Sheila lag auf dem Rücken und starrte auf die rostigen Rohre, die über ihrer Koje entlangliefen. Sie versuchte zu schlafen – aber es ging nicht. Die Luft in der Kajüte war feuchtwarm, stickig und roch widerlich muffig. Vor einer Stunde hatte sie es aufgegeben, das Bullauge zu öffnen, um die frische Nachtluft hereinzulassen. Ohne Werkzeug war es unmöglich. Die Verschlüsse waren vollkommen korrodiert. Am liebsten wäre sie an Deck gegangen, doch der Kapitän, von dem sie am Fallreep empfangen worden war, hatte es ihr verboten. Nach Einbruch der Dunkelheit müsse sie sich in der Kajüte aufhalten. Die Besatzung bestehe zum Teil aus Staatenlosen, die keine Pässe hätten und deshalb nicht an Land gehen könnten. Einige hätten seit über zwei Jahren keine Frau mehr gesehen. Nachts könne er ihre Sicherheit außerhalb der Kajüte nicht garantieren, hatte er seine ungewöhnliche Maßnahme begründet. Gehorsam war sie in der Kabine geblieben und hatte die Tür von innen verriegelt. Die Anweisungen gingen aber noch weiter. Tagsüber sollte sie sich entweder auf Deck oder auf der Kommandobrücke aufhalten. Unter Deck zu gehen, war ihr aus den gleichen Gründen verboten worden. Sheila bezweifelte, dass ihre Sicherheit der einzige Grund für diese Anweisung war, vielmehr nahm sie an, der Kapitän wolle nur verhindern, dass sie im Schiff herumschnüffelte. Doch sollte es unter Deck genauso dreckig sein und muffig riechen wie in der Kabine, dann hatte sie kein Verlangen, das Schiff zu inspizieren.
Nach Stunden fiel sie in einen Halbschlaf, aber es war keine erholsame Ruhe. Wirre Träume quälten sie, und es war eine Erleichterung, wenn sie durch das Stampfen der Maschinen aufwachte und die Träume verscheuchen konnte. Als die Morgensonne durch das beschlagene Bullauge in die Kajüte fiel, stand sie auf. Sie fühlte sich wie gerädert. Am liebsten hätte sie geduscht, doch sie wusste nicht, wo es eine Möglichkeit dazu gab, und nach den eindringlichen Warnungen des Kapitäns wollte sie auch nicht danach suchen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gründlich abzuwaschen. Aber auch das war nicht einfach. Der Warmwasserhahn war verstopft. Nur das Kaltwasser lief einigermaßen.
Als Sheila einige Zeit später an Deck stand, sah sie, dass der Zustand ihrer Kajüte keine Ausnahme bildete. Überall blätterte die Farbe ab. Was rosten konnte, war verrostet. Dieses Wrack war ein richtiger Seelenverkäufer, von dem der Reeder nur hoffen konnte, dass es bald absoff, um die Versicherungssumme zu kassieren. Nur die Verpflegung war auf diesem Schiff gut, wie sie später feststellen konnte. Das war aber auch der einzige Pluspunkt.
Fünf Tage dauerte die Fahrt – eine harte Geduldsprobe für Sheila. Am Abend des fünften Tages verlangsamte der Kapitän die Geschwindigkeit, bis der Frachter nur noch in der Dünung trieb.
»Bei Dunkelheit werden Sie an Land gesetzt. Halten Sie sich ab neun Uhr bereit«, hatte er ihr gesagt.
Sheila konnte es kaum erwarten, den Frachter zu verlassen. Unruhig ging sie an Deck auf und ab. Weit vor Anbruch der Dämmerung hatte sie ihre Sachen gepackt und an Deck gebracht. Die Nacht war dunkel, Sheila stand auf der Brückennock und lauschte in die Finsternis. Endlich glaubte sie, Motorengeräusche zu hören. Sie wurden lauter, aber zu sehen war nichts. Erst als sie fast den Frachter erreicht hatten, konnte Sheila den Fischkutter erkennen. Es waren zwei, die sich ohne Positionslichter genähert hatten. Sofort wurde es auf dem Frachter lebendig. Man öffnete zwei der vier Ladeluken und hievte Kisten an Deck. Sobald die Fischkutter längsseits angelegt hatten, wurde mit dem Umladen begonnen. Trotz der Dunkelheit lief alles ohne ein lautes Wort oder einen Befehl ab. Sheila war überzeugt, dass die Mannschaft diese Arbeit schon oft verrichtet hatte.
