Am nächsten Morgen, gerade als es sich Gaiswinkler in dem breiten Stuhl mit Armlehnen – dem besten Stück der Einrichtung, wie er fand – bequem machen wollte, um einige für die Hallamtsangelegenheit nötige Papiere nochmals durchzugehen, klopfte es an der Tür seiner Stube. Es war wieder die feiste, ältliche Dienerin, die ihm kurz zuvor den morgendlichen Becher Wein gebracht hatte, den er ansonsten immer von der liebenswerten Božena bekam. Es ständen zwei kaiserliche Trabanten vor dem Tor des Palais. Diese wünschten, dass der Salzamtsgegenschreiber aus Aussee sie auf den Hradschin begleite, meldete sie.
Etwas überrascht zog er sich Mantel und Stiefel über und marschierte schnell von seinem im hintersten Winkel des Hauses gelegenen Zimmer zum Portal. Dort traf er auch seinen noch verschlafen aussehenden Freund Christoph an, dem eben mitgeteilt wurde, dass der Befehl lautete, ausschließlich den ihm Untergebenen zu holen. Während Praunfalk daraufhin beleidigt die müde Miene verzog, war Gaiswinkler nun hingegen verunsichert. Zwar hatte der Obersthofmeister gesagt, er wolle mit ihm sprechen, aber vielleicht hatte es sich Wolf Siegmund Rumpff vom Wullross ja mittlerweile anders überlegt und beabsichtigte, doch seinem zunächst geäußerten Verdacht ihm gegenüber nachzugehen. Auch wenn man unschuldig und keineswegs für diesen Mord verantwortlich war, konnte man ja nie wissen, was passieren würde, wenn sich die Bürokratie gegen einen richtete.
So schritt Gaiswinkler mit einem eher mulmigen Gefühl zwischen den Leibgardisten, von denen ihn jeder der beiden – obwohl er selbst ein stattliches Maß besaß – um einen Kopf überragte, den inzwischen gut bekannten Weg zum Burgtor hinauf. Bei Eiseskälte, denn das wärmere Wetter war rasch über Nacht wieder verflogen. Einer der jungen Trabanten, der sich freundlich als Miguel vorstellte und aus Spanien stammte, zeigte sich sehr redselig. Als sie den inneren Bereich der Residenz erreicht hatten, erläuterte er ihm die Gebäude, die sich dort vor ihren Augen erstreckten. Wie der Leibgardist erklärte, gingen sie an den Häusern der bedeutendsten Adelsfamilien vorbei, dem der Lobkowitz und dem riesigen, von vier schmalen Kuppeltürmchen gezierten Palais der mächtigen südböhmischen Familie der Rosenberger, von dem ein überdachter Verbindungsweg zum königlichen Palast führte. Zu ihrer Rechten befänden sich die beiden mehrere Jahrhunderte alten Türme der Sankt-Georgs-Kirche und das daran anschließende Nonnenkloster der Benediktinerinnen, dessen Äbtissinnen bei der Krönung der böhmischen Königinnen eine wichtige Rolle einnahmen.
„Auf diesem Flecken stehen die ältesten Teile der Burganlage. Die Allerheiligenkapelle auf der linken Seite von uns ist – so wie vieles andere – durch den schrecklichen Brand vor dreiundfünfzig Jahren, von dem Ihr sicherlich gehört habt, zerstört worden“, erzählte Miguel. „Nur der gütigen Schwester seiner Majestät Rudolfs II., der französischen Königswitwe Elisabeth, haben wir es zu verdanken, dass sie nun wieder in ihrer vollen Herrlichkeit erstrahlt. Sie hat die Kapelle vor einem Jahrzehnt wiederherstellen lassen. Hinter dem Gotteshaus befindet sich jener Saal, der unter König Vladislav II. aus der polnischen Dynastie der Jagellonen erbaut worden ist. Wer ihn zum ersten Mal sieht, will seinen Augen nicht glauben. Es ist“, wie der gesprächige Trabant meinte, „der größte und schönste Saal der Welt.“
