Kapitel 18

Was für eine Zeit! Susan lag im Bett in ihrer Wohnung in Washington, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und überdachte die Erlebnisse der vergangenen zehn Tage. Sie kamen ihr vor, als hätte sie sie geträumt, und doch waren sie Wirklichkeit. Gestern Abend war sie mit Mark aus Frankreich zurückgekommen. Mark war weiter nach Birmingham geflogen, während sie hiergeblieben war. Es gab einiges zu erledigen, und als erstes wollte sie mit John sprechen.

Die Verlobung musste endlich gelöst werden. Solange dies nicht geschehen war, fühlte sie sich nicht frei. Es war das Einzige, was noch störend zwischen ihr und Mark stand. Darüber hinaus wollte sie aber auch John über den Stand der Vorbereitungen des Unternehmens Blitzschlag informieren. Schließlich hatte sie es ihm versprochen.

Nachdenklich blickte sie zur Decke. Sie war besorgt um Marks Leben. Zwar hatte er ihr versprochen, unverzüglich mit einem alten Kriegskameraden Verbindung aufzunehmen, der sich in Atlanta als Privatdetektiv niedergelassen hatte, um ihn mit der Klärung der mysteriösen Unfälle zu beauftragen. Doch Susan befürchtete, dass er sein Versprechen nicht halten würde. Für ihren Geschmack nahm Mark die Anschläge viel zu sorglos hin. Und dass es sich um Attentate handelte, davon waren inzwischen alle überzeugt. Auf ihrer Rückfahrt von Marseille hatten sie in Fence gehalten, wo Porters kaputter Mietwagen stand. Nach einem großzügigen Trinkgeld war der Meister der Werkstatt bereit gewesen, den Wagen zu untersuchen. Angesägte Bremsleitung lautete das Ergebnis. Als sie es später Tom mitteilten, hatte der nur genickt. Er hatte es erwartet. Den ganzen Abend hatten sie dann im Krankenhaus gesessen und den Fall diskutiert, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Die Unfälle waren rätselhaft. Außer den Entführern konnte niemand an einem Scheitern des Unternehmens Blitzschlag interessiert sein, und die Entführer konnten von dem Unternehmen nichts wissen, darüber waren sich alle einig. Darüber hinaus hätten sie auch bessere Möglichkeiten gehabt, das Unternehmen zu verhindern. Blieben also nur Mark, Tom, Sam Tilkowsky, John Phillip und sie selbst übrig. Nur sie waren in die genauen Pläne eingeweiht. Niemand nahm jedoch ernsthaft an, dass jemand aus diesem Kreis die Anschläge geplant hatte. Sheila und die Männer der Einsatzgruppen schieden ebenfalls aus. Sie waren jeweils nur über Teilbereiche des Unternehmens informiert. Wer also waren der oder die Täter? Es war zum Verrücktwerden. So lange sie auch die Lage diskutierten, sie waren der Lösung keinen Schritt näher gekommen. Schließlich hatte Mark vorgeschlagen, Tom sollte versuchen, so viel wie möglich in Frankreich herauszubekommen, ansonsten wollte er seinen Freund in Atlanta mit der Untersuchung der Ereignisse beauftragen. Toms Vorschlag, Mark solle sich zu seiner eigenen Sicherheit eine Leibwache zulegen, hatte Mark weit von sich gewiesen. Im Flugzeug hatte Susan zwar noch einmal versucht, ihn umzustimmen, aber Mark hatte nur gelacht. Und diese Sorglosigkeit machte Susan große Sorgen.

Zehn Uhr. Auf den Glockenschlag genau betrat Susan die Empfangshalle der Spartec. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und John, groß, schlank, elegant in einen gedeckten Anzug gekleidet, trat aus dem Fahrstuhl. Als er Susan sah, kam er mit einem breiten Lächeln und ausgestreckten Armen auf sie zu. Schön, strahlend, selbstbewusst.

Betont herzlich begrüßte er sie. So, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen. Auf einen Kuss zur Begrüßung verzichtete er allerdings. Duncan geleitete Susan zum Fahrstuhl und führte sie, als sie oben waren, ins Büro ihres Vaters.

