Kapitel 4

Susan blinzelte schlaftrunken zum Fenster. Ein Sonnenstrahl fiel durch die halbgeschlossenen Vorhänge und traf ihr Gesicht. Brummend drehte sie sich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen. Vergeblich, der Sonnenstrahl hatte sie geweckt. Ein Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch sagte ihr, dass es noch nicht mal acht Uhr war. Zu früh, um aufzustehen, dachte sie. Ihre Mutter war eine notorische Langschläferin und würde sicherlich nicht vor neun aus den Federn kommen. Susan fröstelte, und sie zog sich die Decke bis unters Kinn. Trotz des herrlichen Frühlingswetters war es kühl im Zimmer. Zu kalt, fand sie, aber ihre Mutter liebte diese kühle Frische und hatte bereits vor Tagen die Klimaanlage wieder eingeschaltet.

Susans Blick glitt durch den Raum und blieb an jedem Gegenstand hängen – an den duftigen Gardinen, den in Weiß und Altrosa bemalten Schränken und an dem mit buntem Stoff bezogenen Sessel. Obwohl sie schon sechsundzwanzig Jahre alt war, war sie gerührt, denn ihre Mutter hatte das Zimmer genauso eingerichtet, wie sie es von zu Hause gewohnt war. Zu Hause, das war für Susan die Zeit, als ihre Eltern noch zusammen in dem großen Haus in Washington, D.C., lebten. Kurz nachdem sie ausgezogen war, um das College zu besuchen, hatte sich ihre Mutter scheiden lassen. Als Susan damals, vor acht Jahren, von der Trennung hörte, war es für sie ein Schock gewesen, denn sie vergötterte ihren Vater und liebte ihre Mutter. Sie hatte lange gebraucht, bis sie darüber hinweggekommen war. Sie wusste, dass die Scheidung der Eltern auch der eigentliche Grund war, warum sie bis heute noch nicht geheiratet hatte.

Ihre Ehe, so hatte ihre Mutter später einmal erzählt, musste im Laufe der Jahre einfach auseinandergehen, denn ihr Mann, Dennis Albright, Präsident der Spartec, lebte ausschließlich für die Firma. Mit ihr war er in Wirklichkeit verheiratet; ihr widmete er seine ganze Aufmerksamkeit. Für Frau und Tochter blieb nur wenig Zeit übrig. Ihre Eltern hatten sich ohne Groll getrennt. Sie blieben Freunde, und jeder nahm Anteil am Geschick des anderen, ein Umstand, der es Susan leichter gemacht hatte, die Scheidung zu verarbeiten.

Ihre Mutter war nach der Trennung in ihre Heimatstadt Lynchburg gezogen und hatte sich ein kleines Haus gekauft. Hier richtete sie Susan ein Zimmer ein, das sie an ihre Jugend erinnern und in dem sie eine Heimat finden sollte. Susan war ihr dafür noch heute dankbar, denn dieser Raum war zu ihrem Refugium geworden. Ein Platz, den sie immer aufsuchte, wenn sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Auch diesmal hatte sie sich hierher  zurückgezogen, weil sie mit ihren Gefühlen und Plänen für die Zukunft ins Reine kommen wollte. Da sie an ihrer Doktorarbeit schrieb, konnte sie es sich leisten, so lange zu bleiben, wie sie wollte.

