Wohin man auch sah, stapelten sich Bücher und Nachschlagewerke, selbst der Teppichboden war übersät mit Fotokopien wissenschaftlicher Artikel. Nur auf ihrem Schreibtisch hatte Susan Platz gelassen, um den Notizblock und den kleinen transportablen Computer, den sie anstelle einer Schreibmaschine benutzte, unterzubringen. Neben dem Computer lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie lesen wollte. Aber sie war heute Morgen nicht bei der Sache, konnte sich einfach nicht auf den Text konzentrieren. Schon dreimal hatte sie denselben Abschnitt gelesen, ohne ihn zu verstehen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie musste an ihren Vater denken. Heute, auf den Tag genau, waren vier Wochen seit seiner Entführung vergangen, ohne dass sie ein Lebenszeichen von ihm erhalten hatte. Sie machte sich schreckliche Sorgen um ihn. Lebte er überhaupt noch? Sie wusste, wie dringend er seine Medizin benötigte, denn sein Herz war angegriffen. Zwei Infarkte hatte er überstanden. Wie oft hatte sie ihn beschworen, doch endlich die Führung des Konzerns abzugeben und sich auszuruhen, doch er hatte davon nichts wissen wollen.
Tränen traten in Susans Augen, als sie an ihn und sein Schicksal dachte. Es war zum Verzweifeln. Noch vor vierzehn Tagen hatte sie Hoffnung gehabt, ihn bald wiederzusehen. Damals hatte ihr Verlobter gesagt, dass ein ägyptischer Oberst als Unterhändler in den Libanon gereist sei. Doch seit gestern waren ihre Hoffnungen geschwunden. Am Abend hatte sie John Phillip angerufen und von ihm erfahren, dass auch der ägyptische Oberst vermisst wurde. Man nehme an, so John, dass die Entführer ihn entweder getötet oder auch gefangengenommen hatten. Die Nachricht war für Susan ein Schock. Der Strohhalm, an den sie ihre ganze Hoffnung geklammert hatte, war zerbrochen. Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen und über das Schicksal ihres Vaters gegrübelt. Jetzt versuchte sie, die schmerzlichen Gedanken durch die Arbeit an ihrer Doktorarbeit zu verscheuchen. Doch es gelang ihr nicht. Sie musste mit jemandem sprechen, sonst würde sie noch durchdrehen. Sie wollte die Wahrheit wissen, herausfinden, in welcher Lage sich ihr Vater wirklich befand. Die Tröstungsversuche ihrer Mutter und ihres Verlobten halfen ihr nicht. Das Gefühl der Ungewissheit zehrte mehr an ihren Nerven, als es die Wahrheit vermocht hätte.
Susan Albright lehnte sich in ihrem Schreibtischsessel zurück und überlegte, was sie tun sollte. Je länger sie nachdachte, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass nur Tom Porter ihr helfen konnte. Er hatte sich in den letzten Jahren intensiv mit dem internationalen Terrorismus befasst und war auf diesem Gebiet zu einer allgemein anerkannten Kapazität geworden. Er kannte die Situation im Libanon und konnte ihr sicher sagen, womit sie zu rechnen hatte. Leider hatte er Lynchburg längst wieder verlassen und war nach Washington zurückgekehrt. Was sollte sie tun? Nach Washington zurückgehen? War sie nicht gerade zu ihrer Mutter gefahren, um Abstand zu gewinnen, um mit ihren Gefühlen ins Reine zu kommen und hier in aller Ruhe an ihrer Doktorarbeit zu arbeiten? Damit war sie kaum einen Schritt weitergekommen. Die Sorge um ihren Vater hatte alles andere überschattet. Je länger sie nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie nach Washington musste. Hier saß sie zu weit von den Informationsquellen entfernt und musste sich auf das verlassen, was sie von John Phillip erfuhr. Und das war ihr zu wenig. Auch wurde immer klarer, dass sie, solange das Schicksal ihres Vaters ungewiss war, weder die Ruhe hätte, an ihrer Doktorarbeit zu schreiben, noch sich über ihre Gefühle Klarheit verschaffen konnte. Unbewusst schob sie das ausgeprägte, energische albrightsche Kinn nach vom, griff zum Telefon und wählte Tom Porters Büronummer in Washington. Eine weibliche Stimme meldete sich.
