Vor Wolf Siegmund Rumpff vom Wullross lagen zwei hohe Stöße Akten. Während er versuchte, in den Papierberg Ordnung zu bringen, griff er immer wieder zu dem Teller auf dem Schreibtisch, um sich ein Stück von dem süßen Mandelgebäck in den Mund zu schieben. Genüsslich daran kauend, blickte er merklich nicht unerfreut über die Unterbrechung seiner Arbeit auf, als sein Besucher eine Stunde vor Mittag erschien. Er legte die Schriftstücke augenblicklich zur Seite und bat Gaiswinkler, Platz zu nehmen. Zunächst erkundigte er sich, ob die durch den Überfall verursachten Verletzungen nun schon endgültig ausheilt seien. „Wir wissen leider noch immer nicht, wer die Halunken beauftragte, Euch anzugreifen“, bemerkte er danach. „Einer von den beiden schien aber schon ein paar Mal knapp davor, zu gestehen. Aus diesem Grunde hoffe ich, dass es nicht mehr allzu lange dauert, bis er endgültig mürbe wird und uns den Hintermann preisgibt.“ Dann lehnte sich Rumpff in seinem Stuhl zurück und zwirbelte an seinem Schnurrbart. „Eigentlich habe ich Euch aber herbeordert, um von Euch Bericht darüber zu erhalten, was sich mittlerweile an Neuem in dem Mordfall zugetragen hat“, sagte er, „daher möchte ich nun von Euch hören, welche Erkenntnisse Ihr seit unserer letzten Begegnung dazugewonnen habt.“
Und so begann Gaiswinkler zu erzählen. Über die Gespräche, die er mit Joachim von Eitzing, Heinrich Hoffmann von Grünbühel und Salomon Porticus geführt hatte, über seine Entdeckung im Kästchen des Hofzwergs und seine Verdachtsmomente gegen José Alvarez und Andrea Galeazzo. Dass der Obersthofmeister geduldig lauschte, erstaunte ihn dabei abermals. Woher kam dieses Entgegenkommen? War vielleicht der Kaiser derjenige, der – in Anbetracht von Alchemie und Bezoar – dem mächtigsten Mann seines Hofstaates solch eine Bereitwilligkeit nahegelegt hatte?
„Was Ihr vermutet, ist mir vollkommen neu“, bekundete Rumpff schließlich, verwundert den Kopf schüttelnd. „Davon, dass sich der tiefgläubige Katholik Alvarez mit Dingen beschäftigt, die von der Kirche streng abgelehnt werden, ist mir noch niemals etwas zu Ohren gedrungen. Ich fürchte, das wird Seiner Majestät gar nicht gefallen. Man muss den Jesuiten unbedingt noch einmal ins Gebet nehmen. Ebenso wie den Botschafter aus Mantua. Andrea Galeazzo kommt ja, nach allem, was Ihr gerade ausgeführt habt, nicht nur als Mörder dieses – sich mir zugegebenermaßen immer mehr als dubiose Gestalt erweisenden – Jacob Reniger infrage, sondern auch als der Thommerl Niderthors. Letzteres freilich nur, falls der Zwerg wirklich so vermaledeite Dinge tat, wie es in Eurer Schilderung leise angeklungen ist. Was für eine seltsame Geschichte … Da ich Rudolf II. und seine Suche nach dem Stein der Weisen sehr gut kenne, weiß ich, dass es wohl im Sinne des Kaisers ist, zuerst den Pater zu befragen. Ein Mord wegen des ungewöhnlichen Magensteins scheint bei José Alvarez am wahrscheinlichsten. Ich werde einen reitenden Boten zum Clementinum schicken, damit Ihr ihn noch am heutigen Tage aufsuchen und hoffentlich sein Schweigen brechen könnt.“
Gaiswinkler bedankte sich untertänigst. Nachdem er verabschiedet worden war, warteten er und der Trabant eine geraume Zeit auf die Nachricht des Boten. Erst nach ungefähr zwei Stunden, in denen er so manches über Miguels Heimat Kastilien – eine weite, trockene Ebene mit sehr heißen Sommern und kalten Wintern – erfuhr, konnten sie sich endlich hinab zur Moldau begeben.
Als sie nach der Steinernen Brücke die wenigen Schritte in der Altstadt zum Jesuitenkolleg zurücklegten, machte sich zunehmend ein mulmiges Gefühl in ihm breit. Zwar zählte Hartnäckigkeit, oder besser eiserne Beharrlichkeit, zu seinen Charaktereigenschaften, doch er erinnerte sich an sein erstes Gespräch mit dem Jesuiten, in dem dieser, ebenso zäh wie er selbst, jegliche Auskunft verweigert hatte.
