KAPITEL 16

Kaum hatte der Kaiser seine Worte gesprochen, öffnete sich die Tür wie von Geisterhand bedient, und der Alchemist erschien. Ähnlich wie Rudolf II. war er ganz dunkel gekleidet, ein rabenschwarzer Umhang umhüllte ihn, und seine weißen Haare wurden beinahe vollständig von einer fast noch schwärzeren runden Mütze bedeckt. Die Kopfbedeckung nahm er von seinem Haupt, bevor er sich etwas steif vor Seiner Majestät verbeugte. Was man von dem älteren, aber noch immer gut aussehenden Mann wohl vor allem in Erinnerung behielt, war sein weißer, sorgfältig gepflegter Bart, der ihm bis zur Mitte der Brust reichte und in einer klaren Form als Dreieck in einem Spitz endete. Sein Schnurrbart schimmerte ebenfalls schneeweiß und umrahmte den langen Bart bis weit über ein Drittel.

Kurz nach Porticus’ Eintreten machte Gaiswinkler erneut eine Verbeugung, diesmal vor dem Alchemisten und weniger tief. Danach bedankte er sich ein weiteres Mal beim Kaiser für die Einladung, um dann den „Meister“ sehr förmlich zu begrüßen. Hatte das vorhergehende Gespräch mit Rudolf II. in einer Mischung aus Deutsch und Latein stattgefunden, so ging man nun ausschließlich zur Sprache der Wissenschaft, dem Lateinischen, über. „Welch ein Glück“, dachte der junge Salzamtsgegenschreiber bei sich, „dass es die Lingua Latina gibt, die alle Gebildeten lesen und sprechen, und die es einem, egal aus welchem Land Europas man kommt, ermöglicht, sich trotz verschiedener Muttersprachen ohne Dolmetscher miteinander zu unterhalten.“ Er hatte schon in Italien festgestellt, dass ein Studium dieses antiken Wortschatzes, bei dessen Erlernen er sich ordentlich geplagt hatte, lebensnotwendig war. Selbst in seinem Geburtsort Aussee kamen immer wieder Händler und andere Reisende vorbei, die kein Deutsch – vom lokalen Dialekt ganz zu schweigen – verstanden.

Fast noch mehr als vor seinem Zusammentreffen mit dem Kaiser, der ihn so wohlwollend empfangen hatte, spürte er zu Beginn dieser Unterhaltung seine Aufregung. War ihm doch Salomon Porticus, zwar nicht vom Rang, aber von seiner Bildung her, weit überlegen. Während Rudolf II. einige Sätze an den Alchemisten richtete, zögerte Gaiswinkler noch immer, ob er direkt auf das Thema zugehen oder die Materie langsam umschleichen sollte. Als ihm schließlich das Wort erteilt wurde, entschloss er sich, seine Fragen ohne Umschweife zu stellen und auf eine positive Antwort zu hoffen. Nach einer kurzen Erläuterung über den Fund der Leiche und das darauffolgende Prozedere ging er gleichsam zum Angriff über. Bei der Ausstellung des Bildnisses im Vladislav-Saal habe er den Eindruck gewonnen, dass Porticus den Toten identifizieren könne.

„Das muss eine Einbildung gewesen sein, mein Herr, mir sagt dieser Mann nichts“, versicherte der Alchemist. Er besaß eine sehr tiefe Stimme und war tatsächlich schwer zu verstehen, da er beim Sprechen nicht nur Silben verschluckte, sondern auch andere seltsam betonte.