»Washington Daily News, wen möchten Sie sprechen?«
»Mein Name ist Susan Albright, bitte verbinden Sie mich mit Tom Porter.«
»Tut mir leid, Miss Albright, aber Mr. Porter ist nicht im Hause. Kann ich eine Nachricht für ihn hinterlassen?«
Susan war enttäuscht. »Nein, danke«, sagte sie, »richten Sie ihm bitte nur aus, dass ich angerufen habe.« Susan wollte gerade den Hörer auf die Gabel legen, als die Frau sagte: »Moment, ich glaube, ich sehe Mr. Porter. Bitte warten Sie.«
Nach einigen Augenblicken hörte Susan Toms vertraute Stimme. »Hallo, Susan, wie geht’s? Lieb, dass du mich anrufst. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Ja, ich muss dich unbedingt sprechen. Es ist sehr wichtig für mich.«
»Sicher, schieß los.«
»Nein, nicht am Telefon. Ich muss dich treffen«, sagte Susan mit eindringlicher Stimme.
»Tja«, antwortete Tom Porter nach einigem Überlegen, »das sieht schlecht aus. Ich bin nur noch heute und morgen in der Stadt. Übermorgen muss ich nach Frankreich. In zehn Tagen bin ich wieder zurück. Hat es so lange Zeit?«
Susan zögerte einen Augenblick, bevor sie sagte: »Wenn es irgendwie geht, hätte ich dich am liebsten noch vor deiner Abreise gesprochen. Wäre das möglich?«
»Tut mir leid, aber ich kann unmöglich nach Lynchburg kommen.«
»Brauchst du auch nicht. Ich will heute nach Washington zurückfahren. Ich halte es einfach nicht mehr aus, hier so untätig herumzusitzen und auf Nachricht von Dad zu warten. Ich muss etwas tun. Deshalb möchte ich dich auch sprechen.«
»Ja, wenn das so ist, habe ich natürlich Zeit für dich. Ab sechs Uhr bin ich zu Hause. Du kannst jederzeit zu mir kommen, und sei es nach Mitternacht.«
»Du bist lieb, Tom«, sagte Susan dankbar. »Ich hoffe, noch vor zehn Uhr bei dir zu sein.«
»Fein, dann bis heute Abend«, antwortete Tom und legte auf.
Susan eilte sofort nach dem Gespräch zu ihrer Mutter und sagte ihr, dass sie nach Washington zurückfahren wolle. Charlotte Albright hielt den plötzlichen Entschluss ihrer Tochter für unsinnig und versuchte, ihr das auszureden. Doch Susan blieb hartnäckig. Trotz aller Proteste ihrer Mutter packte sie ihre Sachen und war schon eine Stunde später unterwegs.
Ihre Wohnung in Arlington erreichte sie kurz nach halb acht. Ohne sich Zeit zum Auspacken zu nehmen, eilte sie ins Badezimmer, um sich von der Reise zu erfrischen. Anschließend rief sie ein Taxi und fuhr zu Tom Porters kleinem Apartment nach Georgetown. Ihren Wagen benutzte sie absichtlich nicht, denn abends war es schier unmöglich, einen Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung zu finden. Georgetown, die stimmungsvolle alte Stadt mit ihren Häusern aus der Kolonialzeit und den feudalen Restaurants, war um diese Zeit Treffpunkt für Diplomaten, Geschäftsreisende, Touristen und unternehmungslustige Einheimische. Das war auch der Grund, warum Tom sich in diesem exklusiven Viertel Washingtons eine Wohnung genommen hatte. Hier war er am Puls der Zeit und in der Lage, bei einem Glas Wein so manche Information aufzuschnappen, die er beruflich verwerten konnte.
Susan klingelte, und Tom öffnete ihr einen Moment später die Tür. Er hatte eine fleckige Schürze umgebunden, und aus seiner Wohnung strömte Susan ein verlockender Duft entgegen. Tom sah sie mit seinen kleinen, listigen Augen fröhlich an.
»Hallo, komm rein! Du hast dich ja mächtig beeilt.«
Susan umarmte ihn freundschaftlich. »Schön, dass du Zeit für mich hast.« Genüsslich sog sie die Luft in ihre Nase. »Bei dir riecht’s verdammt gut. Man könnte direkt Hunger bekommen.«
Tom grinste verschmitzt. »Riecht gut, nicht? Ich hoffe, du hast Appetit mitgebracht. Ich probier gerade ein neues Rezept für Chili con Carne. Ein Kollege hat es mir aus Texas mitgebracht.«
»Was, schon wieder ein neues Rezept?« Susan lachte. »Du musst doch mindestens schon zwanzig haben.«
»Dreißig«, sagte er stolz. »Doch komm rein und mach es dir bequem.« Tom nahm Susans Arm und führte sie ins Wohnzimmer. »Ich muss noch mal in die Küche. Du kannst inzwischen Teller und Gläser hinstellen. Nimm die Weingläser. Ich habe einen exzellenten Rotwein da. Du trinkst doch mit, oder bist du mit dem Auto hier?«
»Nein, nein, ich bin mit einem Taxi gekommen.«
»Braves Mädchen«, sagte Tom und verschwand in der Küche.
