KAPITEL 22

Am übernächsten Morgen fühlte sich Gaiswinkler fast ganz wiedergestellt. Ob die Heilung lediglich die Salbe oder auch seine wachsende Verliebtheit und die sich immer leidenschaftlicher entwickelnden Zärtlichkeiten, die er mit Božena austauschte, beschleunigt hatten, wusste er nicht. Immerhin waren die Schmerzen nun so weit erträglich, dass er Miguel nach dem Frühmahl bat, ihn zu Thommerl zu begleiten, den er über Besucher bei den Alchemisten ausfragen wollte. Und so ging er wenig später mit dem Trabanten, der sich mehr und mehr als angenehmer Gefährte erwies und fröhlich mit ihm plauderte, die Gassen zum Haus des Hofzwergs hinauf. Das kleine Gebäude lag westlich der Burg, nicht weit von ihrer Befestigung, auf einem Hügel, den die ausgedehnte Anlage des Klosters Strahov und ihre Abteikirche beherrschten, mit einem Blick auf die Weite der ihm inzwischen vertrauter gewordenen Stadt, auf all ihre Turmspitzen, Dächer, kahlen Baumkronen und brachen Felder und den sich dazwischen schlängelnden Fluss. Er verharrte eine kurze Weile. In den Bergen der Alpen aufgewachsen, liebte er es, die Welt aus der Perspektive eines Vogels zu betrachten.

Nachdem sie das Häuschen erreicht hatten, zeigte sich auf ihr mehrmaliges, lautes Klopfen niemand. „Thommerl wird vermutlich oben auf der Burg sein oder mit dem Hund seines Bekannten unterwegs“, meinte Gaiswinkler und beabsichtigte, sich wieder fortzumachen. Doch Miguel hatte die Klinke des Haustors hinuntergedrückt und bemerkt, dass das Schloss unversperrt war, woraufhin er die Tür öffnete. „¡Mierda!“, entfuhr es ihm fast im selben Augenblick. Das schwache Licht der Wintersonne fiel in eine verwüstete Stube. Aus Truhen, Kommoden und Schränken schien alles auf den Boden geworfen worden zu sein. Ein bitter-süßlicher Geruch drang in ihre Nasen, zunächst nicht zuzuordnen, bis er bei Gaiswinkler plötzlich die Erinnerung an den Brand eines Viehstalls erweckte: Es stank nach verbranntem Fleisch.

„Bleibt hinter mir!“, befahl der Trabant leise und zog seine Waffe, bevor sie sich vorsichtig in das Innere des Hauses bewegten. Bereits nach wenigen Schritten bestätigte sich ihre bange Ahnung. Inmitten des Durcheinanders von losen Papieren, Büchern und Kleidungsstücken stand in einem von der Tür nicht gut auszumachenden Winkel des Zimmers ein Stuhl. Auf diesem saß mit nacktem Oberkörper der Hofzwerg. Anstatt der sorgfältig geflochtenen Zöpfe hingen ihm die langen Barthaare wirr vom Kinn. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Pupillen erstarrt, und aus seinem offenen Mund ragte die Zunge weit heraus. Seinen Hals umfasste ein rotblauer Striemen, der an die Kehle des Toten in dem Gässchen auf der Kleinseite erinnerte. Im Unterschied zum ersten Mord offenbarte der Körper des kleinen Mannes jedoch noch ein weiteres grässliches Schauspiel. Thommerl war gemartert worden. Blutige schwarze Brandwunden übersäten seinen Rücken.

Miguel machte sich sofort auf zur Burg, um den Obersthofmeister zu informieren und den Hofmedicus zu holen. Währenddessen betrachtete Gaiswinkler den Leichnam genauer. Dabei fiel ihm ein winziges Stück Papier auf, das kaum sichtbar aus Thommerls verkrampfter rechter Faust herausragte. Vorsichtig versuchte er, es aus den steifen Fingern zu lösen. Der Zettel, den er kurze Zeit später in der Hand hielt, erwies sich aber als wenig aufschlussreich. An mehreren Stellen abgerissen, trug er lediglich die Reste eines in deutscher Sprache verfassten Textes: „…m 13. Novem… ..n ich vom Haus des Alchemisten dem fremden Mann gefolgt. Er ging hinab in ein Palais in der ulica Kar…“

