Kapitel 16

Sheila hielt, was sie versprochen hatte. Sie besuchte Tom Porter vormittags, nachmittags und nach dem Abendessen. Die Ärzte hatten nichts dagegen, da sie sahen, wie gut die Besuche ihm taten. Ja, Tom, der eingefleischte Junggeselle, hatte sich Hals über Kopf in Sheila verliebt. Kaum war sie gegangen, wartete er schon ungeduldig auf ihren nächsten Besuch und auf die interessanten Gespräche und Diskussionen. Fast immer drehte sich die Unterhaltung um die Frage: Ist die amerikanische Denkweise der asiatischen überlegen? Es waren anregende, manchmal heiße Diskussionen. Debatten, wie Tom sie liebte. Voll Erstaunen musste er feststellen, dass Sheila auf vielen Gebieten beschlagen, ja ihm überlegen war. Als er sie gefragt hatte, wo sie sich das Wissen angeeignet habe, hatte sie gelacht und geantwortet, dass sie in Teheran, Beirut und Paris Philosophie und Geschichte studiert hatte. Den Iran habe sie erst verlassen, als ihr Bruder, ein hoher Offizier des Schahs, nach der Machtergreifung erschossen wurde.

Drei Tage nachdem Susan und Mark nach Marseille abgereist waren, durfte Porter zum ersten Mal aufstehen. Auf zwei Krücken gestützt, humpelte er zum Eingang des Krankenhauses, um hier auf Sheila zu warten. Gegen zehn Uhr sah er sie die Straße heraufkommen und winkte ihr fröhlich mit einer seiner Krücken zu. Sheila winkte zurück, war aber ungewöhnlich ernst.

»Nanu, so bedrückt? Ist was passiert?«

»Ich glaube schon«, antwortete Sheila. »Aber lass uns erst einen Platz finden, wo wir uns hinsetzen können.«

Tom humpelte neben Sheila zu dem kleinen Park, der hinter dem Krankenhaus lag – eigentlich eher ein Garten. Auf einer Bank unter einem Ahornbaum nahmen sie Platz.

»Nun?«, fragte Tom, während er umständlich seine Krücken zur Seite stellte.

»Gestern Abend, als ich von dir zurückkam, ging ich noch einmal in den Gastraum, um einen Schluck Wein zu trinken. Auf der Theke lag ein Stoß Zeitungen. Ich nahm mir einige, um mich zu beschäftigen. Wenn man so allein herumsitzt und nichts tut, denken die Männer immer gleich, man suche Kontakt. Also, während ich die Zeitungen durchblätterte, fiel mir eine Notiz auf. Hier, ich habe die Zeitung mitgebracht«, sagte Sheila und reichte sie Tom.

Er sah auf das Datum. Es war die Ausgabe von vorgestern. Dann las er die Meldung, die Sheila dick angestrichen hatte.

Gestern Abend, gegen zehn Uhr fünf, ereignete sich auf der Autobahn nach Clermont-Ferrand, kurz vor Andrezieux, ein schwerer Autounfall, bei dem ein Mensch ums Leben kam. Der Fahrer des schwarzen Renault 16 hatte offenbar die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und war in den vor ihm fahrenden LKW gerast. Bei dem Unfall wurde der Renault völlig zertrümmert. Der Fahrer war auf der Stelle tot. Nach den Ermittlungen der Polizei stammte der Wagen aus La Sauve, in der Nähe von Bordeaux.

Tom las die Meldung mehrmals durch, konnte aber auch danach noch nicht verstehen, warum die Nachricht Sheila so erregte.

»Traurig, aber was geht es dich an?«

»Ja, verstehst du denn nicht …?« Sheila schlug sich gegen die Stirn. »Aber du kannst ja gar nicht. Du liegst ja im Krankenhaus. Also, hör zu. Mark Foreman ist mit einem schwarzen Renault 16 von Bordeaux herübergekommen. Der Wagen wurde am Tag des Unfalls um kurz nach sieben Uhr abends abgeholt. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

»Nee.«

»Nun sei doch nicht so begriffsstutzig. Siehst du denn nicht, dass …«

Tom pfiff durch die Zähne. »Du meinst …?«

»Sicher, es könnte gut und gerne der Wagen gewesen sein, mit dem Mark gekommen ist. Die Farbe stimmt, der Wagentyp stimmt, der Wagen hätte zur Unfallzeit am Unfallort sein können, und das Auto war aus der Nähe von Bordeaux. Alles passt zusammen.«

Tom blickte schweigend vor sich hin und dachte nach. Sein journalistischer Spürsinn witterte ein Geheimnis, das es zu ergründen galt. Es dauerte eine ganze Weile, bis er Sheila wieder ansah.