Susan schnupperte. Es roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee. In der Küche klapperte Geschirr. Es war wie Morgenmusik für sie. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett – sie fühlte sich so wohl und geborgen wie schon lange nicht mehr. Aufzustehen und sich an einen gedeckten Frühstückstisch zu setzen, ja umsorgt zu werden, tat ihr gut, versetzte sie in eine fröhliche Stimmung. Sie legte sich auf den Rücken und machte ihre tägliche Morgengymnastik, ohne sich dabei sonderlich zu strapazieren. Danach ging sie ins Bad und musterte im Spiegel kritisch ihre gertenschlanke, wohlproportionierte Figur. Zufrieden, auch nicht das kleinste Fettpölsterchen entdeckt zu haben, stellte sie sich unter die Dusche und ließ das kalte Wasser über ihren Körper rinnen. Nach dem Bad schlüpfte sie in eine luftige Bluse und in eine enganliegende Jeans. Make-up legte sie nicht auf. Sie hatte es nicht nötig. Ihr schmales Gesicht, das von einer blonden Lockenpracht umhüllt war, zeigte die gesunde Bräune eines Menschen, der sich viel an der frischen Luft aufhält. Ihre Züge waren feingeschnitten, und hätte sie nicht das typische, scharfkantige albrightsche Kinn besessen, hätte sie als Schönheit gegolten. Wenn Susan dieses Kinn vorschob, was sie meistens tat, wenn sie erregt war, dann konnte selbst der oberflächlichste Beobachter erkennen, dass sie ein gehöriges Maß an Temperament und Entschlusskraft besaß. Der herrische Ausdruck, der sich dann auf ihrem Gesicht widerspiegelte, wurde nur durch ihre großen, tiefblauen Augen gemildert. Ja, diese großen Augen mit dem klaren Blick waren das Erste, was einen Betrachter fesselte.

Susan fuhr mit dem Kamm durch die Lockenfülle, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und ging, zufrieden mit ihrer Erscheinung, die Treppe hinunter.

Ihre Mutter stand am Herd und hantierte mit Pfanne, Speck und Eiern. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war nicht zu übersehen. Beide waren etwa gleich groß und hatten die gleichen ausdrucksvollen Augen. Allerdings war Charlotte Albright nicht mehr so schlank wie ihre Tochter. Kein Wunder, denn sie ging ja auch schon auf die Fünfzig zu. Auch fehlte ihr das energische Kinn der Albrights. Aber im Gegensatz zu ihrer Tochter benutzte sie Puder und Creme, um sorgfältig jedes verdächtige Fältchen zu tarnen, das ihr Alter verraten könnte.

»Guten Morgen, Ma«, rief Susan fröhlich und gab ihr zärtlich einen Kuss auf die Wange.

»Guten Morgen, Liebes, gut geschlafen?«

»Himmlisch, Ma, einfach himmlisch.«

»Fein, dann setz dich und gieß Kaffee ein. Die Eier sind gleich fertig.«

Susan nahm an dem gedeckten Tisch Platz. Orangensaft, Kaffee, Toast, Marmelade und selbstgebackene Blaubeerbiskuits standen auf dem Tisch. Es war wie in alten Zeiten. Ein wehmütiges, aber zugleich glückliches Gefühl überkam sie.

»Weißt du, Ma, ich hatte schon fast vergessen, wie schön es bei dir ist«, sagte sie.

Charlotte Albright stellte die Schüssel mit den Rühreiern auf den Tisch.

»Kein Wunder, du warst ja auch schon über ein halbes Jahr nicht mehr hier.«

Während des Frühstücks unterhielten sich die beiden Frauen über den neuesten Klatsch. Erst nachdem Charlotte Albright den Tisch abgeräumt und die Tassen mit Kaffee nachgefüllt hatte, wechselten sie das Thema.

»Du hast gestern Abend so eine Andeutung gemacht, als ob zwischen dir und John nicht mehr alles stimmen würde. Habt ihr euch gezankt?«

Susan spielte nachdenklich mit dem Griff ihrer Tasse.

»Gezankt? Nein. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Wir … wir sehen uns in letzter Zeit sehr wenig. John ist immer beschäftigt, muss sich um die Firma kümmern, wie er sagt.«

»Fühlst du dich vernachlässigt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.«

Charlotte Albright sah ihre Tochter ernst an. »Kind, wenn du einen Mann in führender Position heiraten willst, dann musst du dir darüber im Klaren sein, dass du nur ein Teil seines Lebens bist. Du wirst die Firma mitheiraten. Besser, du prüfst dich, bevor es zu spät ist, ob du das kannst. Und glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

»Das ist es ja. Ich will nicht, dass meine Ehe so endet wie deine.«

Sofort, nachdem Susan die Bemerkung herausgerutscht war, beugte sie sich vor und streichelte die Hand ihrer Mutter. »Entschuldige, Ma, ich wollte dich nicht verletzen.«

»Du hast mich nicht verletzt, Kleines. Eben weil ich nicht möchte, dass du die gleiche Enttäuschung erlebst, sage ich es dir ja. Als ich heiratete, war ich noch zu jung, um das zu begreifen.«

Susan blickte nachdenklich auf die Tasse in ihrer Hand, so als würde sie die Lösung ihrer Probleme im Kaffee finden.