Vom ersten Fischerboot rief eine Männerstimme hoch: »He, Miguel, hast du einen Passagier für mich?«
Der Kapitän beugte sich über das Geländer der Brückennock. »Ja.«
»Ich übernehme ihn. Lass das Fallreep runter.«
Während das Fallreep quietschend herabgelassen wurde, verabschiedete sich Sheila vom Kapitän, nahm ihr Gepäck und eilte zum Reep. Ein untersetzter, kräftiger Mann kam ihr entgegen.
»Geben Sie mir die Tasche«, sagte er und nahm sie ihr aus der Hand.
Er eilte voraus, sprang ins Boot und bot ihr die Hand, um ihr an Bord zu helfen. Auf dem Fischkutter waren zwei Männer damit beschäftigt, die Ladung mit Planen abzudecken und sie anschließend mit Fangnetzen zu tarnen.
Als Sheila an Bord war, eilte ihr Begleiter ins Steuerhaus und legte vom Frachter ab. Sheila blieb stehen, wo sie war. Ihre Augen hatten sich noch nicht an die völlige Finsternis gewöhnt, die im Windschatten des Frachters herrschte. Die Männer an Deck kümmerten sich nicht um sie, sondern waren vollauf mit ihrer Arbeit beschäftigt. Langsam, auf jeden ihrer Schritte achtend, folgte sie dem Mann, der sie abgeholt hatte, ins Steuerhaus. Auch hier herrschte Dunkelheit. Nur Kompass und die Funkanlage strahlten etwas Licht ab. Der Mann am Steuerrad drehte sich zu ihr um.
»Ahmed Assarwar«, stellte er sich vor. »Ich soll Sie zu meinem Vater nach Beirut bringen.«
Sheila nannte ihren Namen.
»Man hat uns nicht gesagt, dass eine Frau kommt«, fuhr er fort. »Ich hoffe, Sie haben keine Angst. Es kann etwas aufregend werden. Die Armee und ein paar Milizen machen überall im Land Kontrollen. Wir wären nicht rausgefahren, wenn wir nicht die Ladung bestellt hätten. Aber so …« Ahmed breitete die Arme aus, als wenn er sagen wollte: Was nützt es, sich Sorgen zu machen, das Schicksal liegt ja doch in Allahs Hand.
Sheila lachte leise bei seinen Worten. »Angst? Gewiss nicht. Nach den langweiligen Tagen an Bord dieses schmierigen Kahns kann mir etwas Aufregung nur guttun. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich stehe schon meinen Mann.«
»Sehr gut«, erwiderte Ahmed und fügte beschwichtigend hinzu: »Aber es wird schon nicht zu arg kommen. Bevor ich Sie zu meinem Vater bringe, müssen wir erst die Ladung löschen und verstecken. Danach kann uns nichts mehr passieren. Aber jetzt können Sie sich ausruhen. Bis wir an der Küste sind, dauert es noch mindestens zwei Stunden. Sollten wir wider Erwarten einem Schiff begegnen, gehen Sie bitte unter Deck. Eine Frau an Bord könnte Verdacht erregen.«
Sheila nickte und verließ das Steuerhaus, um die frische Nachtluft an Deck zu genießen. Sie ging zum Bug, lehnte sich gegen die Reling und ließ sich das Haar vom Fahrtwind zerzausen. Es tat ihr gut und verscheuchte die Erinnerung an den Aufenthalt auf dem Frachter. Nach einiger Zeit fing sie an zu frösteln, drehte sich um und ging zum Steuerhaus zurück. Schweigend stellte sie sich in eine Ecke und beobachtete die Männer. Während Ahmed am Steuerrad stand, observierte ein zweiter Mann mit einem starken Nachtglas die See. Von Zeit zu Zeit rief er Ahmed etwas zu, und der änderte den Kurs. Sicher weichen sie Schiffen aus, dachte Sheila.