»Und was denkst du?«, fragte er.

»Ich weiß nicht. Es kommt mir nur komisch vor, weil es doch Marks Wagen war. Vielleicht sehe ich auch nur Gespenster.«

»Ich glaube nicht. Ein bisschen viel Unfälle, in die wir in der letzten Zeit verwickelt werden. Erst ich, dann der Wagen, den Mark gefahren hat. Etwas mysteriös, das Ganze. Kannst du nicht mal versuchen herauszufinden, wie der Unfall genau passiert ist? Vielleicht ist ein Reifen geplatzt, oder es gab einen technischen Defekt.«

»Glaubst du, dass die beiden Unfälle etwas miteinander zu tun haben?«

»Ich weiß nicht, das müssen wir herausfinden. Ich habe so einen Verdacht. Vielleicht ist ja alles Unsinn, aber wir sollten es überprüfen.«

»Gut, ich werde sehen, was ich machen kann.« Sheila stand auf und lächelte Tom an.

»Überanstrenge dich nicht, sonst musst du noch länger im Krankenhaus bleiben«, sagte sie und deutete auf seine Krücken.

Tom sah ihr nach, wie sie selbstsicher den Garten verließ.

Am Abend, später als sonst, kam Sheila wieder. Ihre Wangen glühten vor Eifer. »Volltreffer, Tom, glatter Volltreffer«, sagte sie anstelle einer Begrüßung, und der Stolz über den Erfolg ihrer Ermittlungen war ihr deutlich anzuhören.

»Setz dich und erzähl«, forderte Tom sie auf.

»Also, als erstes bin ich zur Polizei gegangen, um mehr über den Unfall herauszufinden. Die Herren waren sehr zugeknöpft, wollten keine Informationen herausrücken. Ich hab ein bisschen geflunkert. Ihnen gesagt, ich sei besorgt, weil ich das Fahrzeug zu kennen glaube und nun Angst habe, ein Vetter von mir könnte verunglückt sein. Ich denke, ich habe meine Rolle ganz gut gespielt, denn sie gaben mir Auskunft und nannten mir den Namen des Fahrers. Und weißt du, wer es war?« Sheila sah Tom erwartungsvoll an.

»Ich glaube, ich kann’s erraten. Es war der Mann, der Marks Wagen abgeholt hat.«

»Richtig, Tom, er war’s. Ich bin dann zu der Werkstatt gefahren, zu der man den Wagen abgeschleppt hatte. Ich hab mit dem Meister etwas geflirtet, und gegen ein Trinkgeld war er bereit, den Wagen zu untersuchen. Er hat mich eben erst angerufen, deshalb komme ich auch so spät. Aber das Warten hat sich gelohnt. Rate, was er mir gesagt hat!«

Tom grinste sie an. »Die Bremsleitungen waren defekt oder so was.«

»Woher weißt du das?« Sheilas Stimme klang enttäuscht.

»Ich bin Gedankenleser. Aber im Ernst, Sheila, während du versucht hast herauszufinden, was geschehen ist, habe ich nachgedacht. Hast du erfahren, was an den Bremsleitungen defekt war?«

»Ja, der Meister meinte, sie seien mit einem scharfen Gegenstand angeschnitten worden, so dass bei jedem Bremsen etwas Bremsflüssigkeit herausgepresst wurde.«

»So, die Bremsleitung angeschnitten. Ich hatte es mir gedacht. Das könnte auch bei mir der Fall gewesen sein. Es passt alles zusammen.«

»Was passt zusammen?«

Tom sah sie nachdenklich an. »Mein Unfall und dieser hier. Ich bin überzeugt, der Unfall sollte Mark passieren, nur ist der nicht mit dem Renault gefahren, sondern hat euren Wagen genommen. Das konnte der Täter nicht wissen. Weißt du, was ich glaube? Ich bin überzeugt, irgendjemand will verhindern, dass das Unternehmen Blitzschlag durchgeführt wird. Und was viel schlimmer ist: Dieser Jemand weiß unheimlich gut über unsere Aktionen Bescheid.«