„Ganz bestimmt nicht, Meister Porticus“, erwiderte Gaiswinkler mit Überzeugung, zügig aufs Ganze setzend. „Denn ich erfuhr ebenso aus einer sicheren Quelle, dass der Mann, den Ihr nicht kennen wollt, Euch vor seinem Tode in Eurem Laboratorium hier in Prag besuchte.“

„Meister Porticus“, griff nun der Kaiser mahnend ein und beugte sich dabei mit strengem Blick ein wenig vor, „dieser Mord könnte mit den Geheimnissen der Alchemie zusammenhängen. Daher bestehe ich darauf, dass Ihr uns weiterhelft, wenn Ihr etwas über den Toten wisst.“

Auf der Stirn des Gelehrten begannen sich winzige Schweißperlen zu bilden. Seine Selbstsicherheit schwand offensichtlich dahin. Einige Augenblicke machte es den Eindruck, als würde er mit sich kämpfen, ob er etwas preisgeben sollte, doch dann wandte er sich an Rudolf II. und ignorierte denjenigen Mann, der ihm zu Beginn die Frage gestellt hatte. „Eure Majestät, ich habe den auf dem Bild Abgebildeten, dessen Leben ein so grausames Ende fand, zum ersten Mal vor vielen Jahren in Konstantinopel gesehen“, sagte er, „aber sein Name, mit dem ich ihn nie ansprach, schien mir nicht wichtig. Für mich war damals überhaupt Vorsicht geboten, denn ich hatte erfahren, wie oft sich dieser Mensch in der Stadt herumtrieb und an Gelehrte, die sich mit alchemistischen Fragen beschäftigten, heranmachte, um sie auszuhorchen. Daher versuchte ich, so gut es ging, mich von ihm fernzuhalten. Von einem meiner Diener bekam ich erzählt, dass er auch zu so manch Adeligem, der sich in jenen Jahren mit dem kaiserlichen Gesandten, dem Freiherrn von Eitzing, in Konstantinopel aufgehalten hatte, Kontakte knüpfte. Und so erlaube ich mir anzuraten, zwei Personen, denen das Bild im Vladislav-Saal ebenfalls gezeigt wurde, zu befragen – Graf Andrea Galeazzo und Pater José Alvarez. Sie vermögen über den Mann bestimmt mehr zu sagen als ich.”

Gaiswinkler bemerkte, er habe mit den beiden schon gesprochen, jedoch von ihnen keine wie immer gearteten Anhaltspunkte erhalten. Dann setzte er fort: „Wenn Ihr, Meister, in Eurer Erinnerung nur an Konstantinopel denkt, so könntet ihr zweifellos den Mann vergessen haben, schließlich ist das schon etliche Jahre her. Doch ich möchte von Euch gerne wissen, warum er Euch hier in Prag besucht hat und was Ihr mit ihm besprochen habt?“

Porticus’ ohnehin schon düstere Miene verfinsterte sich zu Gewitterschwärze, er sah den jungen Ausseer erbost und unwillig an. Der Alchemist schien knapp vor einem Wutausbruch, bis ein unmissverständliches Räuspern des Kaisers ihn wieder in jene Situation zurückführte, in der er sich befand: Sein Leben hing – in doppeltem Wortsinn – von der Gnade Seiner Majestät ab. Rudolf II. durfte er niemals verärgern.

„Tatsächlich suchte mich dieser Mann – dessen Namen ich mir zwar nicht gemerkt habe, der aber, wie ich glaube, so ähnlich wie Weniger‘ klang – vor ungefähr drei Wochen auf“, begann er sodann, wobei er sich sichtlich bemühte, einen freundlichen Ton anzuschlagen. „Nachdem er kurz unseren gemeinsamen Aufenthalt am Hof des Sultans erörtert hatte, kam er bald auf die Alchemie und im Besonderen auf das Goldmachen zu sprechen. Ich ging auf dieses Thema aber nicht ein und ließ ihn reden, ohne Antworten zu geben. Doch nach einer Weile erwähnte er etwas, das mich interessierte. Er erzählte mir von einem wunderschönen Bezoar, mit Edelsteinen und Gold verziert, der über seine übliche Bedeutung hinaus noch eine weitere besitze. Seiner Schilderung nach liegt dieser Bezoar in einer Hülle aus Kamelleder, die mit einem Stoff aus Kamelott gefüttert ist. In diesen sollen Hinweise auf bedeutsame magische Schriften eingenäht sein. Als ich Weniger, oder wie immer der Mann hieß, fragte, ob er über diesen Stein verfügt, wich er mir aus. So wurde mir nicht klar: Hat er nur fabuliert oder gehörte ihm jener wirklich?“

