KAPITEL 3

Die Gelegenheit dazu bot sich schon am folgenden Vormittag. Während seine eigenen Beschwerden durch die Salbe, mit der auch er sich kräftig eingerieben hatte, über Nacht vollständig verschwunden waren, laborierte sein Freund weiterhin an seinem wunden Sitzfleisch. Mit gequälter Miene und trübem Blick saß Praunfalk beim Morgenmahl, das sie diesmal gemeinsam im großen Esszimmer des Palais einnahmen. Auch nachdem man den ersten der drei Gänge serviert hatte, war seine Laune nicht besser geworden. Trotz der eingedämpften jungen Hühner, die nach Zitronen und Sellerie schmeckten, dem rauchig-würzig duftenden Spanferkel, der mit Maroni und Quitten gefüllten gebratenen Gans und der süßlich-herb gewürzten warmen Pastete von einer Schnepfe sah er so übertrieben leidend drein, dass Božena Gaiswinkler ein verschmitztes Lächeln zuwarf, als sie ihnen eine weitere Kanne mit verdünntem Wein auf den Tisch stellte.

„Ich möchte mir noch einen Tag Schonung auferlegen“, erklärte Praunfalk, „aber ich benötige deine Anwesenheit nicht. Geh ruhig in die Stadt.“

Und so wanderte Matthias Gaiswinkler wieder allein durch die engen, verwinkelten Gassen der Kleinseite, diesmal allerdings hinauf zum Hradschin, der kaiserlichen Burg. Hoch oben am Berg thronte diese Ansammlung von Gebäuden – Häuser und Paläste, wie ein schützender Wall aneinandergereiht. Darunter breiteten sich in einem weiten Halbkreis Gärten aus. Vom Zentrum der Bauwerke blickte mächtig der Veitsdom auf ihn herab, die Krönungskirche der böhmischen Könige. Wahrlich eine der gewaltigsten Kirchen, die er je gesehen hatte, und das, obgleich sie noch keineswegs fertiggestellt war. Wie viele Generationen würden daran wohl noch bauen?

Gaiswinkler hatte bei seinem Studienaufenthalt in Italien Rathäuser, Kathedralen und den Dogenpalast in Venedig besucht, daheim in der Steiermark kannte er etliche Burgen, so etwa Strechau, dessen Gefüge sich auf einem hohen Bergkamm erstreckte. Einer derart imposanten Anlage war er jedoch noch nie nahegekommen. Alles schien ihm auch noch viel größer und beeindruckender als die Hofburg in Wien, und er glaubte zu verstehen, warum sich der Kaiser vor einigen Jahren entschlossen hatte, seinen Hof von dort nach Prag zu verlegen. Gewiss gab es hier mehr Platz für die sagenumwobenen Sammlungen, über die so viel gesprochen wurde, die aber noch kaum jemand zu Gesicht bekommen hatte, da Rudolf der Ander seines Namens seine Schätze nur wenigen Auserwählten zeigte. Lediglich einem engen Kreis an Vertrauten gewährte er Zugang. Vor allem, so erzählte man sich, sei der Kaiser gar nicht gewillt, hochrangige Leute wie Fürsten des Reiches, Botschafter anderer Länder oder Adelige in seine Kunst- und Wunderkammern einzulassen, wenn sie nicht Verständnis und Empfinden für diese aufbrachten. Sachverstand zählte für ihn mehr als die äußere Stellung. Er sei, so sagte man weiter, ein Mann, der nach der Weisheit suchte, der sich mit der Astronomie, dem Schicksalslauf der Sterne und der Alchemie, die zu großen Erkenntnissen über die Natur beitrug, beschäftigte und sich ganz in dieser seiner Welt verlieren konnte. Böse Zungen behaupteten dabei auch, dass ihm seine Vorlieben für Kunst und Wissenschaft viel wichtiger seien als die Politik, die er häufig vernachlässigte.