Dem ersten Blick nach zu schließen, schienen die Zeilen aus derselben Feder zu stammen wie die auf den am Bretterboden verstreuten Papiere. Die Form der Buchstabenschnörkel, -bögen und -haken kam ihm nahezu gleich vor. Er sammelte einige der Schriftstücke auf und studierte sie. Es handelte sich um datierte Blätter – ähnlich einem Tagebuch – die sich ausschließlich mit der Beobachtung anderer Menschen, deren Namen nur in Initialen standen, beschäftigten und wohl von Thommerl geschrieben worden waren. Dieser dürfte vieles nicht nur allein ausgekundschaftet haben, sondern für Hinweise auch an Dienstboten herangetreten sein. Je mehr Bögen Gaiswinkler las, desto mehr kam ihm der Verdacht, dass der Hofzwerg Informationen über Leute gesammelt hatte, um sie zu erpressen.

Alle Aufzeichnungen stammten aus diesem Jahr, wobei die aus den letzten drei Monaten – September, Oktober und November – offenbar alle fehlten. Der Fetzen Papier in der Hand des Leichnams schien das einzige Stück zu sein, das aus dieser Zeitspanne noch vorhanden war. Doch was sagte das Wenige darauf aus? Trotz der danach fehlenden Buchstaben konnte man die Silbe „Kar“, wie das böhmische Wort ulica für Gasse nahelegte, wohl als einen Straßennamen deuten. Wen hatte der Hofzwerg dorthin verfolgt? Seinen späteren Mörder? Oder war der Mann, der von einem Alchemisten kam, etwa gar das Mordopfer von der Kleinseite? Vielleicht ließ sich das ja ergründen, wenn sich die Gasse ausforschen und herausfinden ließe, ob jemand in dem sich dort befindenden Palais eine Verbindung zu dem mysteriösen Weniger aufwies.

Noch bevor sich Gaiswinkler weiter damit beschäftigen konnte, kehrte Miguel in Begleitung des Hofmedicus und dessen Helfern zurück. Nachdem sie den Toten auf den Tisch gelegt hatten, beugte sich Giovanni Pietro Magni über den zerschundenen Körper und inspizierte ihn eine gute Weile. „Die Merkmale der Furche am Hals erinnern mich sehr an jene des unbekannten erdrosselten Mannes, den Bartholomäus Spranger, nachdem ich ihn untersucht habe, porträtierte“, erklärte er dann. „Das Strangwerkzeug dürfte bei beiden Opfern von ähnlicher Art gewesen sein. Was dieser arme Mensch jedoch vor seiner Ermordung durchlitt, möchte ich mir nicht näher vorstellen, denn die Brandwunden, die nicht von einem glühenden Eisen, sondern von einer heißen Flamme stammen, sind sehr tief. Jedenfalls muss man ihm auch einen Knebel zwischen die Zähne geschoben haben. Draußen hätte sonst jemand, vor allem, falls er bei Tage gepeinigt wurde, etwas von seinen Qualen gehört.“

„Mir sagte der Obersthofmeister vorhin, dass Thommerl Niderthor am Morgen nicht auf der Burg erschienen ist, obwohl man ihn dort erwartete“, warf der Trabant ein. „Vielleicht wurde die Tat ja bereits in der Nacht verübt.“

„Das kann gut möglich sein. Ganz frisch sieht mir der Tote nämlich nicht mehr aus“, erwiderte der Doktor, bevor er seine Helfer anwies, den kleinen Leichnam fortzutragen, und sich verabschiedete.

Als auch Gaiswinkler und Miguel den Tatort verließen, fragte der Salzamtsgegenschreiber den Trabanten, ob er eine Gasse kenne, deren erste Silbe mit „Kar“ begann. „Da fallen mir im Augenblick nur die Karlsgasse in der Altstadt und die Karmelitergasse auf der Kleinseite ein“, meinte der Leibgardist nach einigem Nachdenken.