»Weißt du, Ma«, nahm sie nach einiger Zeit das Gespräch wieder auf. »Ich kenne mich selbst nicht mehr. Es ist ja nicht nur, dass John keine Zeit für mich hat. Das könnte ich verkraften, wenn ich sicher wäre, dass er mich liebt. Es sind so viele kleine Dinge, die mich nachdenklich stimmen, zweifeln lassen. Vor zwei Wochen wollten wir uns nach längerer Zeit mal wieder bei Jacky’s zum Essen treffen. Kurz bevor ich die Wohnung verlassen wollte, rief er an und sagte ab. Er wäre geschäftlich verhindert, sagte er. Ich war natürlich enttäuscht, wie du dir vorstellen kannst. Da ich schon angezogen war, entschloss ich mich, allein zu gehen. Und weißt du, wen ich bei Jacky’s sah? John! Er war in Begleitung einer attraktiven Dame. Sie schienen sich angenehm zu unterhalten. Er bemerkte mich nicht. Am nächsten Morgen rief ich ihn an und stellte ihn zur Rede. Er war in keiner Weise verlegen und sagte, die Dame sei Repräsentantin einer Firma, mit der die Spartecin geschäftliche Verbindung treten wolle.« Susan schwieg, fuhr jedoch, bevor ihre Mutter etwas sagen konnte, fort: »Nun sag nur nicht, dass ich eifersüchtig bin und alles falsch sehe. Ich weiß es selbst. Aber der Vorfall hat mich doch sehr getroffen.«

Ihre Mutter sah sie verständnisvoll an. »Ja, glaubst du denn, dass John dich nicht mehr liebt?«

Wieder dachte Susan einige Zeit nach, bevor sie antwortete.

»Ich weiß es nicht, Ma. Ich weiß es wirklich nicht. Es macht mich wahnsinnig, dass ich auf alle Fragen mit ›Ich weiß es nicht‹ antworten muss. Aber …« Susan brach ab, schien nach Worten zu suchen. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich bin irritiert. Vor unserer Verlobung hat er mich umworben, hatte immer Zeit für mich. Wir haben vieles gemeinsam unternommen, sind in Konzerte gegangen, haben Ausstellungen besucht, halt eben viel zusammen gemacht. Nach der Verlobung hat es angefangen. Immer häufiger hieß es: ›Habe keine Zeit, das Geschäft, du verstehst.‹«

Wieder schwieg Susan. Tränen traten in ihre Augen. Charlotte Albright drängte ihre Tochter nicht. Geduldig wartete sie, bis Susan weitersprach.

»Manchmal habe ich das Gefühl, als hätte sich John nur mit mir verlobt, weil ich die Tochter des Präsidenten der Spartec bin. Du kennst ihn ja, du weißt, wie ehrgeizig er ist.«

»Aber, mein Liebling, das ist doch Unsinn, das bildest du dir nur ein«, versuchte Charlotte zu trösten, obwohl sie den Gedanken so abwegig nicht fand. Sie hatte John Phillip Duncan, den Vizepräsidenten der Spartec, nie so richtig leiden können. Ihr war er zu glatt, zu höflich, ohne richtig herzlich zu sein. Diese Gedanken teilte sie jedoch ihrer Tochter nicht mit, sondern fragte: »Hast du darüber schon mal mit deinem Vater gesprochen?«

»Wie könnte ich! Er sieht doch nur die berufliche Seite, und da ist John für ihn einfach klasse. Meine Gedanken würde er nicht verstehen. Dad war es doch, der die schnelle Verlobung unterstützt hat. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wären wir längst verheiratet. Nein, mit Daddy kann ich über so etwas nicht sprechen.« Susan brach ab, sagte aber gleich darauf mit einem erzwungenen Lächeln: »Aber wir sollten das Thema jetzt lassen. Der Tag ist zu schön, um schon am Morgen Trübsal zu blasen. Ich bin ja hierhergekommen, um mit meinen Gefühlen ins Reine zu kommen.«

