Kapitel 5

Während der Kutter mit dem Pockennarbigen und seinen Begleitern an Bord mit Kurs Libanon das südliche Mittelmeer durchpflügte, eilten sechs Herren zum Weißen Haus. Es waren die engsten Berater des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Als sich alle im Arbeitszimmer des Präsidenten versammelt hatten, informierte der Außenminister sie über das spurlose Verschwinden des Präsidenten der Spartecund des Wirtschaftsattachés sowie dessen Fahrer in Kairo. Außer dieser nüchternen Tatsache konnte er nicht viel berichten. Fast alle Fragen der versammelten Herren blieben unbeantwortet. Da die Informationen sehr dürftig waren, beauftragte der Präsident nach kurzer Beratung den Außenminister, sich mit der ägyptischen Regierung in Verbindung zu setzen. Er sollte seinen Amtskollegen in Kairo um schnelle und unbürokratische Unterstützung bei den Nachforschungen ersuchen. Außerdem übergab er seinem Sicherheitsberater George Barlowsky den Fall zur weiteren Bearbeitung. Damit war Barlowsky für alle Maßnahmen verantwortlich, die zur Auffindung und zur sicheren Rückkehr der Vermissten in die USA erforderlich waren.

Eine halbe Stunde später befanden die Männer sich wieder auf dem Weg zu ihren eigenen Dienststellen.

Kurz darauf klingelte im Büro des Vizepräsidenten der Spartecdas Telefon. Maggie, seine Sekretärin, nahm ab.

»Aero-Space Research and Technology Corporation. Apparat Mr. Duncan«, meldete sie sich.

Eine unpersönlich klingende Stimme antwortete: »Hier ist das Weiße Haus, Büro des Sicherheitsberaters des Präsidenten. Der Herr Sicherheitsberater möchte Mr. Duncan sprechen.«

Maggie wäre fast der Hörer aus der Hand gefallen, so erschrocken war sie. Vor Aufregung zitterte ihre Stimme, als sie antwortete: »Mr. Duncan befindet sich zurzeit nicht in seinem Büro. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Einen Augenblick bitte.«

Es vergingen einige Minuten, bevor sich die Stimme wieder meldete: »Richten Sie Mr. Duncan bitte aus, er möchte umgehend Mr. Barlowsky, den Sicherheitsberater des Präsidenten, anrufen. Es ist sehr dringend. Mr. Barlowsky ist bis einundzwanzig Uhr fünfzig in seinem Büro zu erreichen.«

Maggie notierte die Telefonnummer, die ihr durchgegeben wurde, und sagte: »Ich werde Mr. Duncan sofort informieren.«

Noch immer aufgeregt, eilte sie zum persönlichen Konferenzraum des Präsidenten der Spartec, um ihrem Chef die Nachricht zu überbringen.

John Phillip Duncan hatte sich in dem Sessel, der ausschließlich für den Präsidenten reserviert war, zurückgelehnt und hörte schweigend der erregten Diskussion der Konferenzteilnehmer zu. Er hätte die Besprechung genauso gut in seinen eigenen Büros abhalten können, aber es schmeichelte seiner Eitelkeit, die Räume des Präsidenten zu benutzen.

Duncan war ein Mann voller Widersprüche. Selbst der kritischste Beobachter musste zugeben, dass JPD., wie er im Geschäft genannt wurde, ein auffallend schöner Mann war. Seine männliche Ausstrahlung verfehlte ihre Wirkung auf Frauen nicht. Er war Mitte Dreißig, groß, schlank und hatte eine sportlich gestählte Figur. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, die Haut war braungebrannt, das schwarze Haar modisch geschnitten, die Kleidung elegant und teuer. Er war gebildet und ein charmanter Plauderer. Kurz, er machte den Eindruck eines vollendeten Gentlemans, den sich jeder gerne zum Freund wünschte. Was man nicht sah, vielleicht nie bemerkte, war sein wahrer Charakter. Seine Liebenswürdigkeit, sein Charme kamen nicht von Herzen. Sie waren anerzogen, gespielt.

