KAPITEL 37

Die Tür des Gemachs, in das sie sich zurückgezogen hatte, fest im Blick behaltend, setzte sich Gaiswinkler wieder. Jetzt, wo er sich allein befand, spürte er erstmals die Anspannung, unter der er seit Stunden gestanden war. Der Wettlauf mit Schrattenbach und das Geschehen auf der Steinernen Brücke schienen ebenso wie das Verhör des Doktors und die hartnäckig leugnende Livia seinem Körper und Geist stärker zugesetzt zu haben als gedacht. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Doch noch blieb ihm keine Zeit zur Ruhe. Zumal er sich nicht sicher dabei wähnte, ob er dem eben Gehörten Glauben schenken durfte. So manches widersprach sich, anderes klang überzeugend. Die Grenze zwischen Unwahrheit und Wahrheit würde man bei einer im Lügen Erprobten vermutlich auch oben auf dem Hradschin nur schwer ziehen können. Während er sein vorhergehendes Gespräch noch einmal hinterfragte, verlor er das Gefühl dafür, wie viel Zeit verging. Nach einer Weile schreckte er von seinen Gedanken auf. Livia müsste wohl längst mit dem Umkleiden fertig sein. So ging er rasch zu der Tür, die er trotz all seiner Überlegungen unentwegt beobachtet hatte. Als er klopfte, rührte sich nichts, auch auf sein Rufen blieb es dahinter totenstill. Voller Unbehagen drückte er die Klinke hinab, und einen Augenblick später starrte er fassungslos in ein leeres Zimmer. Keine Menschenseele war darin. Wo verbarg sich Livia? Sie konnte doch nicht verschwunden sein. Das Gemach hatte keinen anderen Ausgang.

„¡Madre de Dios!“, rief Miguel, der vom oberen Ende des Stiegenaufgangs, an dem er gewacht hatte, herbeigeeilt kam. „Es ist unmöglich, dass uns das Weibsstück entgangen ist!”

Gemeinsam schoben sie die wenigen Möbel zur Seite, um zu überprüfen, ob es dahinter eine Fluchtmöglichkeit gab. Nichts deutete darauf hin. Bis der Trabant in einer Ecke des Raumes über den dunkel gemusterten Teppich stolperte – über eine Stelle, an der das Gewebe eine Falte bildete. Mit einem Ruck zog er den Rand des Knüpfwerks ein Stück weit in die Höhe. Darunter befand sich eine Kette, die am Bretterboden befestigt war – oder genauer gesagt, an einem eisernen Ring einer in den Boden eingelassenen Tür.

„Verdammtes Luder!“, schrie Miguel. Sein Gesicht war purpurrot. Obwohl auch in Gaiswinkler der Ärger hochstieg, versuchte er, einen klaren Kopf zu behalten. Wohin könnte dieser Fluchtweg führen? Nachdem sie an dem Teppich und der Kette kräftig gezogen hatten – womit sich ohne weitere Mühe die Falltür öffnete –, zeigte sich ihnen eine sehr enge Wendeltreppe. Sie musste in einen Wandabschnitt eingemauert sein, den man vom Inneren und Äußeren des Palais nicht als eigenen Bauteil wahrnahm. Dieser schien vom ersten Stock zum Keller zu gehen. Von wo man, von allen hier ungesehen, dann offensichtlich auf irgendeine Weise ins Freie gelangte.