Wie gerne hätte Gaiswinkler diesen seltsamen Kaiser einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch ihm war bewusst, welch beträchtlicher Abstand in Rang und Zeremoniell ihn von diesem Wunsch trennte. Nicht einmal sein adeliger Vorgesetzter Praunfalk würde es vermutlich schaffen, bis zu Seiner Majestät vorzudringen, sondern irgendwo in der höheren oder gar der mittleren Verwaltung des Hofes hängenbleiben. Und nur mit einem der Höflinge sprechen können, der in der Hallamtsangelegenheit, derentwegen sie nach Prag gekommen waren, letztendlich eine Entscheidung treffen würde.

Der junge Salzamtsgegenschreiber, der wie die meisten seiner Zeitgenossen an dem bestehenden politischen System nichts Grundlegendes auszusetzen hatte, empfand solche Dinge dennoch als ungerecht. Die Verschiedenartigkeit der Menschen entsprach nicht den Vorstellungen der Religion. Las man doch in der Bibel nichts davon, dass die Adeligen von größerem Wert waren als die Bauern oder die Bürger der Städte, und er als frommer Lutheraner konnte nur das akzeptieren, was in der Bibel stand. Luther sprach zwar von der „gottgewollten Obrigkeit“, aber bei aller Glaubensfestigkeit, da fand er den Reformator, den er glühend verehrte, etwas inkonsequent. Denn von dieser gottgewollten Obrigkeit war in der Bibel nicht die Rede. Auch wenn Sätze wie etwa im Markusevangelium 12, 13–17, „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, eine gottgewollte Ordnung der Welt nahelegten.

So vor sich hin sinnend war er auf der Schlossstiege schon fast beim Burgtor angekommen. Es lag im östlichen Bereich der Residenz, unter dem Schuldgefängnis, in einem etliche Jahrhunderte alten, rechteckigen Turm, dessen geschwärzte Mauern noch die Spuren des letzten Stadtbrandes zeigten. Plötzlich riss ihn ein durchdringendes Geschrei aus seinen Gedanken: „Penelope hierher! Du mannstolles Weibsstück. PENELOPE, Mistvieh, komm her!“

Er blickte auf und sah einen großen, schwarz-weiß gefleckten Hund in seine Richtung rennen, dem stolpernd ein winziger Mensch mit krummen Beinen hinterhereilte. Zunächst hielt er diesen für ein Kind, bis er bei genauerem Hinsehen merkte, dass es sich um einen zwergwüchsigen Erwachsenen handelte. Geistesgegenwärtig sprang Gaiswinkler zur Seite, auf das ausbüxende Tier zu. Es gelang ihm, es am Halsband zu fassen und so lange festzuhalten, bis der Zwerg keuchend bei ihm ankam. Der Mann, der ihm knapp bis zur Hüfte reichte, trug einen seltsamen, zu sechs Zöpfen geflochtenen und mit verschiedenfärbigen Schleifen versehenen Bart. Er war edel gekleidet, in ein seidenes, gelb-grün gestreiftes Wams mit gepufften blauen Hosen und einen roten, pelzbesetzten Mantel. Viele Falten durchzogen sein derbes Gesicht, doch zugleich besaß er joviale Züge und einen verschlagenen Blick, wodurch sich sein Alter nur schwer schätzen ließ.

„Euch gebührt großer Dank für Eure Hilfe, mein Herr“, sagte der kleine Mann, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. „Diese Hündin zieht mir den letzten Nerv. Sie gehört einem Bekannten, der Bereiter im Stall des Kaisers ist. Ich führe sie von Zeit zu Zeit spazieren. Ursprünglich war Penelope ein freundliches und gehorsames Tier. Seitdem jedoch einmal der rote Straßenköter, der sich unten in der Malá Strana herumtreibt, in den Burghof gekommen ist und sie besprungen hat, ist sie wie ausgewechselt. Wir haben den Köter damals verscheucht, aber sie ist ihm nachgelaufen. Nun reißt sie sich jedes Mal los, wenn sie ihn außerhalb der Burganlage wittert, um zu ihm zu stürmen. Und ich muss dieses rasende Hundeweib dann einfangen. Aber ich bitte um Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Thommerl Niderthor. Ich bin einer der Hofzwerge des Kaisers.“

