Zwei Wochen waren seit dem spurlosen Verschwinden der drei Amerikaner in Kairo vergangen. Duncan hatte sein Büro erst spät verlassen, weil er durch eine Pressekonferenz aufgehalten worden war. Jetzt saß er in seinem luxuriösen Apartment in Georgetown und hatte, um nicht gestört zu werden, das Telefon abgeschaltet. Von Zeit zu Zeit an einem Glas Bourbon Whisky nippend, überdachte er erneut die Lage, die nach Albrights Verschwinden für die Spartecund besonders für ihn entstanden war. Das Weiße Haus bemühte sich fieberhaft, in Zusammenarbeit mit der ägyptischen Regierung und anderen befreundeten Staaten eine Spur von den Vermissten zu finden, aber bis jetzt waren alle ägyptischen Polizeimaßnahmen erfolglos geblieben. Man hatte die Straßensperren genauso wie die Überwachung der Flugplätze und Seehäfen nach drei Tagen gelockert und nach weiteren zwei Tagen aufgehoben. Selbst in der Gerüchteküche der Basare erhielten die Polizeispitzel keine Hinweise. Zwar hatte die Spartec gleich nach der öffentlichen Bekanntgabe des Verschwindens eine hohe Belohnung für jeden Hinweis ausgeschrieben, der zur Auffindung der Vermissten führen würde, aber auch das hatte bis jetzt noch keine brauchbare Spur erbracht.
Duncans Gedanken beschäftigten sich jedoch nicht mit diesen erfolglosen Bemühungen. Eine Frage, die ihm ein Reporter am Rande der Pressekonferenz gestellt hatte, bewegte ihn mehr. Auf dem Gang hatte der Reporter ihn gefragt, wer die Spartecweiterführen würde, wenn sich herausstellen sollte, dass Mr. Albright tot sei oder verschollen bliebe. Natürlich hatte er geantwortet, jeder in der Spartec gehe davon aus, dass Mr. Albright wieder auftauchen werde, und somit diese Frage nicht zur Debatte stehe. Aber stimmte das wirklich? War es das, was er, John Phillip Duncan, wirklich dachte oder hoffte? Vierzehn Tage leitete er nun schon die Geschäfte des Konzerns, und er fühlte sich wohl auf dem Stuhl des Präsidenten. Es war, als hätte er das Ziel seiner ehrgeizigen Träume erreicht. Im Innersten seines Herzens fühlte er, dass er sich nie wieder in die Rolle des Kronprinzen hineinfinden könnte. Er hatte den Geschmack von Macht entdeckt, einen Geschmack, der auf seiner Zunge brannte und ihn wie Rauschgift süchtig machte. Ohne Skrupel kam er zu der Überzeugung, dass für ihn nur ein toter Albright ein guter Albright sei. Natürlich musste er diesen Gedanken im tiefsten Winkel seines Herzens verbergen. Nach außen würde er sich weiter als der besorgte, zukünftige Schwiegersohn zeigen. Eine Rolle, die er leicht spielen konnte, selbst Susan gegenüber.
Eine Frage bereitete ihm allerdings Kopfzerbrechen. Er konnte sie nicht mit Sicherheit beantworten, und das machte ihn nervös. Wenn man Albrights Leiche jetzt fände, würde man ihn tatsächlich zum Präsidenten wählen? Er wusste, dass er im Konzern nicht nur Freunde hatte. Das wurde deutlich, als zwei Direktoren nur zögernd seinen Plänen zugestimmt hatten. Vielleicht machten sie sich selbst Hoffnungen auf den Präsidentenstuhl. Das letzte Wort hatten allerdings die Aktionäre, und da sah es für ihn gut aus. Durch die ständigen Pressekonferenzen hatte er viel an Popularität gewonnen. Das Verschwinden von Dennis Albright ermöglichte ihm, aus dem Schattendasein eines Stellvertreters herauszutreten. Aber die Lage würde sich noch in anderer Hinsicht günstig entwickeln. Sollte Albright tot sein, dann würde Susan sicherlich sein Aktienpaket erben. Damit läge die Aktienmehrheit bei seiner Verlobten, und wie ihre Entscheidung hinsichtlich der Besetzung des Präsidentenpostens aussehen würde, stand für ihn fest. Unwillkürlich rieb er sich die Hände, als er daran dachte, wie richtig es gewesen war, sich um Susan Albright zu bemühen.
Es war weit nach Mitternacht, als Duncan zu dem Schluss kam, es wäre das Beste, Dennis Albright bliebe verschollen und er würde Susan so schnell wie möglich heiraten.
Obwohl er spät schlafen gegangen war, wachte er zur gewohnten Zeit auf. Und wie es seine Gewohnheit war, widmete er sich sorgfältig der Morgentoilette. Vom Radio aus dem Wohnzimmer drang Musik bis ins Badezimmer.
Plötzlich fuhr er zusammen. »Verdammt – autsch!«, schrie er.
