KAPITEL 28

Hin und her gerissen zwischen Verdruss und Befriedigung über den Ausgang seines Gesprächs, wollte sich Gaiswinkler nach seiner Heimkehr ins Palais in die Bibliothek zurückziehen. Er benötigte eine Beschäftigung, um klarere Gedanken fassen zu können. Die Literatur des Grafen schien ihm dafür die nötige Abwechslung zu bieten. Doch als er das Zimmer betrat, fiel sein Blick auf Helena von Grünbühel, die in einem Buch auf dem Tischchen neben sich blätterte, eher lustlos, wie ihm schien. Noch ehe die Hausherrin ihn wirklich wahrgenommen hatte, machte er, eine Entschuldigung murmelnd, schnell kehrt und zog die Tür hinter sich zu. Seit dem gezänkreichen Abend versuchte er, so gut es ging, eine Begegnung mit ihr zu vermeiden.

Auf dem Gang zu seiner Stube vernahm er plötzlich die Stimme Praunfalks hinter sich: „Matthias, warte!“ Sein Freund kam ihm in Reitstiefeln nach, sein Haar war zerzaust und sein blasses Gesicht gerötet. „Ich war gerade beim Stallknecht und habe ihn gebeten, mein Ross ordentlich zu bewegen. Der junge Gaul wirkt mir sehr unruhig, vorhin hat er mich abgeworfen. Er darf nicht zu lange stehen, sonst macht er Mätzchen. Wenn er weiter so bockt, komme ich auf seinem Rücken nie zurück nach Aussee. Da du der geschicktere Reiter von uns beiden bist, müssten wir dann unsere Hengste tauschen. So bitte ich dich, zu veranlassen, deinen Braunen bis zu unserer Heimreise auch genügend traben zu lassen. Ich benötige ein sanftes Pferd.“

„Das will ich gerne tun“, erwiderte Gaiswinkler, und da ihm Praunfalk genauso ruhelos wie er selbst erschien, schlug er vor, die Stunde bis zum Abendmahl gemeinsam zu verbringen. Zumal er bisher noch nicht dazu gekommen war, ihm von seinem Fund zu berichten.

„Gehen wir in mein Gemach, dort können wir uns ungestört unterhalten. In den anderen Räumen sind mir die Ohren meiner Tante zu groß“, meinte Praunfalk zustimmend.

Der Kamin in seinem Zimmer brannte hell, und nachdem sie einen der Diener um einen Krug mit heißem Wein geschickt hatten, waren die beiden bald gänzlich wohlig durchwärmt. Gaiswinkler streckte auf dem unbequemeren der zwei Stühle die Beine von sich und ließ seinen Freund – nicht weniger eingeschränkt, als es ihm notwendig erschien – die Neuigkeiten seiner Nachforschungen wissen. Mit anderen Dingen beginnend, kam er schließlich auf das Kästchen des Hofzwergs zu sprechen.

„Und welche Schrift war nun in diesem Geheimfach, die mit mir auf die eine oder andere Weise in Verbindung stehen soll? Etwa ein Papier über die Salinen? Das scheint mir kaum möglich zu sein“, unterbrach ihn Praunfalk ungeduldig.

„Nein, das Ganze zeigt sich noch seltsamer. Ich habe ein Tagebuch und ein paar lose dazugehörende Blätter entdeckt. Alles stammt vom Vater deiner angebeteten Veronika.“

„Diese letzte Bemerkung von dir ist vollkommen unangebracht, Matthias. Jedem Blinden fällt auf, wie sehr Božena und du euch begehrt. Ich vermute, eure Leidenschaft ist inzwischen so weit gediehen, dass sie bald ein Kind von dir unter ihrem Herzen trägt. Dann wird meine Tante sie des Hauses verweisen. Ohne jegliches Mitleid und ohne die Zuwendung eines einzigen Groschens. Aber ich denke, dessen seid ihr beide euch bewusst. Und dass es in Aussee keinen guten Eindruck macht, wenn die Braut mit einem geschwollenen Leib vor den Altar tritt, brauche ich dir ja auch nicht zu sagen. Gerade du, dem so viele Mädchen bei uns in der Gegend schöne Augen machen, wärest dann vor schmutzigem Gerede nicht gefeit. Denn jede Maid, die du nicht erhörtest, wird dir, wenngleich du ihr nie etwas tatest, aus Eifersucht eine üble Nachrede anhängen.“

„Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin“, sagte Gaiswinkler, verwundert darüber, dass Praunfalk so scharf reagierte. Hier in Prag schien diesem wirklich eine besondere Laus über die Leber gelaufen zu sein. „Du musst mir jedoch keine Moralpredigt halten, zumal du mich gut genug kennst.“

„Schön, lassen wir das. Ich finde es nämlich fürwahr auch sonderbar, dass du auf das verschwundene Tagebuch gestoßen bist. Und warum hatte es der tote Hofzwerg? Wie kann er an dieses herangekommen sein?“

Nachdem Gaiswinkler ihm – ohne den Bezoar allzu ausführlich zu erwähnen – geschildert hatte, was in den Schriftstücken stand, wurde das Erstaunen seines Gefährten noch größer: „Veronika hat mir ja gesagt, dass ihr Vater oft sehr bedrückt wirkte, so als hätte er eine Sache erlebt, die er nicht bewältigen konnte. Aber dass das mit jemandem zusammenhing, dessen Leiche wir beide Jahre später weit entfernt von Konstantinopel in der Gasse finden, in der Moritz Andraský Ritter von Audráz’ Tochter wohnt, ist viel an Zufall. Ich habe mit Veronika – im Einverständnis ihrer Zieheltern – vereinbart, morgen einen Ausflug mit ihr zu machen. Mein Onkel hat versprochen, mir Kutsche und Kutscher zu leihen. Da könnte ich ihr davon erzählen. Spricht etwas dagegen? Es wäre sicherlich tröstlich für sie, zu erfahren, was ihrem Vater all die Zeit am Herzen lag.“

„Nein, das kannst du ruhig tun, der Obersthofmeister hat gestattet, darüber zu sprechen.“ Gaiswinkler schien es sonnenklar, dass sein Freund die Aufzeichnungen für seine Werbung bei dem Mädchen nutzen wollte. Als er ihm noch seine Überlegungen in den zwei Mordfällen ausführen wollte, hörte ihm dieser kaum mehr zu. Abwesend blickend, war Praunfalk in Gedanken wohl bei der jungen Frau.

Allein mit seinen Annahmen und Zweifeln, blieb auch er dann den Abend über weitgehend schweigsam und nachdenklich, was Božena, obwohl sie ihm nur für einen Augenblick in Begleitung der Gräfin über den Weg lief, bemerkte. Kurz vor Mitternacht kam sie in seine Stube gehuscht und wenig später unter seine Decke geschlüpft. „Was bedrückt dich, Matthias?“, fragte sie, zärtlich seine dichten Locken zausend. Er hatte sich bisher bei ihr genauso wie bei den anderen an sein Schweigegelübde gehalten und ihr nur wenige Einzelheiten zu den Verbrechen erzählt, die ihn beschäftigten. Doch nun, wo sie sich einander immer mehr vertraut fühlten und er mit diesem Mädchen, dem er die Unschuld genommen hatte, sein Leben verbringen wollte, begannen die Worte aus ihm herauszufließen.

„Du weißt ja, der Kaiser hat mir auferlegt, so manches von dem, was ich bei meinen Nachforschungen zu dem Mord auf der Kleinseite vernehme, nicht weiterzugeben“, sagte er und zog sie näher an sich. „Christoph schien sehr enttäuscht zu sein, nicht alles hören zu dürfen. Heute Nachmittag gewann ich erneut den Eindruck, dass seine Freundschaft zu mir deswegen nicht mehr so ist, wie sie einmal war. In den letzten Tagen verbrachte ich viel Zeit damit, zu überdenken, was ich auf die eine oder andere Weise erfahren habe. Aber es fehlt mir jemand, mit dem ich sprechen kann, der mir sagt, wenn ich auf der falschen Fährte bin. Du hast mir das Leben gerettet, und ich bin verrückt nach dir in meiner Liebe, die sich danach sehnt, dich als meine Braut heim nach Aussee zu nehmen. Mit einem Wort, dir, mein Liebstes, möchte ich alles über diesen Mordfall mitteilen und ebenso das, was mich an dem Verbrechen an dem Hofzwerg Thommerl Niderthor beschäftigt. Ich hoffe, dir voll und ganz vertrauen zu können, nichts davon anderen gegenüber zu erwähnen.“