»Aber wer sollte das sein? Wer könnte ein Interesse daran haben, dass das Unternehmen nicht durchgeführt wird?«

»Das, Sheila, müssen wir herausfinden. Als erstes solltest du zur Sicherheit überprüfen, ob bei meinem Wagen auch die Bremsleitung angeschnitten war. Die Polizei wird dir sicher sagen, wohin der Wagen abgeschleppt wurde.«

»Ich werde das schon herausfinden. Verlass dich ganz auf mich«, antwortete sie zuversichtlich.

Sheila und Tom diskutierten den Fall, bis die Nachtschwester ins Zimmer kam und Sheila bat zu gehen.

»Dann bis morgen, schlaf gut«, verabschiedete sie sich.

Am nächsten Morgen rief Sheila die Leihwagenfirma an, bei der Tom den Wagen gemietet hatte, und erkundigte sich, was mit dem Unfallwagen geschehen war. Es dauerte eine Weile, bis sie mit jemandem verbunden war, der ihr Auskunft geben konnte.

»Das Auto wurde zur Reparaturwerkstatt Clairie nach Fence geschleppt«, teilte ihr der technische Leiter nach einigem Zögern mit.

Über die Unfallursache konnte oder wollte er ihr keine Auskunft geben. Sie erfuhr nur, dass es sich um einen Totalschaden handelte. Sheila bedankte sich für die Information und hängte ein.

Als nächstes erkundigte sie sich beim Wirt, wo sie einen Wagen leihen könne. Der Wirt nannte ihr zwei Agenturen und bot ihr an, sie hinzufahren, da er ohnehin in die Stadt müsse. Sheila nahm sein Angebot dankbar an. Als sie mit einem Mietwagen zurück zum Gasthof kam, lag ein Telegramm für sie vor. Es war von Mark Foreman aus Marseille. Sie las:

waren erfolgreich – stop – erwarten dich in marseille – stop – hotel floride rue colbert – stop – zimmer auf deinen namen reserviert – stop – gruss an tom – stop – fahren auf dem rückweg bei ihm vorbei – stop – mark

Sheila war erfreut und enttäuscht zugleich. Einerseits bedeutete das Telegramm, dass ihr Einsatz im Libanon endlich begann, andererseits hieß das, Tom Porter zu verlassen und die Ermittlungen abzubrechen. Es fiel ihr schwerer, als sie für möglich gehalten hätte. Tom war ihr ans Herz gewachsen. Aber Befehl war Befehl. So schnell sie konnte, packte sie ihre Sachen, bezahlte die Rechnung und fuhr zum Krankenhaus, um sich zu verabschieden.

Tom war sichtlich enttäuscht, als sie ihm sagte, dass sie abberufen worden war. Doch was sollte er machen? So leid es ihm tat, er musste sie fahren lassen.

Gegen zehn Uhr abends traf Sheila im Hotel Floride in Marseilles ein. Der Empfangschef übergab ihr einen Zettel, auf dem sie las: Erwarten dich in Zimmer 401. Sheila wies den Gepäckträger an, ihr Gepäck auf ihr Zimmer zu tragen und ihr anschließend den Schlüssel in Zimmer 401 zu bringen. Mit dem Fahrstuhl fuhr sie in den vierten Stock. Sie brauchte nicht lange zu suchen, das Zimmer lag gleich vorne am Gang. Sie klopfte und trat ein. Herzlich wurde sie von Susan und Mark begrüßt.

»Wie bist du so schnell hierhergekommen?«, fragte Mark. »Wir hatten erst morgen mit dir gerechnet.«

Sheila setzte sich in den Sessel, den Mark ihr angeboten hatte. »Mit einem Mietwagen«, antwortete sie. »Ich dachte mir, das ginge schneller als mit der Bahn. Wenn ihr sowieso noch zu Tom fahrt, kann Susan ihn ja zurückfahren.«

Susan sah sie entsetzt an. »Mein Gott, nur das nicht. In dem Verkehr fahre ich keine Meile.«

Mark lachte. »Es wird schon gehen. Du brauchst nur immer hinter mir herzufahren.«

»Niemals! Keinen Meter fahre ich. Ich bin doch nicht lebensmüde«, protestierte Susan. Als die beiden ihre Bemerkung jedoch nur mit einem Lachen quittierten, wechselte sie das Thema und erkundigte sich nach Toms Befinden.