Er hatte sich mit dem Rasiermesser in die Wange geschnitten, Blut strömte aus der Wunde. Er achtete nicht darauf, sondern stürzte ins Wohnzimmer. Doch die Nachrichten waren schon zu Ende, der Sender brachte wieder Musik. Duncan fluchte. Er blickte auf die Uhr. In einer Minute mussten auf Kanal 6 Nachrichten kommen. Er schaltete den Fernseher ein und starrte gebannt auf den Bildschirm. Blut floss noch immer aus der Wunde, tropfte auf die nackte Brust und auf den Teppich. Er bemerkte es nicht.
»Guten Morgen, Amerika, heute ist Mittwoch, der neunundzwanzigste März«, begrüßte der Nachrichtensprecher die Zuschauer. »Das seit zwei Wochen die amerikanischen Gemüter bewegende rätselhafte Verschwinden des amerikanischen Industriellen Dennis C. Albright und des Wirtschaftsattachés der US-Botschaft in Kairo, Miles Fullerton, ist aufgeklärt. Nach Angaben einer libanesischen Tageszeitung wurden die beiden Männer zusammen mit ihrem Fahrer auf dem Weg zum Kairoer Flughafen entführt und in den Libanon verschleppt. Bei den Entführern soll es sich um Mitglieder der bislang unbekannten Organisation Hizb el Baath el Lubnan, was so viel wie Partei zur libanesischen Wiedergeburt bedeuten soll, handeln. Wie der Tageszeitung zu entnehmen war, fordern die Entführer für die Freilassung der drei Geiseln ein Lösegeld in Höhe von dreißig Millionen Dollar und eine offizielle Erklärung der amerikanischen Regierung, dass sie jede Wirtschafts- und Militärhilfe an Israel einstellen werde …«
Duncan hörte nicht weiter zu. Wie versteinert saß er im Sessel. Alle seine Überlegungen von gestern waren damit hinfällig geworden.
Es dauerte lange, bis er aus seiner Erstarrung erwachte. Sein Gehirn arbeitete jetzt fieberhaft. Vielleicht war die neue Lage doch nicht so ungünstig. Jetzt brauchte er zumindest nicht mehr unter Zeitdruck zu handeln, denn dass Albright in naher Zukunft freikam, war mehr als unwahrscheinlich. Schließlich saßen andere Amerikaner bereits seit Jahren in libanesischer Gefangenschaft. Ob Albright die USA jemals wiedersehen würde, war völlig ungewiss. Auf jeden Fall, so sagte er sich, würde die Zeit für ihn arbeiten.
Aber dass er durch das Fernsehen von der Entführung erfahren hatte, versetzte ihn in Wut. Zähneknirschend ging er ins Badezimmer zurück und beendete seine Morgentoilette.
Als er wenig später aus dem Apartment trat, wartete sein Fahrer Bob Scanner mit der Firmenlimousine vor der Tür. Als der Duncans wütendes Gesicht sah, verkniff er sich die Frage, ob er schon die neueste Nachricht gehört hatte. Er wusste nur zu gut, wie jähzornig sein Chef reagieren konnte, denn er kannte ihn schon von Jugend an. Beide waren sie in den Slums von Chicago aufgewachsen, hatten derselben Jugendbande angehört und so manches getan, was das Licht des Tages scheute. Aus einer Laune heraus hatte Duncan ihn als Chauffeur eingestellt, aber schon bald wurde Scanner klar, dass dieser Job nur einen Teil seiner Aufgaben bildete. Seine zweite Beschäftigung bestand darin, für Duncan jene Arbeiten zu erledigen, die das Gesetz scheuten, und das waren nicht wenige.
Scanner hütete sich, seinen gedankenverlorenen Chef zu stören. Schweigend fuhr er ihn zum Verwaltungsgebäude der Spartec nach Arlington.
Ohne ein Wort mit dem Wachhabenden zu wechseln, eilte Duncan zum Fahrstuhl und fuhr zum zehnten Stock hoch. Immer noch wütend, riss er die Tür zum Vorzimmer seines Büros auf.
»Verbinden Sie mich sofort mit dem Weißen Haus. Ich will den Sicherheitsberater sprechen. Anschließend rufen Sie die Mitglieder des Krisenstabs für neun Uhr zu einer Sitzung zusammen«, befahl er Maggie, ohne sie zu begrüßen.
Er hatte kaum hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch Platz genommen, als Maggie ihm meldete: »Der Sicherheitsberater ist am Apparat.«
»Hier spricht John Phillip Duncan, guten Morgen, Sir«, meldete er sich kurz. »Warum wurde ich nicht über die neue Entwicklung im Fall der Vermissten informiert?« Duncan machte keinen Versuch, seine Verärgerung zu verbergen.
»Guten Morgen, John«, antwortete die ruhige, gelassene Stimme Barlowskys. »Ich kann Ihre Verärgerung verstehen, aber es lag nicht an uns, dass Sie nicht informiert wurden. Seit Mitternacht haben wir versucht, Sie von der Entführung in Kenntnis zu setzen, aber Ihr Telefon war immer besetzt.«
»Scheiße«, entfuhr es Duncan.