Duncan stammte aus ärmlichen Verhältnissen, war in den Slums von Chicago aufgewachsen und hatte sich schon früh in Straßenkämpfen behaupten müssen. Seine überdurchschnittliche Intelligenz hatte ihm dabei geholfen und ihn sogar zum Führer einer Gang gemacht. In der Schule fiel den Lehrern schon bald seine außergewöhnliche Begabung auf, und sie hatten ihm geholfen, die High School zu besuchen. Seine Leistungen waren so herausragend, dass er ein Stipendium bekam, mit dem er an jeder Universität der USA studieren konnte. Duncan entschied sich für die altehrwürdige und wohl auch bedeutendste Hochschule der USA, die Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Hier kam er zum ersten Mal mit den Kindern reicher Eltern zusammen und musste lernen, sich in einer völlig anderen Welt durchzusetzen. Er brauchte fast zwei Jahre, bis man ihn akzeptierte. Während der ersten Monate, in denen er viele Demütigungen erdulden musste, hatte er sich geschworen, eines Tages zum Kreis der durch Tradition und Reichtum Auserwählten zu gehören. Er verdrängte seine Vergangenheit und brach jeden Kontakt zu seinen Eltern ab. Da es ihm an Geld fehlte, versuchte er, durch eine besonders liebenswürdige und hilfsbereite Art Freunde zu gewinnen.

Als er später sein Studium als Jahrgangsbester abschloss, hatte er die erste Stufe seines Ziels erreicht. Mit diesem Examen konnte er sich die Firma aussuchen, bei der er arbeiten wollte, und nach eingehender Prüfung entschied er sich für die Spartec. Sie schien ihm die besten Aufstiegschancen zu bieten.

Parallel zu seiner Arbeit bei der Spartechatte er Schauspielunterricht genommen. Er wollte lernen, wie er auftreten musste, um emporzukommen. Diese Bemühungen hatten Erfolg. Es gelang ihm schnell, Dennis Albright auf sich aufmerksam zu machen, und von da an stieg seine Karriere steil an, bis sie ihn schließlich auf den Stuhl des Vizepräsidenten brachte. Unterstützt wurde der Aufstieg noch dadurch, dass er sich um die Tochter seines Chefs bemühte. Er mochte Susan gern, jedenfalls auf seine Art, aber wäre sie nicht die Tochter des Chefs gewesen und damit seiner Karriere förderlich, hätte er sich nicht mit ihr eingelassen, denn sein Typ war sie nicht.

Die schalldichte Tür zum Konferenzsaal öffnete sich, und Maggie trat ein. Die Konferenzteilnehmer blickten erstaunt auf, und der Sprecher unterbrach sofort seinen Vortrag. Verärgert sah Duncan sie an, denn an der Tür war außen zu lesen: Sitzung, geheim, nicht stören! Maggie tat, als bemerke sie die erstaunten Blicke nicht, ging zielstrebig zu ihrem Chef und reichte ihm wortlos einen Notizzettel. Duncan überflog die Nachricht und steckte den Zettel in die Tasche seines Jacketts. Die Männer und Frauen, die um den großen ovalen Tisch herumsaßen, beobachteten den Vizepräsidenten neugierig. Duncan wandte sich seiner Sekretärin zu und sagte barsch: »Sie können gehen.«

Er wartete, bis Maggie die Tür von außen geschlossen hatte, dann sah er die Konferenzteilnehmer bedeutungsvoll an. Als er sicher war, die volle Aufmerksamkeit eines jeden einzelnen zu haben, zog er den Zettel aus der Tasche.

»Meine Damen, meine Herren, ich muss die Sitzung für eine kurze Zeit unterbrechen.« Er machte eine Kunstpause, um die Spannung zu erhöhen. »Das Weiße Haus hat angerufen. Der Sicherheitsberater des Präsidenten erwartet meinen Rückruf.«

Er war mit der Wirkung seiner Worte zufrieden. Die Damen und Herren am Tisch sahen ihn verblüfft an und richteten erstaunte Fragen an ihn.

Duncan hob abwehrend die Hände. »Bitte gedulden Sie sich mit Ihren Fragen, bis ich zurückkomme.«

Er erhob sich und verließ den Raum. In seinem Büro beauftragte er Maggie, ihn sofort mit dem Weißen Haus zu verbinden. Eine männliche Stimme meldete sich: »Barlowsky.«

»Hier spricht John Phillip Duncan von der Spartec. Sie wollten mich sprechen, Sir.«

Ohne einleitende Worte kam der Sicherheitsberater zur Sache. »Der Präsident hat mich beauftragt, Sie darüber zu informieren, dass Mr. Dennis Albright seit gestern Mittag zwölf Uhr Ortszeit in Kairo vermisst wird.«

»Was?«, entfuhr es Duncan spontan. Er war so überrascht, dass er, ganz gegen seine Gewohnheit, eine Gefühlsregung zeigte, bevor er sich seine Reaktion und Antwort überlegt hatte.

