KAPITEL 39

Obwohl man von einer der nahen Kirchen bereits das Läuten der Glocke hörte, lag Božena am nächsten Morgen noch neben ihm, als er erwachte. Sie sah im Schlaf so selig aus, dass Gaiswinkler sie nur sanft mit seinen Lippen auf der Stirn berührte, um sie zu wecken. Mit einem Murren, das eher wie ein Schnurren klang, räkelte sie sich. Die Augen aufschlagend, lächelte sie ihn an. Heinrich Hoffmann von Grünbühel hatte am Vorabend nach sehr viel Fürsprache von Praunfalk eingewilligt, sie von der Dienerschaft in seinem Haus freizugeben. Somit stand ihrer gemeinsamen Zukunft in Aussee nun nichts mehr im Wege.

„Auch wenn in deiner Heimat sehr vieles für mich fremd sein wird, bin ich so unendlich glücklich, mit dir gehen zu können“, sagte sie, bevor sie ihn lange küsste. Dann sprang sie aus dem Bett und schlüpfte flink in ihre Kleider. „Bis zu unserer Reise gibt es freilich so einiges für mich zu tun. Ich muss ja all meine Sachen zusammenpacken. Schlaf du aber jetzt noch ein wenig weiter. Und grüble heute nicht mehr zu sehr über die Entscheidung des Obersthofmeisters, mein Schatz.“

Nicht lange, nachdem sie ihn verlassen hatte, blinzelte sie allerdings wieder durch die Tür seiner Stube. Neben ihr stand Miguel. Er schien etwas außer Atem zu sein. Hatte es sich Rumpff anders überlegt? Wollte er die Ermittlungen doch weiterführen?

Der Trabant war jedoch nicht deswegen hier: „Guten Morgen, Matthias. Ich komme im Auftrag Seiner Majestät. Der Kaiser hatte vorhin einen plötzlichen Einfall. Er möchte Euch seine Sammlung zeigen, und der Salzamtsverweser kann Euch dabei begleiten. Ihr müsst Euch allerdings beeilen. Was Seine Majestät sich jäh in den Kopf setzt, soll sofort geschehen.“

So blieb Gaiswinkler diesmal keine Zeit für ein ausgiebiges Bad. Während Miguel zu Praunfalk lief, wusch und rasierte er sich nur schnell bei der Waschschüssel und zog dann das Gewand über, das er auch bei seiner ersten Audienz getragen hatte. Obgleich ihm Rudolf II. beim letzten Mal so freundlich begegnet war und er kaum etwas von der Distanziertheit, die man jenem nachsagte, gespürt hatte, mischte sich in seine Freude, gleich die Ehre zu haben, die legendäre kaiserliche Sammlung zu sehen, immer mehr die Sorge, bei dieser Führung auf dünnem Eis zu gehen. War er dieses Privilegs denn wirklich würdig?

Praunfalk, der sich für Kunst nur wenig interessierte, schien, als er ihn wenig später in der Vorhalle traf, ebenfalls erregt zu sein, wenn auch aus anderen Gründen. Um die Tatsache, dass er Seine Majestät persönlich kennenlernen durfte, würden ihn in Aussee alle, denen er davon erzählte – und das würde er sicherlich ausgiebig tun –, beneiden. Auf dem ganzen Weg hinauf zum Hradschin sprudelte es nur so vor Ungeduld aus ihm heraus. Gemeinsam mit Miguel eilten sie zu dem Teil der Burg, wo sich nicht nur die kaiserlichen Gemächer befanden, sondern auch die Kunstkammer. Durch die ständig wachsende Zahl an Objekten sei es in den Räumen inzwischen aber schon sehr beengt, erzählte der Trabant, und so habe man vor einigen Jahren mit einem Umbau zum nördlichen Burgflügel hin begonnen. Rudolf II. plane, dort über den Ställen zwei große Säle für seine Sammlung zu schaffen.

Miguel führte sie zu einer Tür, die noch verschlossen war. Die beiden Salinenbeamten standen länger davor, denn wie immer ließ der Kaiser diejenigen, die zu ihm kamen, warten. Er näherte sich erst nach einiger Zeit, mit tänzelndem Schritt. Seine Bewegungen wirkten heute leicht gekünstelt, fast wie die eines Schauspielers, und nachdem sich Gaiswinkler und Praunfalk sehr tief vor ihm verneigt und ihn mit den üblichen Formeln begrüßt hatten, sahen sie in seinen Augen auch ein Flackern, das eine gewisse Unruhe verriet. Doch Rudolf II. empfing seine Gäste mit einem freundlichen Lächeln: „Wie ich sehe, hat Er den anderen Ausseer auch mitgebracht, was mich freut. In Seiner Heimat scheint ein eigenartiges Völkchen zu leben. Da ich noch nie dort war, habe ich auch kaum jemanden davon kennengelernt. Ich hoffe, ihr beide von den fernen Bergen und Seen könnt die Welt, die ich euch gleich zeigen werde, verstehen. Lasst uns schnell hineingehen.“ Unruhig von einem Fuß auf den anderen tretend, gab er dem Diener, der ihn begleitete, ein Zeichen, die Tür aufzusperren. In der Hoffnung, dass es nicht einer jener Tage war, in denen die Stimmung Seiner Majestät von einem Augenblick zum anderen umschlug, folgten ihm die zwei Salinenbeamten eine gewundene Treppe hinauf.

