausstehen konnten, er und Möllring. Hufeland hatte Möllring vor zwei Jahrzehnten die Frau ausgespannt. Grit, die von Hufeland nun ebenfalls schon wieder seit Jahren getrennt lebte. Um zum Spermium zurückzukehren, zu Möllring. Ausgerechnet.

Der Spurensicherer beantwortete Hufelands grußlos fragenden Blick mit einem mürrischen: »Fertig mit ihm. Ihr seid dran.« Mit einer beiläufigen Bewegung seines Daumens gab er den Toten offiziell frei.

Leichter Wind kam wieder auf und trieb ihnen allen eine faulige Brise in die Nasen. Jeder verzog das Gesicht wie unter Schmerzen auf die ihm eigene Weise.

»Was zum Henker ist das für ein Gestank?«, schnaubte Hufeland und warf einen unwirschen, irritierten Blick auf den Toten.

»Er ist es jedenfalls nicht«, bemerkte Möllring und deutete mit dem fliehenden Kinn ebenfalls auf die Leiche.

»Wie man’s nimmt«, mischte sich auf einmal Wagner ein. Er hatte sich der Gruppe von hinten unauffällig genähert und stand jetzt neben Kuczmanik.

»Was soll das heißen?«, warf Hufeland den großen Pferdekopf zu ihm herum und blitzte ihn an.

Der Polizist setzte eine Leidensmiene auf. Sie passte zur Jahreszeit, zum Friedhof und zur Leiche wie der Unkrautstecher, der ihr im Auge steckte. »Es ist Kocks Hühnerfabrik, die so stinkt«, sagte er mit hörbar tie-fergelegter Stimme.

»Hühnerfabrik?«, wiederholte Hufeland. »Was soll das sein, eine Fabrik, in der Hühner schuften?«

»So ungefähr«, gab Wagner ungerührt zurück.

»Eine Hühnermast, ja? Hier in Vennebeck?«

»Ja. Am Ortsrand. Also gleich … na, egal.«

»Nein, nicht egal, raus damit, Wagner!«

»Gleich gegenüber von meinem Haus.«

»Oh. Verstehe.«

»Gar nichts verstehen Sie, Herr Kommissar«, erwiderte Wagner bitter. »Außerdem spielt das keine große Rolle, wo man in Vennebeck wohnt.«

»Nicht?«

»Nein. Weil der Gestank überall ist. In ganz Vennebeck. In jeder Ecke, wirklich überall.«

Hufeland begriff. Eine böse Ahnung von der Dimension dieses Falls kroch in ihm hoch.

Kevin Kuczmanik hielt seine fleischige Nase in den Wind und schnupperte theatralisch wie ein Hund. »Stimmt«, sagte er. »Riecht irgendwie nach Huhn.«