»Sie haben richtig gehört«, sagte George Barlowsky. »Mr. Albright ist zusammen mit dem Wirtschaftsattaché unserer Botschaft und dessen Fahrer in Kairo verschwunden. Alle Nachforschungen verliefen bislang ergebnislos. Wir bitten Sie, mit Pressemitteilungen so lange zu warten, bis sich die Regierung geäußert hat. Ich kann mich doch darauf verlassen?«

Duncan bemühte sich, seine Erregung unter Kontrolle zu bringen.

»Selbstverständlich, Sir«, antwortete er mit heiserer Stimme.

»Ich danke Ihnen. Natürlich werden wir Sie über jede weitere Entwicklung sofort informieren.«

Nachdem er Duncan die wenigen bekannten Fakten mitgeteilt hatte, beendete Barlowsky das Gespräch. Zuvor hatte er sich nochmals versichern lassen, dass die Spartecnichts unternehmen werde, ohne sich vorher mit ihm abzustimmen.

Völlig benommen legte Duncan auf. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte, aber dann begann er, fieberhaft nachzudenken. Über eine halbe Stunde saß er in seinem Sessel und überdachte die Lage. Erst als er sich ein klares Bild über die Auswirkung der Situation auf die Spartec, die zu veranlassenden Maßnahmen und sein eigenes Verhalten verschafft hatte, rief er seine Sekretärin zu sich.

»Verbinden Sie mich mit dem Direktor unserer Hauptabteilung für Luftfahrt in San Francisco. Danach möchte ich mit meiner Verlobten sprechen. Sie könnte noch zu Hause sein. Wenn nicht, versuchen Sie es in der Universität. Es ist wichtig!«

Maggie hatte die Aufträge mitstenografiert und wollte das Zimmer verlassen, als er sie fragte: »Hat sich eigentlich Fred Marlin schon zurückgemeldet?«

Maggie sah ihren Chef erstaunt an. Marlin hatte sich noch nie beim Vizepräsidenten zurückgemeldet. Als Privatsekretär des Präsidenten war er nur Albright verantwortlich.

»Nun?«, fragte Duncan ungeduldig, als Maggie nicht sofort antwortete.

»Ich weiß nicht, Sir. Bei mir ist er nicht gewesen – aber er hat sich ja noch nie bei uns zurückgemeldet.«

Duncan überhörte ihre letzte Bemerkung. »Dann treiben Sie ihn auf. Ich wünsche unverzüglich mit ihm zu sprechen«, befahl er. Als seine Sekretärin an der Tür stehen blieb und wartete, ob er noch mehr Aufträge für sie hatte, rief er ungehalten: »Das ist alles. Sie können gehen!«

Die Telefonverbindung mit Charles Hammer, dem Direktor der Hauptabteilung Luftfahrt, war schnell hergestellt. Mit knappen Worten informierte Duncan ihn über den Sachverhalt und bat ihn, ohne vorherige Rücksprache keine Auskunft an die Presse zu geben. Nach dem Telefonat verließ er sein Büro.

»Ich bin wieder im Konferenzsaal«, sagte er zu Maggie. »Wenn Sie meine Verlobte oder Fred Marlin gefunden haben, stellen Sie die Gespräche zu mir durch.«

Im Konferenzraum wurde er schon mit Spannung erwartet. Als er eingetreten war, verstummten die Gespräche, und jeder nahm wieder seinen Platz ein.

»Meine Damen, meine Herren«, begann er, »ich bitte alle Teilnehmer bis auf die Direktoren der Hauptabteilungen, für kurze Zeit den Raum zu verlassen. Die Konferenz geht«, er sah auf seine Uhr, »um zehn Uhr fünfzehn weiter.«

Stühlerücken und erstauntes Gemurmel waren zu hören. Duncan war sich bewusst, dass er durch diese Maßnahme den Boden für alle möglichen Gerüchte und Spekulationen bereitet hatte. Er nahm es in Kauf, wurde doch dadurch die Bedeutung seiner Person unterstrichen. Nachdem der Letzte den Raum verlassen hatte, ergriff er erneut das Wort.