Gaiswinkler nannte ebenfalls seinen Namen, und da Thommerl mit der widerspenstigen Hündin wieder zurück zur Burg spazierte, um sie bei ihrem Besitzer abzuliefern, gingen sie ein Stück des Weges gemeinsam. „Gestattet, wenn ich Euch etwas frage, aber ich bin ein überaus neugieriger Mensch. Welche Aufgaben habt Ihr bei Hof?“, erkundigte er sich in das Gekläffe von Penelope hinein.

„Nun, wie Ihr vielleicht wisst, wurde unser Kaiser als Kind in Spanien erzogen. Dort sind Zwerge am Hof sehr begehrt. Doch nicht nur Leute, die so klein sind wie ich, werden gesammelt. Auch andere, die nicht so aussehen wie das, was den Menschen üblicherweise äußerlich eigen ist, holt man sich herbei. Zum Beispiel riesenhafte Gestalten oder Haarmenschen – das sind jene, die ein Fell wie ein Tier tragen. Und oft erfreut man sich auch an entstellten Kreaturen“, antwortete Thommerl, während er mit aller Kraft versuchte, von der Hündin nicht in die andere Richtung gezogen zu werden. „Ich stamme aus Tirol und bin dort auf einem Bauernhof aufgewachsen. Wie sich recht früh zeigte, blieb ich immer so klein, wie ich mit sechs Jahren schon war. Für die schwere Arbeit am Hof meines Vaters war ich unbrauchbar. So war die Familie glücklich, als mich eines Tages ein Adeliger, der dem Landesfürsten etwas Gutes tun wollte, entdeckte und zum Hofzwerg machte. Vielleicht klingt es nicht ganz so erstrebenswert, wenn man wegen seines Aussehens nur wie ein Gegenstand betrachtet wird. Aber man muss wenigstens keine schwere Arbeit verrichten. Man ist allseits beliebt. Dem Herrscher gegenüber kann man sogar Witze über seine Person machen. Er nimmt sie nicht übel, da man eine ähnliche Rolle wie der Hofnarr innehat. Also bin ich mit meinem Leben sehr zufrieden und hoffe – so Gott will – bis ans Ende meines Lebens hier am Hof zu bleiben.“

Nachdem Thommerl vor dem Burgtor noch einige Geschichten über bedeutende Höflinge und Künstler bei Hof geschildert hatte – er schien alles zu wissen, was sich in der Burg des Kaisers abspielte –, fragte er Gaiswinkler nach seiner Herkunft. Ehe der junge Ausseer sich’s versah, hatte er viel von seinem Leben, dem Grund seines gegenwärtigen Besuchs und wer ihm in der Stadt Unterkunft bot, erzählt. Besonderes Interesse schien der Hofzwerg für seinen Gastgeber Heinrich Hoffmann von Grünbühel zu haben. Er erkundigte sich eingehend nach der Tätigkeit, der Familie und sogar nach der Ausstattung des Palais des Adeligen. Dieses Interesse erschien Gaiswinkler eigenartig. Als er sich schließlich freundlich von Thommerl Niderthor verabschiedete, konnte er sich nicht des Eindrucks erwehren, dass er von ihm systematisch ausgehorcht worden war. Zwar gab es nichts zu verbergen, es waren nicht die großen, an den Grundfesten des Reiches rüttelnden Dinge, die er preisgegeben hatte, doch er verspürte ein eigenartiges Gefühl. So kehrte er etwas verunsichert und nicht nur wegen des einsetzenden Regens schnell zurück in sein Quartier.