Božena stützte ihre Arme auf seine Brust und sah ihn an. „Wenn du dir bis jetzt meiner nicht sicher bist, scheinst du mir verloren zu sein, Matthias Gaiswinkler.“ Sie schob sich ein Stück weiter zu ihm hinauf und küsste ihn. Erst nach einer Weile sprach sie, eng an ihn geschmiegt, weiter: „Ich möchte nie mehr erfahren, wie es sich ohne dich anfühlt, und denke nur in deinem Sinne. Auch bin ich keine, die ständig herumtratscht und alles, was sie weiß oder zu wissen glaubt, gleich in die Gerüchteküche trägt. Besonders, da die Mehrheit der Rederei der Menschen hier in Prag entweder erfunden ist oder der wahre Kern einer Sache so ausgeschmückt wurde, dass sich diese am Schluss als völlig falsch erweist. Du kannst dich also auf mich verlassen.“

„Darüber bin ich mir vollkommen klar“, meinte Gaiswinkler, und sie noch fester an sich drückend, begann er, ihr die Ereignisse in vollem Umfang zu erzählen. Božena hörte ihm aufmerksam zu, doch von Zeit zu Zeit, wenn ihr seine Schilderung nicht klar genug erschien, unterbrach sie ihn, um das eine oder andere nachzufragen. Ihre Fragen waren klug, was sie wohltuend von vielen der jungen Frauen, die er kennengelernt hatte, unterschied. Mit ihrem wachen Verstand stand sie so manchem seiner Gedanken auch zweifelnd gegenüber.

„Einiges scheinst du mir dabei ein wenig auszublenden“, meinte sie. „Was tat dieser Jacob Reniger all die Jahre zwischen seinem Aufenthalt im Osmanischen Reich und dem in Prag? Verließ dieser seltsame Mensch Konstantinopel allein oder mit seiner Geliebten? Ging sie mit ihm, würde ich sie an deiner Stelle auch nicht so ganz aus den Augen lassen. Wenn sie eine Dirne war, hätte er den Bezoar wohl nach kurzer Zeit käuflich von ihr erwerben können, warum ließ er sich auf eine offenbar engere Beziehung mit ihr ein? Und wenn wir bei Konstantinopel verbleiben, der Botschafter aus Mantua scheint mir derjenige zu sein, der Reniger damals am besten kannte. Ich bin mir bei ihm, nach all dem, was ich von dir über ihn hörte, aber nicht so ganz sicher, ob er sich für den Stein interessierte.“ Gaiswinkler stimmte ihrem Einwand nachdenklich zu. Boženas kritischer Geist zeigte sich auch, nachdem er ihr ungeschönt seinen Verdacht über die Erpressungsversuche Thommerl Niderthors dargelegt hatte. „Ob dieses zerrissene Papierstück, das der Zwerg in seiner Faust hatte, in einem Zusammenhang mit dem ersten Verbrechen steht, finde ich fraglich“, bemerkte sie. „Der Zettel kann sich ebenso gut auf etwas anderes beziehen als eine Sache, mit der er den Mörder in der Hand hatte. Ich kenne leider einige Dienstboten, die gerne Geheimnisse über ihre Herrschaft und deren Bekannte ausplaudern. Es tauchen außerdem des Öfteren Gerüchte auf, dass sich manche von ihnen für das, was sie aufschnappen und weitergeben, bezahlen lassen. Wenn es dir recht ist, kann ich – soweit es meine Zeit ermöglicht – versuchen, mich vorsichtig umzuhören, ob es Getratsch über Hausangestellte gibt, die einem bunt gekleideten Zwerg Informationen über ihre adeligen Herren zukommen ließen, und in welchen Häusern das geschah.“

„Das ist eine feine Idee, doch ich möchte dich auf keine Weise in irgendeine Gefahr bringen, denn dazu bist du mir viel zu lieb geworden“, sagte Gaiswinkler, dem immer deutlicher wurde, welch gute Entscheidung es gewesen war, Božena in sein vertrauliches Wissen einzuweihen, zärtlich. Die beiden rätselten noch eine Zeit lang darüber, ob der Mörder auch den Überfall auf ihn beauftragt hatte, aber dann gaben sie sich bald lieber wieder anderen Dingen hin.