„Lauft zu den anderen Trabanten! Schnell! Livia kann durch eines der Nebengebäude entflohen sein. Sucht auf der Straße und im Garten nach ihr!“, befahl er Miguel, ehe er sich, mit einer Kerze in der Hand, rasch auf den knarrenden und teilweise morschen Stufen der Treppe hinunterzwängte. Er erreichte ein nach Moder stinkendes Gewölbe. Es war von Spinnen und fetten Ratten bewohnt und so feucht, dass das Wasser von den Wänden tropfte. Gaiswinkler stieg hinab auf den Lehmboden, auf dem neben einem seltsamen Büschel grauer Haare ein karminrotes Kleid mit goldener Verzierung lag. Nur wenige Schritte davon entfernt, gab es in einer der Mauern eine Tür. Sie stand halb offen und bot den Blick auf ein finsteres Loch. Ohne zu zögern, schob er sich in das Dunkel hinein, wo er sich nur mühsam fortbewegen konnte. Der Gang, niedrig, glitschig und erfüllt vom Quieken der Nagetiere, die sich um seine Füße drängten, schien endlos zu sein. Nicht nur einmal bereitete es ihm Mühe, nicht auszurutschen und sich gegen die Bisse des gierigen Getiers zu wehren. Immer ungeduldiger werdend und mit dem Gedanken, dass Livia lediglich durch seine Schuld hatte fliehen können, drang er vorwärts. Bis er endlich auf einen hohen hölzernen Widerstand vor sich traf: Ein Tor, das in einen Raum führte, in den durch eine schmale Luke ein wenig Licht fiel, auf eine Menge an Fässern, Krügen und Säcken. Sichtlich befand sich Gaiswinkler nun im Keller des Wirtschaftsgebäudes, von dem man über ein paar Stufen hinauf zum Ende des Gartens gelangte. Als er ins Freie trat, war von jener Frau, die ihn so an der Nase herumgeführt hatte, keine Spur zu sehen. Er erblickte lediglich den Leibgardisten, der hier Wache hielt.

„Ist die Hausherrin hier herausgekommen?“, rief Gaiswinkler ihm zu.

„Nein“, erwiderte der Trabant verwundert, „nur ein altes Männlein mit gebeugtem Rücken und schleppendem Gang. Es hat vorhin durch das Gartentor den Besitz verlassen.“

„Wie sah dieser Mensch aus? Hat er etwas zu Euch gesagt?“

Der Leibgardist schaute auf diese Frage noch verwirrter drein. Eine Klugheit wie die von Miguel schien ihm nicht eigen zu sein. „Er hatte einen zerzausten grauen Bart und trug eine große schwarze Tasche. Sein Mantel und sein Hut waren braun. Er redete nichts, denn er schien stumm zu sein. Auf meine Frage, wo er hinwolle, antwortete er nur mit einem heiseren und unverständlichen Gebrabbel. Wie jeder, der nicht sprechen kann.“

Hatte sich die mit allen Wassern gewaschene Livia als Mann verkleidet? Sich bucklig gegeben, damit nicht auffiel, dass sie kleiner war als die meisten Männer? Sich stumm gestellt, wodurch ihre hohe Stimme und ihr Akzent nicht hörbar wurden? Alles deutete darauf hin. Sie musste ihre Flucht wohl schon länger geplant haben, die Dinge wirkten genauestens vorbereitet. Aber wohin war sie geflohen? Kannte sie einen Unterschlupf, der ihr Zuflucht bot? Gaiswinkler wurde ob all dieser Fragen immer ärgerlicher. Eilig schickte er den Leibgardisten auf die Straße, um nach dem „Männlein“ Ausschau zu halten. Wie sich bald darauf herausstellte, sollte das allerdings vergeblich sein. Livia, in welcher Gestalt auch immer, blieb in den Gassen unauffindbar.

In der Zwischenzeit hatte Miguel von dem Dienstmädchen Ivana, das in der Küche trotz all des Trubels Gemüse putzte, erfahren, dass Václav, dem die Schuld am Mord Renigers zugeschoben wurde, noch schlief. Nach der Meinung der rothaarigen Magd sicherlich aus dem Grund, weil „der trunksüchtige Kerl“, wie sie ihn nannte, am Abend davor wieder einmal „zu viel gebechert“ hatte.

Begleitet von Ivana, die den jungen Ausseer eifrig beäugte, fanden sie Václav tatsächlich schnarchend im Trakt für die Dienstboten vor. Der Diener lag, im Straßengewand und mit Schuhen bekleidet, zusammengekrümmt auf seinem Bett. Trotz lauter Worte und mehrmaligem Rütteln wurde er erst nach einer Weile wach. Er richtete sich mühsam auf und starrte trüb vor sich hin. Außer einem undeutlichen „Was wollt Ihr von mir?“ kam ihm nichts über die Lippen.