Es waren etwa zwei Stunden vergangen, seit sie den Frachter verlassen hatte, als Sheila weiter vorne ein schwaches Licht blinken sah.
Zweimal lang, dreimal kurz, zweimal lang, zählte sie. Nach fünf Minuten leuchtete das gleiche Signal wieder auf. Ahmed musste es auch gesehen haben, denn er korrigierte den Kurs und hielt genau auf die Signalquelle zu.
Das Licht wurde immer deutlicher. Ahmed verlangsamte die Fahrt. Plötzlich – wie aus dem Boden gewachsen – stand eine Felswand vor ihnen. Sheila durchfuhr ein Angstschauer, aber Ahmed schien sich gut auszukennen. Er fuhr direkt auf den Felsen zu und orientierte sich genau an der Lichtquelle. Sheila fürchtete, das Boot müsse jeden Moment auf eine Klippe laufen, und instinktiv klammerte sie sich am Türgriff fest. Doch wie durch ein Wunder teilte sich plötzlich der Felsen, und der Kutter glitt in eine kleine Bucht. Felswände ragten auf allen Seiten steil in die Höhe. Sie befanden sich in einem kleinen Naturhafen.
Nachdem Sheila ihren Schrecken überwunden hatte, beobachtete sie, wie Ahmed den Kutter vorsichtig nach Steuerbord an den Felsen manövrierte. Jetzt erkannte auch sie sein Ziel. Eine vielleicht fünf Meter breite und zwanzig Meter lange Felsbank zog sich vor dem Steilhang hin. Es war, als hätte jemand eine Mole aus dem Stein gehauen. Männer standen auf dem Felsen und übernahmen die Leinen, die ihnen zugeworfen wurden.
Sobald der Kutter festgemacht war, sprangen die Männer an Bord und rissen die Tarnung von den Kisten. Eine nach der anderen wurde an Land gehievt und zu einem Flaschenzug getragen, der von der Felswand herunterhing.
»Na, was sagen Sie zu unserem kleinen Hafen?«, fragte Ahmed, der neben Sheila getreten war.
»Ein wahres Wunder. Er sieht aus, als wäre er von Menschen angelegt. Als die Felswand vor uns auftauchte, da dachte ich schon, wir würden auf eine Klippe laufen«, antwortete Sheila.
Ahmed lachte. »Da hatten Sie gar nicht so unrecht. Wenn das Licht, das ich angesteuert habe, nicht genau an der richtigen Stelle gestanden hätte, dann lägen wir jetzt im Wasser. Nun aber entschuldigen Sie mich bitte, ich will den Männern helfen. Wir haben nur noch wenig Zeit. Es wird bald hell, und dann müssen wir hier weg sein.«
Kaum schwebte die letzte Kiste am Seil die Felswand hoch, als Ahmed auch schon auf Sheila zutrat.
»Geben Sie mir Ihre Tasche, wir klettern den Steilhang hoch. Bleiben Sie dicht hinter mir, dann kann nichts passieren.«
Sheila gab ihm die Tasche und folgte ihm. Ahmed ging bis ans Ende der Bucht, wo die Felsen nicht so steil waren, wie sie vom Fischkutter aus ausgesehen hatten. Ahmed ließ eine Taschenlampe kurz aufflackern, und Sheila konnte den Anfang eines schmalen Trampelpfads erkennen, der sich in Serpentinen nach oben schlängelte. Ohne sich umzudrehen, schritt Ahmed voran. Er hatte es eilig, denn die Dunkelheit der Nacht begann bereits einem fahlen Dämmerlicht zu weichen. Sheila konnte ihm mühelos folgen. Während Ahmed nach einiger Zeit zu keuchen begann, ging ihr Atem ruhig und gleichmäßig. Das harte Training im Ausbildungslager zeigte seine Wirkung.