Als sie schließlich die eigentliche Burg, den Alten Königspalast, betraten, wurde Gaiswinkler in einem spärlich beleuchteten und lediglich mit zwei steinernen Bänken versehenen Raum zum Warten aufgefordert. Erst gefühlt eine halbe Stunde später holte ihn ein Diener ab. Dieser führte ihn in ein erheblich komfortableres Zimmer, das mit prachtvollen Tapisserien ausgekleidet war und aus seinen Fenstern einen weiten Blick auf die zu Füßen des Hradschins liegende Stadt bot. Hier erwartete ihn vor einem großen Kamin, von dem sich eine wohlige Wärme verbreitete, Wolf Siegmund Rumpff vom Wullross, der ihn durchaus wohlgesonnen begrüßte und sagte: „Der Hofmedicus hat nach eingehender Untersuchung des Toten festgestellt, dass dieser schon drei Tage in der kleinen Gasse gelegen haben muss, womit natürlich bewiesen ist, dass weder Euer Herr noch Ihr mit der Tat zu tun habt. Meine Leute haben sich erkundigt, ob jemand bei Hof verschwunden ist und den Leichnam auch einigen Personen gezeigt. Diese waren entsetzt über dessen Aussehen, aber keiner von ihnen hat den Mann erkannt. Die Trabanten haben sich auch in den besseren Herbergen der Stadt umgehört. Dort wird kein Gast vermisst. Nun wissen wir allerdings leider nicht, was wir hier Weiteres tun können, um in Erfahrung zu bringen, um wen es sich handelt.“
„Exzellenz, wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte“, erwiderte Gaiswinkler, dem am Abend des vorherigen Tages noch etwas eingefallen war. „Man könnte einen Hofkünstler bitten, eine Zeichnung von dem Ermordeten anzufertigen, auf der er ihn ohne die verzerrten Züge des Todes darstellt. Dieses Porträt sollte man dann an einer Stelle der Burg aufstellen, die möglichst viele Höflinge passieren, um sie zu befragen, ob ihnen der Abgebildete bekannt ist.“
„Das scheint mir ein guter Plan zu sein“, meinte der Obersthofmeister, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich ein wenig ärgerte, nicht selbst auf diese Idee gekommen zu sein. „Ich werde das gleich veranlassen. An dem Tag, an dem das Bildnis präsentiert wird, bitte ich jedoch um Eure Anwesenheit. Eure Beobachtungsgabe ist nämlich, wie ich gestern gesehen habe, sehr ausgeprägt. Ihr könntet eine Reaktion bemerken, die darauf hinweist, dass jemandem dieser Mann zwar bekannt ist, er aber, aus welchen Gründen immer, keine Hilfe leisten möchte, die uns zum Namen des Mordopfers führt. Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr uns hierbei unterstützt, denn der Büttel, der für gewöhnlich mit solchen Ermittlungen betraut ist, liegt derzeit krank darnieder. Er ist gänzlich von seinen Kräften und kann uns daher nicht dienlich sein. Nun aber lasst uns abwarten, ob entweder Hans von Aachen, Bartholomäus Spranger oder Joseph Heintz, unsere begabtesten Maler, rasch ein Porträt zeichnen können. Dieses werden wir hernach wohl am besten im Vladislav-Saal zeigen. Ich werde das Gerücht streuen lassen, man solle dorthin kommen, und wie ich die Neugier unserer Höflinge kenne, werden noch mehr als sonst erscheinen.“
Nachdem Rumpff einen Diener zu den Künstlern geschickt hatte, wurde ihm bald gemeldet, dass Bartholomäus Spranger vor der Tür wartete. Spranger trat mit einer so tiefen Verbeugung ein, dass sein schwarz gelocktes Haar beinahe den Fußboden berührte. Sein unwirscher Blick und sein ungepflegter, spärlicher Bart ließen ihn jedoch nur wenig sympathisch wirken. Als der Obersthofmeister ihm darlegte, was er von ihm wollte, und dabei nicht vergaß anzumerken, von wem dieser Vorschlag stammte, konnte man an dem Maler ein leichtes Missfallen erkennen. Aber er erklärte sich mit dem Auftrag einverstanden. „Ich werde“, sprach er, „sofort mit der Skizze beginnen und diese in etwa zwei Stunden liefern können. Ich hoffe, sie zu Eurem Wohlgefallen auszuführen und dass Euer Plan damit von Erfolg gekrönt sein wird.“ Ohne dem Salzamtsgegenschreiber jegliche Beachtung zu schenken, verabschiedete sich Spranger darauf mit einer wieder leicht übertriebenen Ehrenbezeugung, um sich mit dem Diener zu dem Leichnam aufzumachen. Rumpff schien zufrieden und entließ knapp danach auch Gaiswinkler. Dieser solle sich nicht allzu weit entfernt von der Burg aufhalten und sich eine Stunde nach Mittag wieder bei ihm melden.