Wieder lagen die Mauern des Clementinums düster und stickig vor ihm. Die Türe wurde ihnen geöffnet, die Freundlichkeit bei der Begrüßung suchte man aber vergeblich. Diesmal blieb ihm sogar ein heuchlerisches Lächeln erspart, José Alvarez blickte ihn lediglich eiskalt an. Es gab nicht einmal ein Gebet, keine konfessionelle Diskussion. Da ihm auch kein Sessel angeboten wurde, ließ sich Gaiswinkler unaufgefordert auf dem am bequemsten aussehenden der drei Armstühle nieder, gegenüber dem Pater, dessen gemästeter Leib über die seitlichen Lehnen seines Sitzes quoll.
„Eure Exzellenz, kommen wir gleich zur Sache“, sagte der junge Ausseer in das Schweigen hinein. Woher er seinen Mut nahm, wusste er nicht. „Ich habe nun aus einer sicheren Quelle erfahren, dass Exzellenz der auf der Kleinseite Ermordete – sein Name ist Jacob Reniger – in Konstantinopel bekannt gewesen ist.“
„Was erlaubt Ihr Euch, so etwas zu behaupten? Und wer wagt es, mir das zu unterstellen? Vermutlich ebenso ein Ketzer wie Ihr“, grollte Alvarez. Die Kälte in seinen Augen war inzwischen blankem Hass gewichen. „Denn nur Häretiker können solche Lügenmärchen verbreiten, sie sind schamlos und haben …“
„Die Konfession trägt hier nichts dazu bei. Ich bin Protestant, der alle anderen ihre Religion ausüben lässt, auch wenn sie Papisten sind. Diese Toleranz erwarte ich ebenso mir und meinen Glaubensbrüdern gegenüber“, fiel ihm Gaiswinkler heftig ins Wort, und als er weitersprach, wurde sein Ton noch forscher. „Es geht nicht darum, welche Religion die Wahrheit verkündet, sondern mit welcher Wahrheit Exzellenz mir helfen kann, einen Mörder aufzuspüren. Die Zehn Gebote, die unter anderem das Töten und das Lügen als schwere Sünde bezeichnen, sind im Protestantismus und im Katholizismus dieselben. Ich habe schon beim letzten Mal gefragt, ob Eure Exzellenz das Mordopfer kannte, und keine Antwort darauf bekommen. Nun stelle ich die Frage noch einmal und hoffe, dass Exzellenz als Christ und Priester mir heute ehrlich erwidern wird.“
Alvarez war völlig stumm geworden, er wirkte eingeschüchtert ob der Entschiedenheit, die ihm entgegengebracht wurde. Eine solche Behandlung hatte er offenbar noch nie erlebt. Schließlich fing er sich jedoch wieder und beschimpfte seinen Besucher diesmal als räudigen Ketzer. Fauchend drohte er ihm an, bei Hof zu melden, wie sich so ein unbedeutender Mensch wie ein protestantischer Salzamtsgegenschreiber gegenüber einem Jesuiten benehme.
Gaiswinkler überlegte aufzugeben, denn es erschien ihm aussichtslos, etwas Sinnvolles aus José Alvarez herauszubringen. Das letzte Wort sollte allerdings noch das Seine sein, und so warf er mit erbitterter Stimme ein: „Der Hass Eurer Exzellenz auf alle Religionen außer dem Katholizismus widert mich an. Am liebsten würde Exzellenz wohl wieder in Ihre Heimat Spanien reisen, um dort all diejenigen zu verfolgen, denen nicht die katholische Konfession eigen ist; zurückkehren in ein Land, in dem für die Verbrennung der Andersgläubigen am Scheiterhaufen ein feierliches Wort geschaffen wurde. In diesen sogenannten Autodafés würde Exzellenz womöglich Ihr Glück finden. Doch Eurer Exzellenz sei gesagt: Die Menschen kommen zu diesem bestialischen Theater nicht, weil sie dadurch frommer werden, sondern lediglich, um sich an dieser Schrecklichkeit zu erfreuen.“ Während seiner Worte hatte Gaiswinkler bemerkt, wie der Jesuit auf seinem Stuhl mit zitternden Händen immer mehr in sich zusammengesunken war, was ihn seinen scharfen Ton etwas bereuen ließ. Doch dieser zeigte Wirkung. José Alvarez hatte jegliche Überlegenheit verloren.