Gaiswinkler war das Wort Bezoar zuvor noch nie zu Ohren gekommen. Nachdem Porticus zu Ende gesprochen hatte, gestand er diese Unwissenheit, woraufhin – zu seiner Überraschung – nicht der Alchemist, sondern der Kaiser persönlich die Erklärung übernahm: „Der Bezoar, den man zuerst in Persien fand, ist eine Art heiliger Stein, wenn man ihn auch im herkömmlichen Sinn nicht als solchen bezeichnen kann. Wie einige Gelehrte meinen, entsteht er im Magen einer Ziege aus den Haaren, die sich dort sammeln. Was ihn so bedeutend macht, sind seine magischen Kräfte. Denn während die großen, schönen Bezoare mit Gold und Edelsteinen zum Bestaunen verziert werden, kann man die kleinen zerreiben, um sie als Arznei zu verwenden. Sie dienen als Gegenmittel bei Vergiftungen und spielen deshalb hier am Hof neben dem Vorkoster eine wichtige Rolle. Außerdem helfen sie bei vielen Krankheiten und stärken die Manneskraft.“

„Wenn man den Gerüchten über Rudolf II. und seine vielen Mätressen, mit denen er angeblich einige uneheliche Kinder hat, vertraut, so ist ein Bezoar dafür wohl offensichtlich eine unfehlbare Medizin“, dachte der junge Ausseer, bis Porticus ihn aus seinen Gedanken riss: „Bei dem Stück, von dem der Mann sprach, kommt freilich noch einzigartig seine geheimnisvolle Hülle hinzu, die uns möglicherweise wichtige Informationen bringt.“

„Wie Ihr, Meister, vorhin sagtet, wisst Ihr nicht, ob der Stein tatsächlich im Besitz des Toten war. Man fand allerdings am Handgelenk des Ermordeten eine dünne, aber stabile Goldkette, von der ein Teil, an dem bestimmt etwas Wertvolles hing, fehlte. Könnte das dieser Bezoar gewesen sein?“, warf Gaiswinkler fragend ein.

„Sicherlich“, meinte Porticus, „denn so eine Kette soll verhindern, dass er hinunterfällt oder dem Menschen, der ihn bei sich trägt, entwendet wird.“

Der Kaiser nickte zustimmend. Dann wandte er sich an seine beiden Gesprächspartner, um die Unterhaltung zu beenden: „Alles, was wir an diesem Morgen hier besprochen haben, bleibt ein Geheimnis, daran erinnere ich nochmals. Es wäre wundervoll, den Bezoar samt den Schriften zu finden, doch der Weg dazu führt nicht am Mörder vorbei. Wie es scheint, ist dieser auch der Dieb des Steins. Gaiswinkler, bleib Er an der Sache dran. Wenn Unterstützung gebraucht wird, kann der Obersthofmeister über alles verfügen.“

Damit wurden die zwei entlassen. Sich in einer tiefen Verbeugung nach hinten bewegend, um Seiner Majestät nicht das Hinterteil zeigen zu müssen, verließen sie den Raum. Nahezu im selben Augenblick, in dem sie bei der Tür hinaus und allein waren, verfinsterte sich das Gesicht des Alchemisten wieder. Seine Abneigung gegen einen Menschen, der nicht zu den Gelehrten gehörte, zeigte sich erneut deutlich. Gaiswinkler versuchte, es zu ignorieren. Ihn stimmte es zufrieden, dass Porticus von Rudolf II. zum Reden gebracht worden war und es eine Spur gab, die man verfolgen konnte. Doch wem hatte der Ermordete sonst noch von diesem Stein erzählt, vielleicht wussten auch andere Alchemisten von ihm? In deren magischen Welt und Verflechtungen am Hof kannte er sich allerdings noch viel zu wenig aus. Wer könnte ihm hierbei behilflich sein? Zunächst kam ihm nur Thommerl Niderthor in den Sinn, aber dann, auf den letzten Schritten seines Heimwegs, kurz vor dem Tor des Hauses Grünbühel, fiel ihm plötzlich der weise Apotheker ein.