Mindestens zehnmal hatte Fred Marlin in der letzten Viertelstunde auf die große Uhr im Abfertigungsgebäude gesehen. Der Wagen der Botschaft mit dem Präsidenten der Spartec hätte längst hier sein müssen. Zum x-ten Male trat Marlin ins Freie und blickte die Auffahrt hinunter – nichts. Der Wagen der Botschaft war nirgends zu sehen. Besorgt ging er in die Abfertigungshalle zurück und kramte in seiner Jackentasche nach ein paar Münzen, um zu telefonieren. Er wählte die Nummer des Hilton, doch schon nach der dritten Zahl hörte er das Besetztzeichen. Marlin versuchte es wieder und wieder. Vergeblich. Alle Leitungen waren belegt. Fluchend warf er den Hörer auf die Gabel.
Ein Abfertigungsbeamter der Pan American Airlines kam auf ihn zu.
»Mr. Marlin?«
Er nickte.
»Dürfen wir Sie bitten, an Bord zu gehen? Die Maschine wird in Kürze starten«, forderte er ihn auf.
»Später, ich muss auf Mr. Albright warten.«
Der Abfertigungsbeamte ließ sich nicht abweisen. Höflich, aber bestimmt sagte er: »Mr. Marlin, bitte gehen Sie an Bord. Wir werden Mr. Albright empfangen und zur Maschine bringen. Bitte folgen Sie mir.«
Für einen Augenblick war Marlin unschlüssig, was er tun sollte. Zuerst wollte er der einladenden Handbewegung des Beamten folgen, dann entschied er sich jedoch anders.
»Nein, ich werde selbst auf Mr. Albright warten.«
Der Mann zuckte mit den Schultern und ging.
Er hatte sich erst einige Meter entfernt, als Marlin rief: »Einen Moment bitte!« Ihm war ein Gedanke gekommen. »Könnten Sie den Abflug der Maschine um eine halbe Stunde verzögern?«
Der Beamte sah ihn verständnislos an.
»Es könnte sein, dass Mr. Albright im Verkehr steckengeblieben ist und sich verspätet«, begründete Marlin seine Bitte.
»Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird«, erwiderte der Beamte abweisend, fügte dann aber freundlicher hinzu: »Ich kann das natürlich nicht entscheiden.«
»Und wer kann es entscheiden?«
»Ich weiß nicht. Am besten, Sie sprechen mit Jack Corvey, dem Leiter der Abfertigung.«
»Wo kann ich ihn finden?«
»Kommen Sie, ich werde Sie zu ihm führen.«
Marlin folgte ihm zu einem Büro, das am Ende eines langen Gangs lag. Vor einer offenen Tür blieb der Beamte stehen.
»Ein Passagier der ersten Klasse von Flug 307 möchte Sie sprechen«, sagte er zu dem Mann im Zimmer.
Der kleine Herr hinter dem mit Passagierlisten und Flugplänen übersäten Schreibtisch blickte auf.
Marlin erklärte seinen Wunsch. Jack Corvey lehnte zunächst zwar höflich, aber doch entschieden ab. Er erklärte sich erst bereit, die Bitte zu erfüllen, nachdem Marlin seine ganze Überzeugungskraft aufgewendet hatte. Über eine interne Sprechverbindung ließ er sich mit Flug 307 verbinden und wandte sich nach einem längeren Gespräch mit dem Piloten wieder an Marlin.
»Wir werden den Abflug um eine halbe Stunde verschieben. Länger geht es nicht. Flug 307 muss pünktlich in New York sein, da sonst andere Passagiere ihre Anschlussflüge verpassen.«
Marlin bedankte sich und fragte, ob er telefonieren dürfe. Er wollte noch einmal versuchen, das Hilton zu erreichen.
»Bedienen Sie sich«, sagte Corvey und schob das Telefon hinüber.
Diesmal hatte Marlin Glück.
»Hilton Hotel«, meldete sich eine männliche Stimme.
»Hier spricht Fred Marlin«, stellte er sich vor. »Bei Ihnen hat bis heute Mr. Albright gewohnt, Suite 525. Können Sie mir sagen, wann er das Hotel verlassen hat?«
»Wie war der Name?«, fragte die Stimme.