„Er hat einen Mord begangen, wir nehmen Ihn jetzt fest und bringen Ihn hinauf zum Hradschin zum Verhör“, sagte Miguel laut und bestimmt.

Václav, der nach Bier und Wein stank und keineswegs nüchtern zu sein schien, rülpste. „Lasst mich … kann alleine gehen … musste ihn töten … war nötig … Olivia … mir ist“, stammelte er noch, bevor er sich in einem großen Schwall vor ihre Füße erbrach. Danach verhielt er sich allerdings so ruhig, dass er ohne Widerstand von Miguel gefesselt werden konnte.

Mit dem Torkelnden, den sie immer wieder stützen mussten, in ihrer Mitte, begaben sie sich auf den Weg zum Hradschin. Es war ein Weg, den Gaiswinkler sehr zwiegespalten zurücklegte, zerrissen zwischen der absehbaren Lösung des Falles und der Niedergeschlagenheit über sein eigenes Versagen. Das erste der beiden Verbrechen schien geklärt zu sein. Mit Václav stand der Täter wahrscheinlich fest. Ob der Diener auch etwas mit dem Mord an Thommerl Niderthor zu tun hatte, würde sich weisen. Livias Aussage, den Hofzwerg nicht gekannt zu haben, durfte man jedenfalls nicht glauben. Das waren die guten Nachrichten, aber es gab auch zwei schlechte: einerseits, dass er Rumpff nur die geheimnisvollen Schriftzeichen überbringen konnte, den Bezoar jedoch nicht, andererseits, dass man die Flucht der mutmaßlich treibenden Kraft der Tat zu einem großen Teil seiner Schuld zuschreiben musste. Und das wog sicherlich am schwersten.

So marschierte er letztendlich ohne jegliches Glücksgefühl zur Burg hinauf, wo sie beinahe sofort beim Obersthofmeister vorgelassen wurden. Wolf Siegmund Rumpff vom Wullross hatte in der letzten Stunde ein Gespräch mit Albrecht Schrattenbach und dem Leibgardisten, der auf der Steinernen Brücke dabei gewesen war, geführt und einen Eindruck von dem Geschehen am frühen Vormittag erhalten. Den Doktor, so fragwürdig er diesen auch fand, hielt er für unschuldig an dem Mord. Bis der Bote mit der Bestätigung aus Konnepisch eintraf, würde er Schrattenbach jedoch auf der Burg festhalten.

Gaiswinkler schilderte ihm kurz, aber eindrücklich das Verhör von Livia, ohne zu verschweigen, dass sie ihm danach entkommen war. Der Obersthofmeister verzog zwar sein Gesicht, als er das hörte, ging aber ohne Kommentar darüber hinweg. Stattdessen bedankte er sich für die letztlich erfolgreiche Untersuchung des Verbrechens: „Ihr habt vieles geleistet. Wir stehen vor der Lösung des Verbrechens auf der Kleinseite. Besonders wichtig wird Seiner Majestät sein, dass die verschlüsselten Hinweise, die zu wichtigen alchemistischen Traktaten führen könnten, nicht in falsche Hände gelangt sind. Bei dem Fall ging es dem Kaiser immer hauptsächlich um diese. Bezoare besitzt er mehrere in seiner Sammlung, auf den einen kann er ohne allzu großen Schmerz verzichten.“

Obgleich Rumpffs Lob Gaiswinkler ein wenig froher stimmte, fiel die Schwere, die ihn bedrückte, durch diese Worte nicht von ihm ab. Als er mit Miguel die Burgräume verließ, war er sehr schweigsam. Das Hin und Her seiner Gefühle blieb.

Im Palais Grünbühel zog er sich dann gleich in seine Stube zurück. Weitere Erklärungen wollte er an diesem Tag vermeiden. Da Božena in der Nacht nicht lange bei ihm bleiben konnte, weihte er sie nur kurz in das Geschehen ein. Bis in die frühen Morgenstunden lag er grübelnd wach. Etwas tief in seinem Inneren schien nicht daran zu glauben, dass die Lösung des Falles wirklich so nahe lag.