Als er die Gemächer der Burg verließ, umfing ihn wieder bitterkalte Luft. Sie tat seiner Erregung allerdings gut, und während er, tief durchatmend, die Schlossstiege hinabmarschierte, legte sich langsam sein Missmut. Die Stiege war menschenleer. Nur an ihrem Fuße erblickte er in der seitwärts führenden Gasse eine Gruppe von Bettlern, die, an eine Hauswand gedrückt, auf den eisigen Pflastersteinen herumlungerten und in ihren zerlumpten, dünnen Kleidungsstücken wohl schrecklich frieren mussten. Selbst in einer so prächtigen Stadt wie Prag gab es offensichtlich viele arme und von der Gesellschaft verachtete Menschen. Vor den Obdachlosen stand eine kleinwüchsige Gestalt in einem roten Mantel. Es war Thommerl Niderthor, der ihnen, wie Gaiswinkler anerkennend feststellte, Geldmünzen und einige Stückchen Brot zusteckte. Der kleine Mann befand sich diesmal nicht in Begleitung der närrischen Hündin Penelope und schien ihn, nachdem er sich umgewandt und ihn erspäht hatte, sofort erkannt zu haben, denn er lief schnurstracks auf ihn zu.
„Gott zum Gruße. Es ist mir eine Freude, Euch hier zu sehen. Seid Ihr in Eile oder haben der junge Herr Zeit und Lust, mit mir ein Bier im nahen Goldenen Bären zu trinken?“
„Anstatt weiter einsam in der Kälte über die Welt zu grübeln, gehe ich lieber mit Euch mit. Meinem Ärger wird es sicher guttun, wenn ich die Kehle nicht verdorren lasse,“ erklärte Gaiswinkler.
Noch bevor er seine schlechte Laune begründen konnte, waren sie auch schon bei dem Gasthaus, das der Hofzwerg angesteuert hatte, angekommen. Bei der Tür der Schenke lehnten zwei nicht mehr ganz nüchterne junge Männer. Sie musterten Thommerl verächtlich, um ihm dann lauthals einige Worte auf Böhmisch zuzuwerfen. Plötzlich packten sie ihn und schoben ihn unter Grölen und Lachen hin und her. Da Gaiswinkler des Böhmischen nicht mächtig war, verstand er zwar kein Wort, ihre Körpersprache verriet ihm jedoch eine immer deutlicher werdende Aggression. Im Wirtshaus in Aussee hatte er öfters Ähnliches erlebt; Grausamkeit gegenüber Leuten, die sich nicht recht wehren konnten – wenn auch nicht gegenüber Hofzwergen, sondern Krüppeln oder Geistesschwachen. Und so reagierte er mit demselben Reflex wie bei der Schlichtung von Raufereien in der Schankstube seines Vaters: Er schlug zu. Ehe sie sich versahen, bekam jeder der Burschen einige saftige Ohrfeigen, was zur Wirkung hatte, dass die beiden Thommerl zu Boden stießen und schnell davonrannten.
Der Hofzwerg rappelte sich auf, putzte seine Kleidung ab und schüttelte sich, wobei die Zöpfe seines Bartes munter hin und her flogen. In der warmen Stube des Gasthauses, in der sich bloß wenige Tische befanden, meinte er dann: „Seid tausend Mal bedankt für Eure Hilfe. Ich allein wäre ganz schön zerzaust heimgekommen. Weil ich klein bin, glauben viele, es wäre einfach, mich zu erniedrigen. Nicht immer widerfährt mir dabei das Glück, jemanden zur Seite zu haben, der so heftig zuschlagen kann wie Ihr. Wie ich erfahren habe, hat Euch der Obersthofmeister zu demjenigen auserwählt, der den Fall des Ermordeten auf der Kleinseite untersuchen soll. Das hat er wohl wegen Eures Mutes getan.“
„Ich bin ja am Land aufgewachsen. Da gibt es viele Vorurteile, und man begegnet oft Leuten in misslichen Lagen, in denen nur die Fäuste helfen. Ihr erzähltet mir das letzte Mal, Ihr wäret in einem kleinen Dorf in Tirol geboren. Dort wird es wohl nicht viel anders gewesen sein. Wolf Siegmund Rumpff vom Wullross hat mich aber nicht wegen meiner Schneid beauftragt. Als ich die Leiche auf der Kleinseite fand, machte ich ein paar Beobachtungen, die ihn offensichtlich beeindruckt haben. So kam er mit dem Vorschlag, ihn zu unterstützen, das Verbrechen zu