»Nimm Platz«, forderte er sie auf. »Ich habe eine Ewigkeit nichts mehr von dir gehört. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«

»Nein, danke, ich möchte gleich zur Sache kommen«, sagte sie mit klopfendem Herzen. Die Situation war ihr peinlich. Sie wünschte, sie hätte das alles hinter sich. Mit leicht zitternden Händen holte sie das Etui mit dem Diamantring aus ihrer Handtasche und legte es auf den Schreibtisch. Mit schwankender Stimme sagte sie: »John, bitte verzeih mir, aber ich möchte unsere Verlobung lösen. Ich habe es mir lange überlegt. Wir passen nicht zusammen. Ich liebe dich nicht genug, um deine Frau zu werden.«

So, jetzt war es heraus. Susan kam es vor, als wäre eine Zentnerlast von ihr gewichen. Sie hätte vor Freude aufspringen mögen, so leicht und beschwingt fühlte sie sich plötzlich.

John sagte nichts. Mit keiner Miene zeigte er, ob ihn Susans Worte getroffen hatten. Nur seine Augen musterten sie durchdringend, während er weiterhin verbindlich lächelte.

Schließlich brach Susan das immer peinlicher werdende Schweigen. »Wenn du dazu nichts zu sagen hast, kann ich dir ja jetzt den Stand des Unternehmens Blitzschlag mitteilen.«

Susan wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern berichtete über die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Duncan hörte schweigend zu. Erst als Susan die beiden Anschläge, die glimpflich ausgegangen waren, erwähnte, zeigte er Mitgefühl. Als sie mit ihrem Bericht geendet hatte, ergriff er zum ersten Mal das Wort.

»Vielleicht ist das Unternehmen Blitzschlag nicht mehr nötig«, sagte er. »Der Sicherheitsberater des Präsidenten hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass sie mit ihren Bemühungen, die Gefangenen zu befreien, wieder ein Stück vorangekommen sind. Er würde gerne mit uns sprechen, und ich habe – dein Einverständnis vorausgesetzt – für heute halb zwölf einen Termin mit ihm vereinbart. Bist du einverstanden?«

»Selbstverständlich. Was sind das für Neuigkeiten? Hat er Nachricht von Vater?«

»Ich kann es dir nicht sagen, Susan, ich weiß auch nicht mehr, als ich dir eben gesagt habe«, antwortete er. »Aber wir sollten jetzt fahren, sonst kommen wir zu spät.«

Sofort erhob sich Susan, um mit John zum Firmenwagen zu gehen, der vor dem Portal bereitstand.

An der Nebenwache zum Weißen Haus brauchten sie nicht zu warten. Ein Sicherheitsbeamter wartete auf sie, um sie sofort zu Barlowsky zu führen. Zuvorkommend begrüßte dieser die Besucher und kam sofort auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen.

»Es ist uns nach intensiven politischen Verhandlungen gelungen, die Unterstützung der syrischen und iranischen Regierungen zu erhalten. Beide Regierungen haben uns versprochen, alles zu tun, um auf die Entführer Druck auszuüben. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass sich die Entführer diesem Druck beugen und die Geiseln freigeben werden. Auf jeden Fall kommt jetzt Bewegung in die Sache. Nur müssen wir alles unterlassen, was die Bemühungen der beiden Regierungen gefährden oder stören könnte.«

Man konnte Barlowsky ansehen, dass er mit dem Erreichten zufrieden war.

»Ist das alles?« Die Worte klangen wie ein Aufschrei. Susan gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Pikiert blickte der Sicherheitsberater sie an. »Miss Albright, ich glaube, Sie machen sich keine Vorstellungen darüber, welcher politischen Anstrengungen und Zugeständnisse es bedurfte, um uns die Unterstützung dieser Regierungen zu sichern. Darüber hinaus werden wir selbstverständlich auch durch die Regierung Ägyptens, Saudi-Arabiens, der Türkei und anderer befreundeter Staaten unterstützt. Ich bin überzeugt, dass wir einen guten Schritt vorangekommen sind. Aber, und darüber sind wir uns hier im Weißen Haus natürlich im Klaren, wir müssen uns in Geduld üben.«

»Geduld! Geduld! Das ist das Einzige, was ich immer zu hören bekomme«, brauste Susan auf. »Wir können uns nicht in Geduld fassen. Mein Vater ist krank. Sehr krank. Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Nachrichten von den Entführern haben wir schon seit längerer Zeit nicht mehr bekommen. Und da sprechen Sie von Geduld. Ich habe aber keine. Ich will meinen Vater befreit sehen. Befreit – verstehen Sie mich.« Susan sprudelte die Worte nur so heraus. Sie war aufgebracht. In ihren Augen waren die Aktionen der Regierung lahm, zeitraubend und unzulänglich.