Während Susan den Tisch deckte, sah sie sich im Zimmer um. Das Wohnzimmer wurde offensichtlich mehr als Arbeitszimmer genutzt. An allen Wänden standen Regale, in denen sich Bücher und Zeitschriften bis unter die Decke stapelten. Auf einem abgestoßenen Schreibtisch standen ein Computer und ein Drucker. Der Esstisch hatte gerade noch Platz in einer Ecke gefunden. Vor dem Kamin gruppierten sich eine Couch und zwei Schaukelstühle. Die Möbel passten stilmäßig und farblich nicht zusammen, aber das schien Tom nicht zu stören. Er hatte beim Kauf nur auf Funktionsfähigkeit und Bequemlichkeit Wert gelegt. Bevor Susan den Tisch decken konnte, musste sie erst Platz schaffen, denn auch hier lagen Artikel und maschinengeschriebene Konzepte herum.
Junggeselle, dachte Susan kopfschüttelnd und machte sich ans Aufräumen.
»Na, bringst du meine Wohnung durcheinander?«, fragte Tom und grinste Susan freundschaftlich an, während er einen Topf mit dampfendem Chili con Carne auf den Tisch stellte. Unter den Arm hatte er eine Flasche Wein geklemmt. »So, jetzt werden wir uns erst einmal stärken, und danach unterhalten wir uns über deine Probleme.«
Während des Essens sprachen sie mit keinem Wort über die Entführung. Tom erzählte von seinem Buch, das den internationalen Terrorismus zum Thema hatte. Erst als sie das Geschirr in die Küche, die einem Schlachtfeld glich, gebracht und vor dem Kamin Platz genommen hatten, fragte Tom: »So, nun erzähl, wo drückt der Schuh?«
Nachdenklich spielte Susan mit dem Stiel des Weinglases. Ohne Tom anzusehen, begann sie zu sprechen, zunächst zögernd und jedes Wort abwägend, doch nach wenigen Sätzen hatte sie ihre Hemmungen verloren, und sie erzählte Tom alles, was sie in den letzten Wochen bewegt hatte. Vor Eifer und Engagement röteten sich ihre Wangen. Tom merkte, wie das Gespräch sie befreite und die Anspannung langsam von ihr wich. Er unterbrach sie nicht. Aufmerksam hörte er zu. Susan war inzwischen aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Sie hatte ihr Kinn vorgeschoben und sah Tom mit großen blauen Augen an.
»Ich verstehe diese Verbrecher nicht, Tom. Warum entführen sie erst unschuldige Menschen, wenn sie anschließend auch noch Abgesandte, die mit ihnen verhandeln wollen, verschwinden lassen? Und ich«, sie unterstrich ihre Worte mit einer zornigen Handbewegung, »bin überzeugt, dass nur die Entführer meines Vaters für das Verschwinden des ägyptischen Obersten verantwortlich sind.« Sie war vor Tom stehengeblieben und sah auf ihn hinunter. »Mein Gott, Tom, wir müssen etwas unternehmen. Wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen und darauf warten, dass irgendetwas passiert. Tag um Tag vergeht, und nichts, aber auch gar nichts geschieht. Von John höre ich immer nur, wir müssen warten, bis sich die Entführer melden. Ich solle mich nicht aufregen. Alles sei unter Kontrolle, und die Regierung werde ihr Möglichstes tun und so weiter. Alles Quatsch!« Susan stampfte empört mit dem Fuß auf. »Wer weiß, ob Vater überhaupt noch lebt. Er braucht doch täglich seine Tabletten.« Tränen traten in ihre Augen. »Oh, wie ich diese Verbrecher hasse!«
»Verbrecher, sagst du?« Tom sah Susan mit seinen kleinen, listigen Augen an. »Versteh mich richtig, Susan, alles, was geschehen ist, ist zutiefst traurig, ja verabscheuungswürdig, und ich fühle mit dir, möchte dir mit allen Mitteln helfen. Aber ich glaube, das Wort Verbrecher trifft hier nicht zu. Wer auch immer die Entführer sein mögen, sie haben es nicht getan, um sich persönlich zu bereichern, sondern um ein Ideal, einen religiösen Traum, zu verwirklichen. Es sind religiöse Fanatiker, und das macht es auch so schwierig, mit ihnen auf der Basis unserer westlichen Logik zu verhandeln. Ihre Motive sind politischer und religiöser Natur, aber das kann man bei den Moslems sowieso kaum trennen.«
Als Tom sah, wie Susans Augen vor Empörung funkelten, fuhr er fort: »Nun schau mich nicht so empört an, ich fühle ja wie du, aber wenn wir etwas erreichen wollen, dann müssen wir versuchen, diese Menschen zu verstehen. Komm, setz dich wieder. Ich werde versuchen, dir einen Überblick über die Situation im Libanon zu geben.«
Wenig besänftigt folgte Susan seiner Aufforderung.
