Es war fast noch dunkel, als sie in der Früh das Palais verließen. Über Nacht schien es wärmer geworden zu sein und statt des eisig kalten Windes der letzten Tage wehte ein mildes Lüftchen. Schon kurz nach dem Portal ihres Quartiers übernahm Gaiswinkler unwillkürlich die Führung. Sie schlenderten zunächst durch die Gassen der Kleinseite, in denen trotz der zeitigen Stunde erstaunlich viele Menschen unterwegs waren. Die meisten strömten den Hügel hinauf, offensichtlich war der Hradschin ihr Ziel. Nicht selten hörten die beiden auch das eine oder andere italienische Wort – Maurer, Steinmetze, Stuckateure und Maler, die aus verschiedenen Teilen Italiens stammten und sich hier in der Nähe der Kirche des heiligen Thomas sowie am Fuße der Weinhänge des Laurenzibergs niedergelassen hatten, eilten zu ihren Arbeitsstätten in der Burgstadt.
Bei einem von deren Landsleuten, einem fröhlich aussehenden Krämer, der Stoffe aus Seide und Brokat in das Gewölbe eines der Giebelhäuser trug und dabei mit sonorer Stimme ein venezianisches Volkslied schmetterte, hielt Gaiswinkler inne. „Buongiorno, mio signore“, sagte er und erkundigte sich dann höflich, wo denn in der Gegend ein gutes Wirtshaus zu finden sei. Danach plauderte er eine Weile mit dem Kaufmann, zwar nur ganz allgemeine Dinge, doch es freute ihn, sich wieder einmal in der italienischen Sprache unterhalten zu können. So bemerkte er fast nur am Rande, dass sich Praunfalk inzwischen entfernt hatte. Rasch verabschiedete er sich, um nach dessen rotem Schopf Ausschau zu halten. Er erblickte seinen Gefährten erst nach einiger Zeit und nur für einen kurzen Moment. Denn fast in derselben Sekunde entwich dieser, bereits mehrere Häuser weiter unten, dort in eine Seitengasse. „Merkwürdig“, dachte er, die Straße hinuntereilend, „vorher ist Christoph fast wie Leim an mir geklebt, jetzt macht er sich geradezu aus dem Staub.“ Als er ihm dann jedoch in das düstere Gässchen gefolgt war und hier gerade noch ein Mädchen in einem flatternden blausilber schimmernden Rock hinter einem der Haustore verschwinden sah, schmunzelte er innerlich: Sein Freund besaß ein reges Interesse an jungen Frauen, auch häufig an solchen, die nicht seiner Schicht angehörten.
Seiner anvisierten Beute beraubt, machte Praunfalk kehrt. Mit leicht gerötetem Antlitz und verlegen wirkend kam er auf ihn zu. Doch nicht, weil dieser Situation eine gewisse Peinlichkeit eigen war, blieb Gaiswinkler wortkarg. Seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt: Ein gutes Stück entfernt, ganz am dunklen Ende der engen Gasse, die nur von einer Seite her einen Zugang hatte, glaubte er, eine am Boden ausgestreckte menschliche Gestalt wahrzunehmen. Einen Augenblick lang dachte er, dass es sich um einen Habenichts handle, der dort sein Nachtlager aufgeschlagen hatte oder seinen Rausch ausnüchterte. Doch irgendetwas an den Beinen – mehr erkannte er von seiner Position aus nicht – irritierte ihn. „Die Strümpfe …“, murmelte er vor sich hin, während er, am verdutzten Praunfalk vorbei, näher an die Person heranschritt. Die letzten Häuser des Gässchens waren windschief und verfallen, sie schienen verlassen. Vor dem hintersten lag, mit Kopf und Rumpf unter dem morschen Eingang des Gebäudes verborgen, ein bewegungsloser Mann, dessen Kleidung ihn auf den ersten Blick als einen Bessergestellten auswies. Es war also eindeutig kein Bettler, der hier genächtigt hatte, sondern ein Edelmann, den er vor sich fand.
Gaiswinkler beugte sich zu dem Mann herab, um herauszufinden, ob dieser noch lebte. Der Körper war eiskalt, es gab keine Regung in ihm. „Der armen Seele hilft niemand mehr. Dieser Mensch ist tot, und wie ich am Geruch festzustellen glaube, schon seit längerer Zeit. Hätten wir sommerliches Wetter, würden hundert Fliegen auf ihm sitzen“, stellte er fest, an seinen mittlerweile hinzugekommenen Gefährten gewandt, der solche Szenen nicht vertrug und bleich und leicht zitternd die Leiche betrachtete.
Der Tote – er mochte so um die vierzig sein – trug ein besticktes graues, eng anliegendes Wams und dazu kurze schwarze, gepuffte Hosen, wie es die spanische Mode vorschrieb. Seine langen roten Strümpfe steckten in engen, bis zu den Knöcheln reichenden Schuhen. Das Barett lag neben seinem Körper, den ein dunkler Mantel teilweise verdeckte. Drei Dinge sprangen sofort ins Auge: das schmerzverzerrte, blau angelaufene Gesicht mit der heraushängenden Zunge, das einen Ausdruck von Überraschung und Schreck zu zeigen schien, die dicke Schnur, die um den Hals zusammengezogen war, und der kurze, abgerissene Teil einer goldenen Kette, der sich am Gelenk seiner verkrampften rechten Hand befand. Es stand eindeutig fest: Dieser Mann war nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden.
„Ich denke, wir müssen am Hradschin oben das Verbrechen melden. Einer von uns sollte aber hierbleiben, um die Leiche zu bewachen“, meinte Gaiswinkler, der entschieden der praktischer Veranlagte der beiden war.
„Mir wäre lieber, wenn du hinauf gehen würdest, Matthias. Du warst ja schon beim Schloss und findest den Weg dorthin leichter als ich.“
„Gut, dann machen wir das so. Du hättest zwar als Adeliger sicherlich mehr Einfluss, allerdings könnte es auch notwendig sein, eine energischere Seite zu zeigen. Und die besitze ich wohl eher als du.“
Praunfalk murrte über diese Bemerkung zwar ein wenig, war aber letztlich ganz zufrieden, sich den Weg bergauf im Eilschritt zu ersparen. Vielleicht würde ja auch das Mädchen nochmals vorbeikommen und sich ein Gespräch mit ihm ergeben.
Es mochte hierauf knapp eine Stunde vergangen sein, bis der junge Salzamtsgegenschreiber, der mit großer Geschwindigkeit zum Burgtor hinaufgelaufen war und dort die Wache informiert hatte, zurückkehrte; in Begleitung einiger Trabanten und des Obersthofmeisters, welcher für die Angehörigen des Hofes – und einen solchen vermutete man in dem Toten nach der sehr klaren Schilderung seines Aussehens – zuständig war. Am Fundort der Leiche stand Praunfalk eng umringt von einer Menge an Menschen, eifrig bemüht, diese in ihre Schranken zu weisen. Mit einem Lächeln bemerkte Gaiswinkler, dass sich unter den drängenden Neugierigen auch eine sehr hübsche junge Frau in einem blauen, mit Silber durchwirkten Rock befand. Wäre sein Freund ihr nicht gefolgt, hätte wohl jemand anderer die Leiche gefunden.