klären. Aber bis jetzt bin ich noch nicht weit gekommen“, seufzte Gaiswinkler und nahm einen Schluck Bier, wobei er Thommerl genauer betrachtete. Mit seinem schlauen, aber auch neugierig verschlagenen Blick und der bunten Farbenmischung seiner Zopfschleifen und Kleidung, die ihn so völlig von jener der anderen Höflinge unterschied, war der kleine Mann einer der wunderlichsten und exotischsten Menschen, denen er je begegnet war. Er dachte an all die Geschichten über Zwerge, viele sprachen davon, dass diese mystische Fähigkeiten besäßen und eine besondere Begabung der Beobachtung. Die meisten Menschen gingen jedoch wohl achtlos an ihnen vorbei, sahen sie als harmlose Kinder, vor denen man sich unbeschwert unterhielt. Und auf einmal kam ihm ein Gedanke. Vielleicht, dachte er, war ja gerade aus diesem Grund Thommerl einer der am besten Informierten bei Hof und könnte ihm helfen. „Habt Ihr mehr in dieser Geschichte mit dem Opfer, dessen Namen wir nicht wissen, gehört?“, fragte er daher. „Ihr seid doch mit der Stadt und allen Ereignissen, vielen Leuten und Gerüchten vertraut. Könnt Ihr mir womöglich etwas der Sache Dienliches berichten?“
„Das will ich gerne tun, denn ich bin Euch für Euer Eingreifen vorhin ohnehin verpflichtet. Als Gegenleistung möchte ich allerdings, dass Ihr mir alles erzählt, was Ihr herausbekommt.“
„Sollte es mir gelingen, diesen Mordfall zu lösen, verspreche ich Euch, Ihr seid einer der Ersten, der alle Details von mir erfährt.“
„Nun gut. Da ich privilegiert bin und unauffällig, war ich vor allen anderen im Vladislav-Saal. So konnte ich Sprangers Zeichnung in Ruhe alleine betrachten.“
„Habt Ihr den Mann auf dem Bild erkannt?“
„Ja, denn ich habe ihn, als er noch lebte, gesehen. Jedoch ohne dabei zu wissen, wie er hieß. Er schien erst seit kurzer Zeit in Prag gewesen zu sein und pflegte mit einigen Leuten im Umfeld des Hofes einen Umgang.“
„Könnt Ihr mir verraten, mit wem der Ermordete in Kontakt trat? Ich wäre besonders an drei Männern interessiert: dem Botschafter Mantuas, Andrea Galeazzo, dem Alchemisten Salomon Porticus und dem Jesuiten José Alvarez. Sie haben sich beim Anblick des Porträts sehr auffällig verhalten.“
„Bei Alvarez und Porticus verwundert mich das nicht, denn diese zwei waren es, die der Unbekannte aufgesucht hat. Er blieb relativ lange bei jedem von ihnen. Was dabei geredet wurde, ist mir natürlich nicht bekannt, doch der Fremde kam mir danach immer ein wenig aufgebracht vor.“
„Wisst Ihr Näheres über die beiden und über Galeazzo?“
„Da kenne ich einige Dinge, die ich im Laufe der Zeit über sie in Erfahrung gebracht habe. Ich habe diese Gerüchte und Beobachtungen allerdings noch niemand anderem erzählt und bitte Euch daher, nicht preiszugeben, von wem Ihr sie habt.“ Thommerl lehnte sich zurück und schloss die Augen, so als wolle er sich die mit den drei Männern erlebten Szenen in sein Gedächtnis zwingen. Gaiswinkler wartete geduldig, bis der kleine Mann wieder zu sprechen begann. „Fangen wir also mit Alvarez an. Er ist ein verbissener Jesuit, der keine Möglichkeit auslässt, jemanden zu bekehren, und er hat damit schon einige Erfolge gehabt. Ich bin zwar katholisch getauft, nehme es aber mit der Religion nicht so genau. Für mich sind die Protestanten, wie Ihr, keine bösen Menschen, die man verfolgen sollte. Durch meine Stellung bei Hof muss ich immer wieder an Messen oder Prozessionen teilnehmen. Innerlich bin ich dabei nie bei der Sache. Was mich interessiert, ist die Beobachtung der Leute bei allen Gelegenheiten, so auch bei den religiösen Zeremonien. Nicht wenige wohnen den rituellen Handlungen ohne Freude und ohne starken Glauben bei. Alvarez jedoch zeigt – oder vielmehr heuchelt – tiefe Frömmigkeit. Ich halte