»D – e – n – n – i – s A – l – b – r – i – g – h – t«, buchstabierte er.
»Einen Augenblick bitte, ich werde nachfragen.«
Marlin musste eine Weile warten, ehe sich die Stimme wieder meldete.
»Mr. Marlin?«
»Ja.«
»Genau kann ich es Ihnen leider nicht sagen, aber der Portier glaubt, dass Mr. Albright das Hotel kurz vor elf Uhr verlassen hat. Er war in Begleitung eines anderen Herrn. Beide sind, soweit er es erkennen konnte, in einem Auto der amerikanischen Botschaft fortgefahren.«
Marlin bedankte sich höflich.
»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte Jack Corvey, der Marlins sorgenvolle Miene sah.
»Scheint so. Mr. Albright hat das Hotel bereits gegen elf Uhr verlassen. Jetzt haben wir schon nach zwei. Selbst wenn er in einen Stau gekommen wäre, hätte er längst hier sein müssen.«
»Möglich, aber bei dem Verkehr hier kann man das nie so genau sagen«, versuchte Corvey ihn zu beruhigen.
Marlin holte sein Notizbuch aus der Jackentasche und suchte nach der Telefonnummer. Seine Geduld wurde wieder auf eine harte Probe gestellt, aber schließlich meldete sich die Vermittlung. Marlin ließ sich mit dem Büro des Wirtschaftsattachés verbinden. Betty, Miles Fullertons Sekretärin, meldete sich. Mit wenigen Worten erklärte er ihr die Situation, aber auch sie konnte ihm nur sagen, dass der Wirtschaftsattaché morgens zum Hilton gefahren war, um mit Albright die Presseerklärung abzustimmen und ihn anschließend zum Flughafen zu bringen. Die Sekretärin war zwar etwas verwundert, dass ihr Chef noch nicht am Flughafen angekommen war, zeigte sich aber nicht beunruhigt, da Fullerton erst um vier Uhr zurückerwartet wurde. Als Marlin die Befürchtung äußerte, ihr Chef könnte vielleicht einen Unfall gehabt haben, beruhigte sie ihn.
»Ich bin sicher, dass nichts passiert ist. Er hätte uns sonst bereits informiert. Sein Wagen ist mit Funktelefon ausgestattet.«
»Können Sie Mr. Fullerton erreichen?«
»Sicher.«
»Würden Sie dann bitte versuchen, ihn anzurufen, und ihn fragen, wann er am Flughafen eintreffen wird? Es ist äußerst wichtig. Ich habe veranlasst, dass der Start unserer Maschine um eine halbe Stunde verzögert wird.«
»Ich werde mich sofort mit Mr. Fullerton in Verbindung setzen. Wo kann ich Sie erreichen?«
Marlin gab ihr Jack Corveys Telefonnummer.
Während er auf den Rückruf wartete, ging er unruhig im Büro auf und ab. Endlich klingelte das Telefon. Corvey griff zum Hörer.
»Pan American Airlines«, meldete er sich. Dann reichte er Marlin den Hörer. »Für Sie, die Botschaft.«
»Hier Marlin.«
Die Stimme, die er hörte, hatte ihren selbstsicheren Klang verloren. »Mr. Marlin, hier ist Betty. Ich habe Mr. Fullerton nicht erreichen können. Ich versteh das nicht, denn das Autotelefon muss immer besetzt sein, wenn der Wagen außerhalb der Botschaft ist.«
Verdammt, also doch ein Unfall, durchfuhr es Fred Marlin, denn anders konnte er sich nicht erklären, warum der Anruf nicht beantwortet worden war. Hoffentlich war den Insassen nichts …
»Mr. Marlin, sind Sie noch am Apparat?«, riss Betty ihn aus seinen Gedanken.