Charlotte Albright sah ihre Tochter fragend an. »Weiß John, weshalb du hier bist?«

»Nein, er hat keine Ahnung. Er weiß überhaupt nicht, dass ich hier bin. Ich wollte allein sein.«

Charlotte Albright drängte Susan nicht weiter, über ihre Gefühle zu sprechen. Sie wechselte das Thema und fragte, was sie heute vorhabe. Als ihr Susan mitteilte, dass sie die College-Bücherei aufsuchen wolle, um Nachforschungen über einige Aspekte ihrer Doktorarbeit anzustellen, war die Mutter froh, denn das würde Susan von ihren trüben Gedanken ablenken.

Wie Susan gesagt hatte, fuhr sie noch am Vormittag ins College. Über dem Studium der wissenschaftlichen Bücher hatte sie bald ihre Probleme vergessen. Als sie schließlich das letzte Buch ins Regal zurückstellte und auf die Uhr sah, war sie erstaunt, dass es schon fünf Uhr abends war. Höchste Zeit, nach Hause zu fahren. Sie packte ihre Sachen zusammen und verließ das College. Vor dem Haus ihrer Mutter sah sie einen roten Sportwagen stehen. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Es versprach, ein interessanter Abend zu werden. Schnell eilte sie ins Haus.

»Sieh da, unser Fräulein Doktor«, wurde sie von einem mittelgroßen, untersetzten Mann begrüßt. Sein intelligent wirkendes Gesicht mit der hohen Denkerstirn und den listig blickenden Augen spiegelte aufrichtige Freude wider.

»Tom, welche Überraschung. Ich dachte, du treibst dich in Paris oder London herum.« Herzlich umarmte sie den Freund ihrer Mutter.

Tom Porter war zehn Jahre jünger als Charlotte Albright, und zwischen den beiden herrschte ein herzliches Verhältnis. Keine Liebe, aber eine aufrichtige Freundschaft. Tom war ein bekannter Journalist und hatte Charlotte auf einem der Empfänge der Sparteckennengelernt. Beide waren sich von Anfang an sympathisch gewesen, und nach Charlottes Scheidung hatte sich aus den gelegentlichen Treffen eine Freundschaft entwickelt.

Heiter beantwortete er Susans Frage. »Bin schon seit einer Woche zurück. Habe mich gleich zu deiner Mutter abgesetzt, um mal wieder richtige Hausmannskost zu essen. Das französische Zeug ist ja nur Spielkram.«

Charlotte lachte. »Tom, du bist und bleibst der verfressenste Mensch, den ich kenne. Wenn ich dich so ansehe, glaube ich, du könntest ruhig ein paar Pfunde verlieren.«

Tom Porter machte ein so entsetztes Gesicht, dass die beiden Frauen unwillkürlich lachen mussten. Dann hängte Susan sich bei ihm ein und führte ihn zur Sitzgruppe ins Kaminzimmer.

»Nun erzähl, welcher Story bist du diesmal auf der Spur?«

»Ob du es glaubst oder nicht – keiner! Ich bin arbeitslos«, sagte er, fügte dann aber hinzu, dass er an seinem Lieblingsthema, einer Geschichte über den internationalen Terrorismus, arbeite.

Susan wollte gerade weiter fragen, als das Telefon im Flur klingelte.

»Ich gehe schon«, sagte sie zu ihrer Mutter und eilte in die Diele.

»Hallo«, meldete sie sich. »Ja, hier spricht Susan Albright«, bestätigte sie die Frage des Anrufers, dann hörte sie schweigend zu. Nach ein paar Minuten legte sie langsam den Hörer auf die Gabel und ging ins Kaminzimmer zurück.

»Mein Gott, Kind! Was ist? Du bist ja kreidebleich!«, rief Charlotte.

»Dad wird vermisst – in Kairo«, stammelte Susan schluchzend.