„Na gut, wenn es nicht so viele Straßen sind, macht das die Sache nur leichter“, dachte der Ausseer und beschloss, sich am nächsten Tag in den beiden Gassen genauer umzusehen. Aber hing Thommerls Verfolgung des fremden Mannes wirklich auch mit seinem Tod zusammen? Hatte er dabei eine Sache herausgefunden, mit der er jemanden erpressen konnte? Derjenige, von dem der Hofzwerg gemartert und erdrosselt worden war, schien offensichtlich etwas von ihm verlangt zu haben, was er nicht hergeben wollte. Nach den vielen losen Papieren zu schließen, war es vielleicht ein belastendes Schriftstück, nach dem der Täter nach dem Mord noch weitergesucht hatte. Hatte er dieses finden können? Gaiswinkler nahm sich vor, Rumpff zu fragen, ob er das Haus noch einmal in Ruhe begutachten durfte, womöglich hatte der Mörder ja etwas übersehen.

Während es bis vor Kurzem noch keine ernsthafte Spur im ersten Mordfall gegeben hatte, waren jetzt mehrere Anhaltspunkte vorhanden, fast zu viele Hinweise, die in verschiedene Richtungen wiesen: der Bezoar und seine geheimnisvollen Schriften, Porticus und all die anderen, die sich für das Goldmachen interessierten, die ausweichenden Antworten der beiden Konstantinopelreisenden Galeazzo und Alvarez. Und nun, falls die zweite Bluttat wirklich mit der ersten in einem Zusammenhang stand, die Beobachtungen Thommerl Niderthors.

Vor sich hin grübelnd, marschierte Gaiswinkler mit Miguel langsam heim zum Palais Grünbühel. Der Tod erinnerte ihn stets an den alten Spruch „Media vita in morte sumus – Mitten im Leben sind wir im Tod“. Obwohl er den Zwerg erst seit wenigen Tagen gekannt hatte, überkam ihn Traurigkeit. Dass es ihm seit seinem Besuch bei Rudolf II. nur bedingt möglich war, Christoph Praunfalk in seine Überlegungen miteinzubeziehen, stimmte ihn noch trübsinniger, und so war er froh, sich beim Abendmahl – ohne Geheimnisse zu verraten – mit seinem nachdenklich zuhörenden Gefährten länger über die Ermordung des Hofzwergs unterhalten zu können.

„Ich denke, du bist leider vollkommen im Irrglauben, wenn du annimmst, die beiden Mordfälle hätten etwas miteinander zu tun“, meinte Praunfalk schließlich. „Immerhin verwenden Mörder nicht allzu selten einen Strick. Thommerl Niderthor scheint außerdem nicht zimperlich darin gewesen zu sein, über Menschen Dinge zu sammeln, die ihnen unangenehm sind. Da besäßen wohl einige Leute in Prag ein Motiv.“

„Das kann natürlich gut sein und vermutlich hast du recht. Ich möchte die Möglichkeit nur nicht gleich ausschließen, ohne ihr nachzugehen.“

Die grausame Tortur und der Mord an dem kleinen Mann berührten auch Božena. Als ihr Gaiswinkler spätabends in seiner Stube davon erzählte, wandte sie sich kurz von ihm ab, um sich verstohlen Tränen aus den Augen zu wischen. Sie hatte den Hofzwerg zwar nicht persönlich gekannt, war ihm aber in seinen bunten Gewändern öfters auf den Straßen begegnet. „Er schien mir sehr freundlich gewesen zu sein. Stets erblickte ich ihn im Gespräch mit anderen Leuten“, sagte sie und sah Gaiswinkler besorgt an. „In der Stadt scheint ein gnadenloser Unmensch zu wüten. Ich habe Angst, dass du ihm zu nahe kommst, denn ich fürchte, vor so einer Bestie kann dich der Trabant Miguel nicht beschützen.“ Bevor er darauf etwas erwidern konnte, umschlang sie seinen Nacken mit ihren Armen und küsste seinen Mund mit einer immer zügelloser werdenden Zärtlichkeit. Im Unterschied zu den letzten Malen streifte sie nicht nur ihr Kleid, sondern ebenso ihr Untergewand ab. Nackt und warm schmiegte sie sich voller Verlangen an ihn. Und als er dann die rosige Spitze ihres Busens mit seinen Lippen liebkoste und sie dabei seine Hand in ihren bebenden Schoß legte, verlor ihrer beider Begierde in dieser Nacht alle Fesseln und der vorherige Tag etwas von seinem Schrecken.