Im Laufe des Nachmittags hatte sich auch Christoph Praunfalk wieder besser gefühlt. Er spazierte vor dem Abendmahl noch ein wenig durch die aufwendig gestalteten Räume des weitläufigen Palais, warf dabei aber einen weitaus kürzeren Blick auf die reich bemalten Felder der hölzernen Kassettendecken als Gaiswinkler, der die farbenfrohen Darstellungen aus der Pflanzen- und Tierwelt am vorhergehenden Tag eingehend studiert hatte. Kunst und Wissenschaft interessierten ihn im Gegensatz zu seinem Freund sowohl im Allgemeinen als auch hier, in der legendenumwobenen Stadt der hundert Türme, weniger. Sein Interesse lag vor allem darin, in den nächsten Tagen das Machtgefüge bei Hof näher kennenzulernen und, falls möglich, Bekanntschaften zu gewinnen. Denn auf dem Hradschin trafen sich bedeutende Herren aus allen Teilen des Reiches. Nicht nur Adelige aus den böhmischen Ländern, die schon durch ihre Stellung in den Ständen eine besondere Rolle innehatten, ließen sich blicken, auch Edelleute aus den österreichischen Erbländern bis ins ferne Tirol und nach Vorderösterreich, aus den Besitztümern der Habsburger in Süddeutschland und natürlich aus den ungarischen Ländern, wo es durch die lange Grenze sowie den Kriegszustand mit dem Osmanischen Reich beträchtlich viele Probleme gab, kamen immer wieder an den Kaiserhof.
Vielleicht konnte ihm ja sein Onkel dabei behilflich sein, einige Kontakte zu knüpfen? Und so beschloss er, Heinrich Hoffmann von Grünbühel, den er seit seiner Ankunft erst einmal kurz gesehen hatte, da dieser oft auswärts beschäftigt war, im Arbeitszimmer aufzusuchen. Er fand ihn, über viele Papiere gebeugt, an einem großen Schreibtisch nahe dem Fenster, durch das zu dieser Uhrzeit gerade noch genügend Licht zum Lesen fiel.
„Der Teufel soll diesen Papierkram holen. Ich kann nicht und nicht auf meine Güter in der Steiermark heimkehren. Seit Monaten habe ich hier damit zu tun, diesen Streit mit meinem Nachbarn um die großen Felder an der Enns – ohnehin nur saure Wiesen, auf denen man gerade einige Rindviecher weiden kann – zu gewinnen. Aber diese verfluchten Juristen mit ihren komplizierten Verträgen machen mich krank“, meinte Grünbühel mit bitterer Stimme, nachdem Praunfalk ihn begrüßt hatte. „Mein Großvater erzählte mir immer, dass man sich früher einfach etwas ausmachte, sich dann die Hände schüttelte, und damit war alles klar. Niemandem wäre es eingefallen, diesen mündlichen Vertrag zu brechen. Aber heute ist es notwendig, alles in drei Urkunden, die sich meistens widersprechen, aufzuschreiben. Und wegen jeder Kleinigkeit muss man vor Gericht ziehen. Advokat sollte man sein in diesen Tagen. Die Einkünfte aus einer meiner Herrschaften gehen nur für diesen Prozess auf. Aber entschuldige, lieber Neffe, dass mich der Zorn so mitreißt. Wie geht es dir? Schon erholt von dem langen Ritt? Ich glaube, das Wundwerden liegt bei uns in der Familie. Ich bedarf auch jedes Mal nach einer längeren Reise einiger Tage der Schonung.“
„Danke, lieber Onkel, es geht schon wieder. Morgen werde ich mich in der Stadt umsehen und dann möglichst bald mit den kaiserlichen Behörden Kontakt aufnehmen bezüglich der Salinengeschichten in Aussee, die ja der Anlass meiner Reise sind. Kennst du jemanden, der mir Türen öffnen könnte, damit ich die Sache beschleunigen kann und nicht so lange in Prag bleiben muss wie du mit deinem Prozess?“
„Na ja, einige von den Höflingen kenne ich schon. Am besten vermutlich Joachim Freiherr von Eitzing, der mehrere Besitztümer in Niederösterreich hat. Er war im Dienste Kaiser Maximilians II. und machte seine Karriere bei Hof. 1577 wurde er von Kaiser Rudolf II. als Botschafter ins Osmanische Reich geschickt, wo er Sultan Murad III. die Nachricht vom Tode Maximilians und von der Thronbesteigung Rudolfs überbringen sollte. Du wirst dich nicht daran erinnern, aber ich war damals, kaum siebzehn Lenze alt, in seinem Gefolge in der Hauptstadt des Sultans. Eitzing und ich haben uns dabei ein wenig angefreundet. So eine weite Reise voller Gefahren – mit etwas Pech hätten wir ja auch in der Festung der sieben Türme landen können – verbindet eben. Wir blieben fast fünf Jahre in Konstantinopel und kehrten erst 1582 nach Wien zurück. Es war eine spannende Zeit in meinem Leben. Ich kann dir demnächst ja einmal ausführlicher darüber erzählen, aber jetzt habe ich noch Wichtiges zu tun. In den nächsten Tagen werde ich jedenfalls einmal bei Joachim von Eitzing, der sich im Augenblick noch auf Reisen befindet, vorbeischauen und sehen, was ich für dich machen kann.“
Praunfalk hatte den diskreten Hinweis verstanden und zog sich, nicht ohne sich ehrerbietigst bedankt zu haben, schnell zurück, um seinen Onkel nicht weiter von der Arbeit abzuhalten. Am Weg zu seinem Zimmer begegnete er Gaiswinkler. Dieser war gerade regendurchweicht von seinem Ausflug zur Burg heimgekommen und sah nachdenklich drein. Später bei der Abendmahlzeit vereinbarten die beiden dann, zeitig am nächsten Morgen für eine Stadterkundung aufzubrechen und das Frühmahl in einem der Wirtshäuser Prags einzunehmen.