»Wie bitte?«
»Oh, entschuldigen Sie, Sir«, sagte Duncan hastig. »Das galt nicht Ihnen. Ich hatte mein Telefon abgeschaltet, um ungestört arbeiten zu können.«
»Das erklärt natürlich unsere vergeblichen Bemühungen. Aber gut, dass Sie anrufen. Ich wollte selbst mit Ihnen sprechen. Wir wollen heute Nachmittag um zwei Uhr die Presse über unsere Haltung im Entführungsfall informieren. Es wäre sicher sinnvoll, wenn wir beide uns vorher abstimmen würden. Könnten Sie mich um elf Uhr in meinem Büro treffen?«
Duncan sah auf seine Armbanduhr und versicherte, er werde pünktlich dort sein.
Kurz vor neun rief Susan an. Mit aufgeregter Stimme sagte sie: »Hallo, John, hast du schon gehört? Vater lebt. Er wurde entführt. Eben sagten sie’s im Radio.«
»Ja, Liebling, ich weiß, habe es heute Morgen im Fernsehen gehört. Ich wollte dich gerade anrufen.«
»Ist das nicht schrecklich? Was sollen wir nur tun? Ich bin ganz durcheinander.«
»Nun beruhige dich erst mal.« Duncan gab seiner Stimme einen beschwichtigenden Klang. »Im Augenblick können wir nichts tun. Wir müssen weitere Informationen abwarten.«
»Abwarten? Wir können doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und nichts unternehmen. Du weißt doch, dass Dad krank ist. Er braucht dringend seine Medizin.« Susans Stimme überschlug sich fast vor Erregung.
»Gewiss, Liebling, ich weiß. Du kannst mir glauben, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Wenn ich sage, dass wir abwarten müssen, dann meine ich natürlich nur für den Augenblick. Ich treffe mich nachher mit dem Sicherheitsberater des Präsidenten, um Möglichkeiten für die Befreiung der Geiseln zu besprechen. Du siehst, ich tue etwas. Überlass nur alles mir. Ich werde doch meinen zukünftigen Schwiegervater nicht im Stich lassen.«
Natürlich wusste er, dass Albright bereits zwei Herzinfarkte überstanden hatte und täglich Medizin nehmen musste. Das war ein Faktor, den er in seinen Überlegungen nicht übersehen hatte.
»Du bist lieb, John.« Susans Stimme klang etwas entspannter. »Entschuldige, dass ich dir unterstellt habe, du würdest nichts tun.«
Duncan konnte durchs Telefon hören, wie sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Schon gut, Liebling, ich weiß, wie schrecklich das für dich sein muss. Aber überlass ruhig alles mir. Ich werde dich heute Abend besuchen, dann kann ich dir erzählen, was ich mit dem Sicherheitsberater besprochen habe.«
»Das geht nicht, ich bin nicht zu Hause, ich bin noch bei meiner Mutter.«
Duncan war verletzt. Susan hatte ihm nicht erzählt, dass sie zu ihrer Mutter fahren wollte. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du deine Mutter besuchen wolltest?«
Er spürte, wie Susan zögerte, bevor sie antwortete. »Ich … ich hatte es mir ganz plötzlich überlegt, und dann ergab sich keine Gelegenheit mehr, dir Bescheid zu sagen, tut mir leid.«
»Okay, verstehe, dann bis heute Abend. Ich rufe dich an. Jetzt muss ich Schluss machen, ich habe gleich eine Besprechung.«
Duncan lehnte sich in seinem Sessel zurück und fragte sich, warum Susan ihn nicht informiert hatte. Ihre Begründung klang wenig glaubhaft. Was mochte dahinterstecken? Die Ungewissheit beunruhigte ihn. Er nahm sich vor, die Gründe für Susans Verhalten herauszufinden.
Die Sitzung des Krisenstabs dauerte nicht lange. Jeder war inzwischen mit dem neuen Sachverhalt vertraut. Man kam überein, das Gespräch mit dem Sicherheitsberater abzuwarten, bevor man mögliche eigene Aktionen plante. Allerdings beauftragte Duncan den Leiter der Abteilung Recht, Vertrag und Finanzen, zu ermitteln, ob die dreißig Millionen Dollar Lösegeld aus eigenen Mitteln bereitgestellt werden konnten.
Auch die Besprechung beim Sicherheitsberater ergab keine neuen Erkenntnisse. Barlowsky informierte Duncan nur darüber, dass die ägyptische Regierung bereits ihre Unterstützung angeboten hatte und dies von der US-Regierung angenommen worden war. Soweit er wusste, sollte ein Oberst des ägyptischen Geheimdienstes in den Libanon fliegen und mit den Entführern Verbindung aufnehmen. Natürlich lagen darüber noch keine Ergebnisse vor. Die beiden Männer einigten sich, nur gemeinsam oder in gegenseitiger Abstimmung zu handeln.