Leichenblass hob er seinen Kopf, und nach einer Weile begann er auch zu sprechen. „Nun gut, ich habe diesen Reniger entfernt gekannt und will in meiner christlichen Güte auch die von Euch herausgeworfene Anschuldigung zur Seite schieben. Ehe ich Weiteres offenbare, muss Euch allerdings bewusst sein: Wenn einer von uns beiden auf dem Scheiterhaufen unter grässlichem Leiden zu Tode kommt und dann seine Zeit im Höllenfeuer mit grausamsten Schmerzen verbringen wird, dann seid Ihr das, denn die Leugnung der Tatsache, dass nur die katholische Kirche die einzig seligmachende ist, bringt Euch für alle Ewigkeit in den Ort der Verdammnis.“ Für einen Augenblick schien es, als ob er wieder in Stillschweigen verfallen würde, aber nach einem kurzen Zögern, während dem er seine Lippen mit der Zunge benetzte, fuhr Alvarez fort: „Dieser Reniger ist mir also in Konstantinopel einige Male über den Weg gelaufen. Er war lästig, ähnlich den Wanzen in den Betten unserer Unterkunft. Ständig suchte er die Nähe zu dem einen oder anderen aus der Gesandtschaft und stellte alle möglichen Fragen. In einen persönlichen Umgang mit ihm kam ich allerdings nie. Ich wüsste auch nicht, aus welchem Grund das hätte geschehen sollen.“
Die Antwort des Jesuiten enthielt erneut eine Lüge, und so entgegnete Gaiswinkler, nicht ohne Nachdruck in seiner Stimme: „Aus einigen Gesprächen mit kundigen Menschen kam ich zu dem Schluss, dass Eure Exzellenz sich mit der Alchemie, die von der katholischen Kirche ja bekämpft wird, beschäftigt. Und das nicht nur in der Theorie der Bücher, nein, Exzellenz scheint großes Bestreben darin zu haben, selbst Gold aus anderen Materien herzustellen. Ist nicht gerade das der Grund, warum Jacob Reniger, der sich offenkundig für magische Steine interessierte, mit Eurer Exzellenz und Euren Leuten in Konstantinopel zusammenkam, wie man erzählt?“
„Zusammenkam?“, schnaubte der Jesuit. „Unsere Ziele waren vollkommen unterschiedliche. Dieser Mensch war besessen von dem Aberglauben. Ich hingegen habe mich immer wieder über die Alchemie weitergebildet, um Argumente gegen diese Zauberei zu erhalten. Falls es aber wirklich einem von diesen Magiern gelingen sollte, den Stein der Weisen zu finden, dann müsste man ihm all das Gold entziehen, um damit die Kirchen zu verschönern, die Heiligenstatuen zu verzieren und den Triumph des Katholizismus zu zelebrieren.“
„Wie äußerte sich diese – wie Exzellenz es nennt – Besessenheit von Reniger?“
„Wie ich hörte, war er völlig entrückt. Er versuchte unter anderem, seltsame Zeichen zu entschlüsseln. Sie sollten ihn zu einer Schrift führen, die Auskunft über irgendeinen Hokuspokus gab. Weit scheint er damals damit aber nicht gekommen zu sein“, murrte Alvarez und betonte nochmals, sich mit der Alchemie bloß beschäftigt zu haben, da er die Sünden und Verbrechen des Volkes habe kennenlernen wollen, um dessen Aberglauben besser bekämpfen zu können.
Dass dies nur eine Ausrede war, die von etwas anderem ablenken sollte, dessen war sich Gaiswinkler bewusst. Und plötzlich schien ihn der Teufel zu reiten, und sein Zorn fand seinen Weg: „Das ist wohl wie bei einem Sodomiten, der es mit Schafen und anderen Tieren treibt und dann behauptet, er habe diese schreckliche Verfehlung nur versucht, um zu wissen, wie man ihrer Herr wird. Dabei wird er aber in der Hölle enden, denn diese schwere Sünde wird in allen christlichen Religionen verfolgt.“
Obwohl er nichts von der Beziehung zwischen zwei Männer erwähnt hatte, wurde die Miene des Jesuiten darauf komplett starr. Eine Mischung von Flüchen und Gebeten murmelnd, warf er seinen Besucher und Miguel, aus dessen Gesicht man nicht lesen konnte, was er sich dachte, hinaus. Gaiswinkler wusste, dass ihn sein Auftreten in große Schwierigkeiten bringen konnte. Sollte sich José Alvarez beim Kaiser beschweren, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf das Verständnis Rudolfs II. zu hoffen.