»Die Männer«, fuhr Tom fort, »die deinen Vater entführt haben, wollen einen schiitischen Gottesstaat im Libanon aufbauen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ihnen jedes Mittel recht. Ob dies ein realistisches Ziel ist und ob die Gruppe es je erreichen kann, ist dabei völlig unerheblich. Für sie ist der Glaube an das Ziel schon die Verwirklichung. Die Methoden, die sie anwenden, nennen wir verbrecherisch, doch sollten wir uns besser jeder moralischen Wertung enthalten. Wir haben wirklich kein Recht dazu. Denk nur an die vielen Gräueltaten, die von den sogenannten zivilisierten christlichen Staaten begangen wurden. England beispielsweise führte mit China einen Krieg, den Opiumkrieg, nur weil China die Einfuhr des Opiums verbot und damit Englands Finanzen empfindlich traf. Oder denk daran, wie unsere Vorfahren die Indianer ausrotteten, oder denk an die vielen Verbrechen, die noch heute im Namen der Staatssicherheit von den Geheimdiensten begangen werden. Nein, so schmerzlich es auch für dich sein muss, eine moralische Wertung steht uns nicht zu. Was die Entführer auch getan haben, sie haben es aus religiösem Fanatismus getan. Und damit kommen wir zu dem eigentlichen Problem. Da ihre Motive in ihrem Glauben verankert sind, ist ein Appell an ihren Gerechtigkeitssinn oder an internationale Spielregeln völlig sinnlos. Ich sehe nur eine Möglichkeit, deinen Vater in absehbarer Zeit freizubekommen, und die besteht darin, den Forderungen der Entführer nachzukommen. Verhandeln, so wie es unsere Regierung will, hat nach meiner Auffassung nur Sinn, wenn die Regierung den Entführern etwas anbieten kann, was das politische Ansehen der Gruppe und damit ihre Macht im Libanon stärkt. Aber ich glaube nicht, dass unsere Regierung dazu bereit ist. Mit leeren Händen zu kommen, halte ich für reine Zeitverschwendung. Tut mir leid, dass ich das so offen sage, aber du wolltest ja ein ungeschminktes Bild haben.«
Susan schwieg. Sie dachte über Toms Ausführungen nach. Schließlich sah sie ihn fragend an.
»Aber der Unterhändler, dieser ägyptische Oberst – er ist doch selbst Moslem. Warum haben sie ihn denn verschwinden lassen? Er gehört doch zu ihnen, zu ihrem Glauben. Wenn deine Schilderung stimmt, dann ist das doch widersinnig.«
»Auf den ersten Blick hast du recht«, erwiderte Tom. »Aber erstens wissen wir nicht, ob hinter seinem Verschwinden wirklich die Entführer deines Vaters stecken, und zweitens halte ich es ohnehin für verfrüht, von einem Verschwinden zu sprechen. Wer weiß, vielleicht befindet er sich im Lager der Entführer und verhandelt und hat nur keine Möglichkeit, mit seiner Regierung Verbindung aufzunehmen. Aber abgesehen davon werden die Ägypter seit ihrem Friedensvertrag mit Israel von strenggläubigen Moslems genauso gehasst wie die Amerikaner, die die Israelis unterstützen. Darüber hinaus aber ist der ägyptische Oberst höchstwahrscheinlich Sunnit, und die Sunniten und Schiiten vertragen sich ungefähr so wie Feuer und Wasser.«
Als er Susans erstaunten Blick sah, erklärte er ihr die jahrhundertealte Feindschaft zwischen den beiden islamischen Religionsrichtungen und versuchte mit drastischen Bildern den Hass zu beschreiben, mit dem sie bis heute gegeneinander kämpften.
Es war weit nach Mitternacht, als Susan endlich Toms Wohnung verließ. Sie hatte in diesen wenigen Stunden viel gelernt. Nur der Frage, wie sie ihrem Vater helfen konnte, der war sie nicht einen einzigen Schritt nähergekommen.