ihn für einen Pharisäer, der es mit den meisten Dingen nicht so genau nimmt. Um ihn herum obwalten verschworene Personen, die in ihrem religiösen Wahn alles für ihn machen würden. Diese Jesuiten sind wie ein Geheimbund. Man kann in ihre Geheimnisse und ihre Welt nicht eindringen. Aber ich habe auch noch etwas anderes beobachtet. Alvarez berührt Ministranten unsittlich mit seinen Händen, und einige Male nahm er einen dieser Knaben zu sich in sein Haus. Ich vermute, dass er nicht keusch lebt. Anders als bei vielen Klerikern scheint sein Interesse allerdings nicht Frauen, sondern sehr jungen Männern zu gelten. Gewiss kann ich es nicht beschwören, doch ich zog daraus den Schluss, dass er ein Sodomit ist. Wenn dies zutrifft, müsste er alles tun, um es zu verbergen.“
„Diese Beobachtungen sind sehr wichtig, denn er würde, falls das allgemein bekannt wird, nicht nur seine Stellung im Orden verlieren. Auch die Strafe der Inquisition wäre ihm sicher. Und dann droht ihm der Tod durch Verbrennung, wie den sogenannten Ketzern.“
„Zweifellos. In seiner Beziehung zu dem Toten dürfte Unkeuschheit allerdings keine Rolle gespielt haben. Dieser war von seinem Aussehen her ja fast so alt wie er. Kommen wir nun aber zu Galeazzo. Er ist ein großer Intrigant, besitzt überall seine Spitzel und umgibt sich – natürlich geheim – mit windigen Gestalten. Wie mir scheint, sind es Verbrecher, die um wenige Goldstücke seine kriminellen Wünsche erfüllen. Das ist freilich nichts, was ich beweisen kann, lediglich eine Vermutung, denn was hätte ein adeliger Botschafter sonst mit diesem Gesindel zu tun. Außerdem ist Galeazzo ein aufgeblasener Gockel, der besonders gern vor jungen Weibern kräht. Mit welchem Erfolg sei dahingestellt. Einmal erblickte ich ihn des Nachts, wie er sich mit einer käuflichen Dirne in der Stadt traf. Ich habe die beiden dann aus den Augen verloren, doch er begleitete sie wohl, um seine Lust auszuleben.“
„Das passt gut zu meinen Wahrnehmungen. Er sprach voller Begehren über die verschleierten Frauen, denen er in Konstantinopel begegnet ist.“
„Der Botschafter hat Euch von seinem Aufenthalt im Osmanischen Reich erzählt? Seid Ihr darüber informiert, dass Alvarez ebenfalls vor weit über einem Dutzend an Jahren am Hof des Sultans im Gefolge der Gesandtschaft des Freiherrn von Eitzing war?“
„Wie interessant. Nein, das war mir noch nicht bekannt. Hielt sich gar auch der dritte Mann, den das Opfer aufsuchte, damals in der Stadt am Bosporus auf?“
„Ob Salomon Porticus in jener Zeit in Konstantinopel weilte, weiß ich leider nicht. Möglich wär’s, denn er kam erst 1584 nach Prag.“
„Vielleicht lässt sich das ja herausfinden. Könnt Ihr mir mehr von dem Alchemisten berichten?“
„Nun, ich war durch einen Zufall gerade bei einem Händler im Goldschmiedegässchen, als der unbekannte Tote zu ihm ging. Porticus hat in dieser Gasse sein Laboratorium, denn Kaiser Rudolf II. ist fraglos von der Magie, der Kabbala und der Alchemie völlig vereinnahmt.“
„Es tut mir leid“, unterbrach ihn Gaiswinkler, „aber ich habe keinerlei Kenntnis darüber, was Kabbala bedeutet. Davon habe ich noch nie gehört.“
„Die Kabbala ist ein mystisches Wissen der Juden, eine Suche nach einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Das Universum und die Menschen werden dabei in ihrer Einheit betrachtet. Das ist etwas, das man auch in den Schriften unseres christlichen Glaubens finden kann. Und in der Kunstkammer Seiner Majestät hier in Prag. Sie spiegelt im Kleinen die ganze Welt und alles, was in ihr vorhanden ist. Der Kaiser interessiert sich im Besonderen dafür, dass man in der jüdischen Schrift jeden Buchstaben auch als eine Zahl zu lesen vermag. Worte und Namen können in Zahlen und Zahlen in Wörter umgewandelt werden. Der Überlieferung nach ist es mit dieser Herangehensweise möglich, zu zaubern.“