»Meine Herren, was ich Ihnen jetzt sage, bitte ich bis auf weiteres streng vertraulich zu behandeln.« Er sah die vier Männer bedeutungsvoll an, bevor er weitersprach. »Der Sicherheitsberater des Präsidenten hat mich darüber informiert, dass Mr. Albright zusammen mit dem Wirtschaftsattaché unserer Botschaft in Kairo seit gestern Mittag vermisst wird.«

Für einen Augenblick waren die anwesenden Herren zu geschockt, um etwas zu sagen. Doch dann setzte eine erregte Diskussion ein. Neben der Sorge um Albright beschäftigte sie vor allem die Frage, wie sich das Verschwinden des Präsidenten der Spartec auf die Firma und auf die Börse auswirken würde.

»Meine Herren – bitte«, versuchte sich Duncan Gehör zu verschaffen. »Ich glaube, es hat, solange wir noch keine genaueren Informationen haben, wenig Sinn, über mögliche Auswirkungen zu spekulieren. Ich habe Maggie beauftragt, schnellstens Verbindung mit Fred Marlin aufzunehmen. Fred ist anscheinend noch nicht nach Washington zurückgekehrt. Sobald ich mit ihm gesprochen habe, hoffe ich, Ihnen mehr über den Vorfall berichten zu können. Außerdem hat mir der Sicherheitsberater versprochen, mich sofort zu benachrichtigen, wenn neue Erkenntnisse vorliegen.«

Duncan machte eine Pause, damit die anderen sich äußern konnten. Als die Männer schwiegen, fuhr er fort: »Was die Presse und die Börse angeht, halte ich es für zwingend erforderlich, dass wir nach außen nicht das geringste Anzeichen von Uneinigkeit oder Nervosität zeigen. Wenn die Presse Wind von der Sache bekommt – und das wird schnell genug der Fall sein –, müssen wir eine einheitliche Sprache sprechen. Nur so können wir verhindern, dass Mr. Albrights Verschwinden an der Börse negative Auswirkungen zeigt.«

Die Männer nickten. Sie alle waren Spitzenkräfte der Wirtschaft und wussten, wie empfindlich der Finanzmarkt beim kleinsten Anzeichen von Schwäche reagierte.

Duncan, froh darüber, dass die Direktoren der Hauptabteilungen soweit mit seiner Lagebeurteilung übereinstimmten, fuhr fort: »Ich schlage deshalb vor, einen Krisenstab zu bilden. Er wird ein Konzept für unser weiteres Vorgehen festlegen. Im Krisenstab soll jede Hauptabteilung durch ein Mitglied vertreten sein. Die Leitung des Krisenstabs übernehme ich. Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden?«

Die Direktoren gaben, wenn auch zögernd, ihre Zustimmung. Zwei der Herren fürchteten, der Vizepräsident könnte einen zu großen Einfluss im Konzern bekommen, aber sie sahen ein, dass ein einheitliches Handeln notwendig war.

»Gut, dann erwarte ich Ihre Vertreter, sofern keine andere Weisung kommt, morgen früh um acht Uhr. Und nun lassen Sie uns mit der Tagesordnung fortfahren.«

Erst am Nachmittag fand Maggie heraus, dass sich Fred Marlin noch immer in Kairo aufhielt. Das Gespräch zwischen Duncan und dem Privatsekretär des Präsidenten brachte keine neuen Erkenntnisse. Alles, was Marlin zu berichten wusste, war, dass bei der ägyptischen Polizei in den Morgenstunden eine Großfahndung angelaufen war. Alle Ausfallstraßen waren gesperrt, Flugplätze und Häfen wurden überwacht. Bis jetzt ohne Erfolg. Auch die Geheimpolizisten, die die Basare durchstreiften, waren noch auf keine Spur gestoßen. Duncan musste sich mit dieser Auskunft zufriedengeben. Er wies Marlin an, bis auf weiteres in Kairo zu bleiben und jede Neuigkeit unverzüglich an ihn persönlich zu melden.