In dem großen Raum, der sich ihnen danach öffnete, erstreckten sich vom Boden bis fast zum Gewölbe an drei Wänden in mehrere kleine Kammern gegliederte Regale. Pokale, Schalen, Gefäße und Becher aus Bergkristall, Achat, Amethyst, Lapislazuli, Korallen und Jaspis standen darin neben Bezoarsteinen, indianischem Federschmuck, Rhinozeroshörnern, Kokos- und Seychellennüssen, Alraunen, Muscheln, Fossilien und vielem mehr in einer seltsam anmutenden Anordnung eng aneinander. Darüber schwebten ausgestopfte Pfaue, Schwäne, Pelikane, Strauße, Krokodile, Chamäleons und sogar ein Paradiesvogel von der Wölbung der Decke herab. Mit ihren aufgerissenen Mäulern und Schnäbeln sahen sie bedrohlich aus. All das bot sich in einer düsteren, fast gespenstischen Atmosphäre dar. Es waren nur wenige Kerzenleuchter aufgestellt, und obgleich die Sonne an diesem Vormittag die Wolkendecke immer wieder zerriss, durchbrach sie kaum die kleinen, zum Teil mit Tüchern verhängten Fenster. Wenn sich aber doch einer ihrer Strahlen durch eine der Scheiben verirrte, dann blinkte wie durch Zauberhand von den mit Gold und Edelstein verzierten Sachen ein Glitzern auf, das sich als ein wundersames Farbenspiel im Auge brach.

Nicht bloß einmal blieb Gaiswinkler vor einem der hölzernen Kästen länger stehen. Im Unterschied zu Praunfalk, der sich für dieses Zusammenspiel aus Natur und Kunst nur wenig begeistern konnte und stattdessen die meiste Zeit wie gebannt auf den Kaiser starrte. Immer wieder nahm dieser eines der Stücke in die Hand. Wie versunken streichelte er über die edlen und unedlen Steine, und es schien, als ob er in seinen Gedanken mit ihnen spräche.

„Um ein solches Kunstwerk wirklich zu verstehen, darf man nicht nur schauen“, begann er dann plötzlich voller Begeisterung zu belehren. „Um seine ganze Schönheit zu erfassen, muss man es berühren. Also kommt her und greift die Dinge an!“

Derweil die zwei Ausseer sich nun getrauten, zaghaft einiges zu betasten, erläuterte der Kaiser ihnen vieles davon, so etwa von der Steinschneidekunst, deren Zentrum, wie er sagte, in Norditalien lag. Dabei nannte er Namen und Begriffe, von denen die beiden zuvor noch nie etwas gehört hatten. „Was Ihr hier gerade zu begreifen versucht, ist nur ein Teil meiner Vorstellung von einer Kunst- und Wunderkammer. Die Sammlung muss noch weiter und weiter vergrößert werden. Denn all das spiegelt mir noch allzu wenig von der Gesamtheit der Welt“, erklärte er danach fast wie getrieben.

„Eurer Majestät schwebt also der Makrokosmos im Mikrokosmos vor“, warf Gaiswinkler ein. Er stand vor einem Regal, in dem sich mechanische Apparate und Figuren befanden. Rudolf II. bedachte ihn mit einem erstaunten Blick. Ohne etwas zu antworten, holte er ein vergoldetes Schiff mit prächtig bemalten Segeln und bis ins kleinste Detail gestalteten Figuren aus einem der Fächer heraus und stellte es auf ein Tischchen. Dann zog er es mit einem Schlüssel auf, woraufhin sich der kleine Dreimaster in Bewegung setzte und aus seinen winzigen Geschützen Kanonendonner und Rauch ausstieß.

„Eure Majestät, wo konntet Ihr nur alle diese wunderbaren Sachen erwerben?“, fragte Gaiswinkler voller Verblüffung.

„Es waren sehr unterschiedliche Wege, auf denen all das, was ihr vor euch seht, hierher fand“, bekundete der Kaiser, während er sich mit kindlichem Gemüt an dem dröhnenden Schiffchen wie an einem Spielzeug erfreute. „Einer davon war die Sammlung meines Vaters, die mir allerdings immer zu wenig umfangreich war. Manch andere Dinge erhielt ich durch Geschenke von Gesandten ferner Länder. Das meiste allerdings stammt von Künstlern meines Hofes und von mir Beauftragten, die sich weit über das Heilige Römische Reich hinaus nach Artefakten umsehen. Und so hoffe ich, dass ich in einigen Jahren in den neuen Sälen das Bild der Welt vervollkommnen werde.“