»Es geht ihm schon viel besser. Man wird ihn nicht mehr lange im Krankenhaus festhalten können. Insbesondere jetzt nicht mehr«, antwortete Sheila.

Susan und Mark sahen sie fragend an, und Sheila lieferte einen umfassenden Bericht.

»Verdammter Mist«, fluchte Mark, als sie geendet hatte. »Was kann das bedeuten?« Er machte eine Pause und erkundigte sich: »Wohin, sagtest du, haben sie Toms Wagen abgeschleppt?«

»Autoreparaturwerkstatt Clairie in Fence.«

»Gut, ich werde ihn mir auf der Rückfahrt ansehen. Bis dahin hat es keinen Sinn, unnötig zu spekulieren. Jetzt wollen wir uns auf deinen Auftrag konzentrieren.«

Susan wollte etwas sagen, schwieg dann aber. Ein Mordanschlag! Darüber kam sie nicht so schnell hinweg. Sie war über Marks Gleichgültigkeit aufgebracht.

Mark tat, als würde er Susans Sorgen nicht sehen, und wandte sich Sheila zu. »Also hör zu. Du fährst in den Libanon. Ein Dampfer wird dich nach Tripolis bringen. Das Schiff läuft übermorgen aus. In Tripolis wirst du abgeholt. Von wem, weiß ich nicht. Ein Offizier des Schiffs wird dich an Land bringen und dich dem Kurier übergeben. Dein Kontaktmann ist Ali Assarwar – merk dir den Namen gut, falls etwas nicht klappt. Er ist Kaufmann in Beirut und soll so ziemlich mit allen Untergrundorganisationen in Verbindung stehen. Er will uns weiterhelfen, natürlich gegen ein gutes Entgelt. Er ist über dein Kommen unterrichtet. Hast du noch Fragen?«

Sheila hatte aufmerksam zugehört und sich den Namen des libanesischen Kaufmanns eingeprägt. »Nein«, antwortete sie. Ihren Auftrag hatten sie oft genug im Ausbildungslager diskutiert. Da gab es keine Unklarheiten mehr.

»Und das Geld?«, fragte Mark.

»Alles sicher verwahrt. In meiner Kleidung eingenäht.«

»Gut, dann hol deinen libanesischen Ausweis. Wir wollen ihn sicherheitshalber noch einmal von einem Fachmann überprüfen lassen.«

Während Sheila in ihr Zimmer ging, rief Mark die Telefonnummer an, die ihm Pierre Le Mars gegeben hatte.

Nach einer halben Stunde kam ein kleiner, nervös wirkender Mann. Er stellte sich nicht vor, und Mark fragte ihn nicht nach seinem Namen.

»Ich soll einen Ausweis für Sie prüfen? Wo ist er?«

»Hier.« Mark gab ihm Sheilas Ausweis.

Der nervöse Mann holte eine Lampe aus seiner Aktentasche und legte den Ausweis darunter. Ihm genügte ein kurzer Blick, dann richtete er sich wieder auf.

»Wo haben Sie denn dieses Ding her? Er ist nicht einen Sou wert. Jeder erkennt auf den ersten Blick, dass er gefälscht ist.«

Mark sagte ihm nicht, dass er ihn von einem Fälscher in den Staaten hatte und dass er eine Stange Geld gekostet hatte.

»Können Sie uns einen besseren, sagen wir bis morgen Abend, besorgen?«, fragte Mark.

Der kleine Mann blickte eine Weile nachdenklich zu Boden. Schließlich antwortete er: »Ja.«

»Wie viel?«

»Achttausend. Viertausend jetzt, viertausend bei Lieferung.«

»Franc?«

Der kleine Mann grinste. »Nee, Dollar.«

Mark war sich darüber im Klaren, dass er hier unverschämt übers Ohr gehauen wurde, aber was sollte er machen? Das Schiff wartete nicht.

»In Ordnung«, sagte er deshalb und zahlte.

Der kleine Mann holte aus seiner Aktenmappe eine Kamera und machte ein Passfoto von Sheila. Dann sagte er, dass er den Pass am nächsten Tag um sechs Uhr abends liefern würde.