„Habt Dank für die Belehrung! Mir scheint, von Euch kann ich noch vieles lernen. Doch lasst uns nun wieder zu Salomon Porticus zurückkehren.“
„Was Porticus mit dem Ermordeten in seinem Laboratorium sprach, bleibt natürlich im Dunkeln. Vermutlich unterhielten sie sich über die Alchemie, welche die Welt in allen Dingen zum Guten verwandeln soll und auf die Veränderungen der Menschen ausgerichtet ist. Die Alchemie ist nicht nur mit der Astronomie und der Astrologie, sondern auch eng mit der Magie verflochten und somit mit der Zauberei, aus unedlen Stoffen Gold zu erzeugen. Was für einen Herrscher in ständiger Geldnot ein wesentlicher Grund ist, die Alchemisten zu fördern. Vielleicht war unser unbekannter Toter ja am Lapis philosophorum, dem Stein der Weisen, interessiert. Denn dieser soll die Kraft besitzen, weniger kostbare Gegenstände in Gold zu verwandeln, sodass er einem unermesslichen Reichtum schenken kann.“
„Denkt Ihr, dass Salomon Porticus fähig ist, Gold herzustellen?“
„Ob ihm das einmal gelingt, wird sich weisen. Der Alchemist birgt jedenfalls etliche Geheimnisse, und es ranken sich viele Gerüchte um ihn. Eine der Geschichten, die man über ihn berichtet, besagt, dass er als junger Mensch unter der Anklage der Zauberei und Magie stand. Er wurde dann plötzlich freigelassen – wie das genau möglich war, wissen wir nicht – und machte eine erstaunliche Karriere unter dem Fürsten Sigismund Báthory in Siebenbürgen. Über sein weiteres Leben gibt es nur wenig Tatsachen und noch mehr Fama. Man sagt, er reiste viel, nicht nur in Europa. Er selbst hüllt sich über seine Vergangenheit ganz bewusst in einen Nebel, und man kann sich bei ihm nie sicher sein, ob die wenigen Dinge, die er einem erzählt, stimmen oder frei erfunden sind. Er ist auch sehr schwer zu verstehen. Am besten ist es, sich mit ihm in der lateinischen Sprache zu unterhalten, wenn man nicht Ungarisch oder Rumänisch beherrscht. Doch auch das ist anstrengend, denn obwohl er weder Deutsch noch Böhmisch fließend spricht, mischt er einzelne Ausdrücke davon ins Lateinische.“
„Wenn sich der Alchemist mit dem Fürsten Sigismund Báthory so gut verstand, wieso verließ er das Land und pilgerte herum? Hat er versagt in seinen Bemühungen, den Fürsten reich zu machen? Oder wurde er gar als Schwindler entlarvt?“
„Das alles liegt vollkommen im Dunklen. Erstaunlich ist, dass er seine Forschungen am Prager Hof, gefördert von Seiner Majestät, betreiben kann. Entweder hat sich der Kaiser nicht genügend über ihn informiert, oder er ist so leichtfertig, all seinen Versprechungen zu glauben“, bemerkte der Hofzwerg und zuckte ratlos mit den Schultern. Dann bestellte er noch für jeden von ihnen ein Glas mit süßem Wein, auf das er Gaiswinkler als Dank für den Schutz vor den betrunkenen Burschen einlud. Da die Dämmerung aber schon früh einsetzte, machten sie sich bald auf den Heimweg, wobei der Salzamtsgegenschreiber darauf beharrte, Thommerl bis zu dessen Haus, das sich außerhalb der Burg in einer kleinen Gasse beim Kloster Strahov befand, zu begleiten.
Als er sich schließlich von dem kleinen Mann verabschiedet hatte, kam ihm doch so manches seltsam vor. Selbst für einen Hofzwerg war es schon mehr als eigenartig, dass er alle möglichen Leute kannte, darunter auch jene drei Personen, von denen er sogar wusste, wann sie der Tote aufgesucht hatte. Thommerl Niderthor besaß ein Wissen über Dinge, das er nur durch eine Reihe von merkwürdigen Zufällen oder durch systematische Nachforschungen erlangt haben konnte. Und wie nach ihrer ersten Begegnung fragte sich Gaiswinkler, ob er nicht auch ihn aushorchte.