»Eh, ja, entschuldigen Sie«, sagte er und fuhr nach kurzem Zögern fort: »Könnten Sie nicht einen Wagen losschicken, der die Strecke vom Hilton bis zum Flugplatz abfährt? Ich befürchte, sie hatten doch einen Unfall.«
»Ich werde sofort mit unserem Sicherheitsbeamten sprechen«, versicherte Betty. »Ich rufe zurück.«
Während Marlin mit der Botschaft sprach, hatte Corvey wiederholt nervös auf die Digitaluhr in seinem Büro gesehen. Sobald Marlin aufgelegt hatte, sagte er: »Sir, Sie müssen sofort an Bord gehen. Flug 307 wird in wenigen Minuten starten. Kommen Sie!«
Marlin schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier.«
»Wie Sie wollen«, sagte Corvey resignierend, griff zum Telefon und gab Flug 307 nach New York zum Start frei.
Marlin brauchte nicht lange auf Bettys Rückruf zu warten. Schon nach zehn Minuten informierte sie ihn, dass ein Fahrzeug unterwegs sei, um die Strecke zwischen Botschaft, Hotel und Flughafen abzufahren.
Corvey bot ihm an, bei einem Kaffee in seinem Büro zu warten, doch Marlin war zu nervös, um ruhig sitzen zu können. Er bedankte sich für die Unterstützung und ging in die Abfertigungshalle zurück.
Gegen fünf Uhr abends sah er endlich ein Fahrzeug der Botschaft die Auffahrt zum Abfertigungsgebäude heraufrasen. Ein langer, schlaksiger Amerikaner trat in die Halle und blickte sich suchend um. Als er Marlin entdeckte, eilte er auf ihn zu und sprach ihn mit breitem texanischen Akzent an.
»Schätze, Sie sind Fred Marlin.«
Als Marlin nickte, streckte er ihm die Hand entgegen und stellte sich vor: »Stan Harper, Sicherheitsbüro der Botschaft.«
»Haben Sie sie gefunden?«, fragte Marlin, anstatt ihn zu begrüßen.
»Nee, keine Spur, bin die Strecke zweimal abgefahren – nichts. Nirgendwo eine Spur von unserer Limousine.«
»Das ist doch unmöglich. Sie kann doch nicht vom Erdboden verschwunden sein.« Aus Marlins Stimme klang ernste Besorgnis.
»Tja – sollte man meinen, ist aber so. Am besten, Sie kommen mit zur Botschaft. Mein Boss will ’n paar Worte mit Ihnen wechseln. Wir können uns im Wagen weiter unterhalten.«
Harper schob seinen Kaugummi von einer Seite seines breiten Mundes auf die andere und drehte sich um, ohne auf Marlins Zustimmung zu warten.
In der Botschaft führte Harper ihn sofort zum Chef des Sicherheitsbüros. Aber auch dieses Gespräch brachte keine Klärung.
Um sieben Uhr abends waren die Beamten des Sicherheitsbüros endlich überzeugt, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste. Der Chef des Sicherheitsbüros informierte den Botschafter über die Lage, und um sieben Uhr fünfundvierzig wies der Botschafter ihn an, die ägyptische Regierung um Unterstützung zu bitten.
Die Regierung versprach, sofort eine Großfahndung einzuleiten. Es sollten jedoch mehrere Stunden vergehen, bevor die Polizei alarmiert wurde. Erst um ein Uhr morgens waren die ersten Polizeistreifen mit den Fahndungsdaten ausgestattet und konnten mit den Nachforschungen beginnen.
Als um fünf Uhr morgens immer noch keine Meldungen über den Verbleib des Wirtschaftsattachés und des Präsidenten der Spartec vorlagen, wurde in der Botschaft ein Krisenstab eingerichtet. Gleichzeitig ließ sich der Botschafter mit Washington verbinden und meldete dem Außenminister, dass der Präsident der Spartec, der Wirtschaftsattaché sowie dessen Fahrer spurlos verschwunden seien.
Endlich, gegen sieben Uhr morgens, war die Fahndung der ägyptischen Polizei voll angelaufen. Die Ausfallstraßen wurden hermetisch abgeriegelt. Auf den Überlandstraßen patrouillierten Polizeistreifen. Die Altstadt wurde durchkämmt.
Als Marlin gegen zehn Uhr vormittags müde und zerschlagen ins Hotel zurückkehrte, hatte die Großfahndung noch keinen Erfolg gezeigt. Die Limousine der Botschaft war wie vom Erdboden verschluckt.