Mark wies ihn an, den Ausweis Sheila auszuhändigen, da er nicht mehr in Marseille wäre.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück verabschiedeten sich Mark und Susan, um nach St. Etienne zu fahren und auf dem Weg dorthin in Fence Station zu machen und sich Tom Porters Wagen anzusehen.

Nachdem die beiden abgefahren waren, machte sich Sheila für einen Stadtbummel zurecht. Sie hatte viel Zeit, denn sie musste ja erst abends zurück sein. Sie schlenderte durch die Straßen, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern und bedauerte, dass sie nichts kaufen konnte, denn sie konnte sich ja wohl schlecht mit zwei oder drei Koffern in den Libanon einschleusen lassen. Also genoss sie umso ausgiebiger die gute französische Küche.

Pünktlich um sechs Uhr abends erschien der kleine, nervöse Mann und brachte den gefälschten Pass. Sheila zahlte ihm die restlichen viertausend Dollar.

Am nächsten Morgen wurde sie durchs Telefon geweckt. Es war Pierre Le Mars, der ihr mitteilte, dass sie abends gegen sieben Uhr von einem Mann namens Gerald abgeholt würde.

Es wurde ein langweiliger Tag. Gegen halb sieben nahm sie ihre große dunkelblaue Umhängetasche und ging in die Lobby, um dort zu warten.

Ein Mann in dunkler Sportkleidung betrat kurz nach sieben die Halle, sah sich um und ging zum Empfangschef. Sheila musterte ihn kritisch. Sie konnte nicht hören, was er mit dem Empfangschef sprach, aber sie sah, wie dieser auf sie zeigte. Der Mann kam auf sie zu.

»Madame Sheila?«, fragte er und fügte, als sie nickte, hinzu: »Ich bin Gerald. Ich soll Sie abholen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er ihre Umhängetasche und ging voraus zu seinem Wagen.

Gerald schien sich in Marseille gut auszukennen. Er vermied alle Hauptstraßen, die zu dieser Zeit noch vom Feierabendverkehr verstopft waren, und schlängelte sich durch ein Gewirr von kleinen schmutzigen Gassen. Sheila hatte schon nach kurzer Zeit die Orientierung verloren. Aber plötzlich waren sie am Yachthafen. Gerald stieg aus und warf sich ihr Gepäck über die Schulter.

»Kommen Sie, Madame, wir fahren von hier aus mit dem Motorboot weiter.«

Sheila folgte ihm wortlos.

Vor einer kleinen Motoryacht machte er Halt und stieg ein, Sheila kletterte hinterher. Mit wenigen Handgriffen waren die Leinen gelöst, und Gerald steuerte das Boot aus dem Hafen auf die offene See.

Es war längst dunkel geworden, und der Lichtschein über Marseille war nicht mehr zu erkennen. Sheila schaute auf die Uhr – sie waren jetzt über drei Stunden unterwegs. Gerald bemerkte ihre Ungeduld. »Wir sind gleich da«, sagte er.

Dann sah sie in der Ferne die Positionslichter eines Schiffs auftauchen. Gerald steuerte darauf zu. Das Schiff war nicht sonderlich groß, höchstens 5000 Tonnen, schätzte Sheila. Viel konnte sie von dem Frachter nicht erkennen, denn abgesehen von den Positionslaternen brannte nur auf der Kommandobrücke Licht. Als sie so nahe herangekommen waren, dass der Rumpf des Frachters wie eine dunkle Wand in den Nachthimmel ragte, sah Sheila, dass backbords das Fallreep heruntergelassen war. Gerald steuerte es an und hielt es mit der Hand fest.

»So, Madame, wir sind da.«

Sheila hängte sich ihre Tasche über, kletterte auf die Bordwand und schwang sich zum Fallreep hinüber. Fast hätte sie danebengegriffen und wäre ins Wasser gestürzt, mit der linken Hand konnte sie gerade noch das Tau, das als Geländer diente, ergreifen und sich hinaufziehen.

Als sie auf dem Fallreep stand, drehte das Motorboot ab. Sheila war allein. Zum ersten Mal bekam sie Angst. Niemand war mehr da, der ihr helfen konnte. Ihr Herz klopfte, als sie das Fallreep hinaufkletterte.