Bevor sie den Raum verließen, zeigte Rudolf II. ihnen – nicht ohne Stolz – einige Erzeugnisse, die er auf einem Drehstuhl selbst gefertigt hatte. Es waren keine großen Kunstwerke, aber schön gearbeitete, einfache Kleinigkeiten aus Elfenbein. „Das Drechseln ist nicht schwer“, führte er aus. „Wenn sich der Elfenbeinzahn zu drehen beginnt, dann lassen sich mit einiger Begabung und scharfen Instrumenten wundersame Muster in ihn schneiden. Es ist eine Tätigkeit, die zwar viel Geschicklichkeit erfordert, aber den Kopf freihält, um nachdenken zu können. Nicht nur einmal ist mir so die Lösung eines Problems eingefallen.“

Während Gaiswinkler sich kaum von den Objekten der Natur hatte losreißen können, lebte Praunfalk im nächsten Zimmer auf. Beim Anblick der unzähligen an den Wänden hängenden Bilder begann er mehrmals, freudig zu grinsen. Es waren wohl weniger deren mythologische Inhalte, die ihn beeindruckten, sondern vielmehr die voller Wollust dargestellten nackten Körper. Was vermutlich ebenso dem Kaiser, dem man ein reges Liebesleben nachsagte, besonders gefiel. Bei einem Gemälde, das am Boden an einem Schemel lehnte und die erste Sünde der Menschheit abbildete, kam Gaiswinkler irgendetwas seltsam bekannt vor. Als er es noch einmal genauer betrachtete, sah er, was es war. In dem Antlitz Adams, der den blassen Leib Evas in enger Umarmung umschloss, glaubte er, vage die Züge Jacob Renigers zu erkennen.

„Bartholomäus Spranger hat dieses Werk erst gestern Morgen fertiggestellt. Ich muss noch einen geeigneten Platz an der Wand dafür auswählen. Die Entscheidung fällt mir nicht leicht“, gab der Kaiser lächelnd zu und meinte dann mehr zu sich selbst: „Soll ich es an die Seite eines anderen Bildnisses von Spranger hängen oder doch lieber neben eines meiner weiteren Hofmaler? In der Nähe von Giuseppe Arcimboldos Werken gefällt es mir nicht, allenfalls nur bei einem der Gemälde mit den vier Elementen, die er für meinen Vater geschaffen hat. Am ehesten wohl dem Feuer.“ Nachdenklich wandte er sich dem Porträt eines Mannes zu, dessen Antlitz aus brennendem Holz, Kerzen, Kanonen und Pistolen sowie den Symbolen des Ordens vom Goldenen Vlies zusammengesetzt war, um dann aber gleich wieder zu sagen: „Nein, besser scheint es mir bei einem Pieter Brueghel oder Tizian zu sein. Wenngleich … vielleicht sollte ich doch etwas Neues versuchen und es neben einer Grafik von Albrecht Dürer platzieren? Denn das würde mir viel Freude bereiten. Dürer und die anderen verstorbenen Meister muss man viel mehr schätzen. Ja, das werde ich tun.“

Rudolf II. wirkte danach immer mehr in sich selbst verloren, und seine Bewegungen wurden fahrig und unruhig. Alles an seinem Gebaren schien darauf hinzudeuten, dass er nun wieder allein sein wollte. Praunfalk, der andächtig davor verharrte, wie Sprangers Feuergott Vulkan der sich nackt vor ihm räkelnden Frühlingsgöttin Maia über die Brüste strich, bemerkte nichts davon. Er war auch sonst wenig sensibel für solche Zeichen. Gaiswinkler hingegen entgingen diese nicht, und so gab er seinem Freund einen Wink, sich aus seiner Verzauberung zu lösen. Tief gebeugt verabschiedeten sich die beiden bald danach submissest von Seiner Majestät. Doch bevor der Kaiser sie entließ, blickte er den Salzamtsgegenschreiber noch einmal wohlwollend an. Mit gütiger Stimme bedankte er sich bei ihm für die Aufklärung der Morde und – trotzdem er, wie er sagte, den Bezoar sehr gern in Händen gehalten hätte – auch für die Rettung der bisher unerforschten Schriftzeichen der Geheimwissenschaften. Er werde diese nun selbst zu entschlüsseln versuchen, um das alchemistische Werk, auf das sie hindeuteten, zu finden.

Woraufhin Gaiswinkler, wie vom Teufel geritten, all seinen Mut zusammennahm: „Es wird Kaiserlicher Majestät vermutlich sehr unverschämt klingen, nach all der Gnade, die Eure Majestät mir erwiesen hat. Aber ich hätte eine große Bitte. Eine Dienerin im Haus Heinrich Hoffmann von Grünbühels hat mir, als ich überfallen wurde, mein Leben gerettet. Wir lieben uns, und ich möchte diese Frau als meine Braut heim nach Aussee nehmen. Wäre es Eurer Majestät möglich, ihr einen Passbrief auszustellen, sodass wir bei der Reise keine Schwierigkeiten bekommen?“

Rudolf II. schmunzelte und versprach, ein solches Dokument nicht nur für Božena, sondern auch für die beiden Salinenbeamten zu erteilen. Und im nächsten Augenblick kehrte er Gaiswinkler und Praunfalk den Rücken zu, um sich allein in seine Sammlung zurückzuziehen.