Als sie den Rand des Steilhangs erreicht hatten, sah Sheila, dass sich vor ihnen eine flache, steinige Hochebene ausbreitete. Bis auf einige Sträucher und Felsbrocken bot sie keine Deckung, und sie konnte verstehen, warum Ahmed noch vor Tagesanbruch von hier verschwinden wollte. Dicht am Steilhang standen zwei Lastwagen. Männer waren damit beschäftigt, die Ladung durch Gemüsekisten zu tarnen. Zwei andere bauten das Gestell für den Flaschenzug zusammen und schoben es auf einen der Lastwagen.
Sobald alles verstaut war, schwangen sich die Männer auf die Ladefläche. Ahmed verschnürte hinter ihnen die Plane. Dann stiegen er und Sheila in das Führerhaus des ersten LKW, und sie fuhren los. Ob ihnen der zweite Wagen folgte, konnte Sheila nicht erkennen.
Als sie nach einiger Zeit die Hauptstraße erreichten, schob sich langsam die Sonne wie ein rotglühender Ball über den Horizont. Es war ein wunderbares, beglückendes Gefühl. Endlich, seit vielen Jahren, befand sie sich wieder im Orient. Wenn es auch nicht ihr geliebter Iran war, so hatte der Libanon doch so viel mit ihrer Heimat gemeinsam, dass sie sich wie zu Hause fühlte. Ganz still saß sie da und beobachtete das immer wieder verzaubernde Schauspiel des anbrechenden Tages.
Plötzlich wurde sie von einem Fluch Ahmeds aus ihren Träumen gerissen.
»Was gibt’s?«, fragte sie erschrocken.
»Hinter uns fährt ein Jeep der syrischen Armee. Hoffentlich haben sie nicht gesehen, wie wir auf die Hauptstraße eingebogen sind.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Nichts, wir tun so, als beförderten wir eine scheißnormale Ladung. Vielleicht fahren sie nur zufällig hinter uns her.«
Ahmed nahm einen Schraubenschlüssel, der neben ihm auf dem Sitz lag, und schlug dreimal gegen die Rückwand des Fahrerhauses. Sheila war sicher, er wollte seine Gefährten warnen.
Bilder von ihrer Flucht aus dem Iran tauchten vor ihr auf. Es war wie damals. Versteckt in einem Lastwagen, war sie zur Grenze gefahren. Ein Posten der Revolutionsgarden hatte sie angehalten und den Wagen durchsucht. Sie hatte Glück gehabt, der Mann hatte seine Arbeit nur oberflächlich getan und sie unter einem Berg Lumpen nicht entdeckt. Aber sie wäre damals fast vor Angst gestorben. Würde ihr heute das Glück noch mal hold sein? Es war eigenartig. Obwohl die Bilder ihrer Flucht vor ihr auftauchten, verspürte sie diesmal keine Angst.
Die nächsten zwei Kilometer passierte nichts. Ahmed fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter. Der Jeep mit den Soldaten folgte ihnen. Nach einiger Zeit begann die Straße anzusteigen. Ahmed nahm den Fuß vom Gas und tat, als würde der LKW wegen der Steigung langsamer. Aber der Jeep machte keine Anstalten zu überholen. Sheila sah, wie sich kleine Schweißperlen auf Ahmeds Stirn bildeten.
Er bog mehr kriechend als fahrend um eine Kurve.
»Verdammt – Straßensperre!«
Hundert Meter vor ihnen stand ein Fahrzeug quer auf der Straße, und ein Posten mit Maschinenpistole bedeutete ihnen anzuhalten. Ein Entkommen war unmöglich.
»Ich fahr euch Scheißkerle übern Haufen«, schrie er und trat das Gaspedal durch.
»Bist du wahnsinnig?«, herrschte Sheila ihn an und stieß Ahmed so heftig gegen das Schienbein, dass er vor Schmerz aufschrie.
»Bremsen! Verdammt noch mal, bremsen! Siehst du denn nicht, dass die Posten ihre Maschinenpistolen im Anschlag haben?«, rief Sheila.