»Miss Albright, bitte beruhigen Sie sich«, versuchte Barlowsky sie zu besänftigen, doch sie war nicht bereit, sich zu beruhigen. Dazu war sie zu aufgebracht.

»Es ist ja nicht Ihr Vater, der im Libanon sitzt. Und was heißt das schon, dass die Syrer oder Iraner Druck auf die Entführer ausüben wollen. Ich habe kein Vertrauen zu ihnen. Schließlich sitzen ja noch andere Amerikaner seit Jahren im Libanon gefangen, und die Regierung hat es bis heute nicht geschafft, sie herauszubekommen. Nein, wenn wir nicht handeln, dann sitzt mein Vater nächstes Jahr noch in Gefangenschaft, wenn ihm inzwischen nichts Schlimmeres passiert ist.«

Susan sah den Sicherheitsberater mit funkelnden Augen an.

Duncan hatte sich bislang nicht an der Diskussion beteiligt. Mit beifälliger Miene hatte er Susans Gefühlsausbruch zugehört. Nicht, weil er ihre Auffassung teilte, sondern weil ihm jeder Streit zwischen Susan und dem Sicherheitsberater gelegen kam. Mit ruhiger Stimme versuchte er zu vermitteln, wohlwissend, dass er damit noch mehr Öl ins Feuer goss.

»Susan, ich verstehe natürlich deine Erregung, aber wir sollten uns nicht nur von unseren Gefühlen leiten lassen – so berechtigt sie auch sind – und die Sache einmal ganz nüchtern betrachten. Ich glaube, die Regierung tut alles, was in ihrem Rahmen möglich ist. Ich meine, wir sollten tatsächlich abwarten und sehen, ob ihre Bemühungen nicht doch zum Erfolg führen. Unser Unternehmen läuft uns ja nicht weg. Wir können immer …«

»Abwarten! Geduld! Du sprichst wie Mr. Barlowsky«, fuhr Susan ihn an. »Ich will keine Geduld haben, und ich will nicht abwarten. Ich will handeln, und ich werde handeln. Wenn die Regierung glaubt, bei den Entführern etwas durch Verhandeln zu erreichen, dann kann ich sie daran nicht hindern – auch wenn ich sie nicht verstehe –, aber ich … ich werde handeln.«

So sehr der Sicherheitsberater sich auch bemühte, Susan zu beruhigen und das Gespräch auf eine nüchterne Ebene zu bringen, es war vergebens. Susan war nicht gewillt, sich seinen Argumenten zu beugen und sich von ihrem Plan abbringen zu lassen. Weder Überredungskünste noch Drohungen halfen da. Im Gegenteil. Je länger Barlowsky auf Susan einredete, desto ärgerlicher und abweisender wurde sie. Das war im Wesentlichen Duncans Verdienst. Mit seinen geschickt gewählten Einwänden verstand er es jedes Mal, die Stimmung anzuheizen, ohne dass Susan oder der Sicherheitsberater es bemerkten. Als Susan sich endlich verabschiedete, herrschte auf beiden Seiten eine frostige Atmosphäre.

Auf Susans Wunsch setzte Duncan sie vor ihrem Apartment ab. Er selbst ließ sich in die Innenstadt bringen, wo er ausstieg und den Wagen zur Spartec zurückschickte. Er ging zur nächsten Telefonzelle und wählte eine Nummer.

»Hallo«, meldete sich der Teilnehmer.

Aus Duncans Stimme war jede Verbindlichkeit verschwunden. Seine Worte klangen kalt und herrisch.

»Haben Sie die Informationen besorgt?«, fragte er, ohne sich vorzustellen. Es war auch nicht nötig, denn Hank Smith kannte diese unpersönliche, kalte Stimme.

»Ja, ich habe sie gerade zusammengestellt. Der Mann, den Sie suchen, ist ein syrischer Journalist bei der UNO. Er hat Verbindung zu der libanesischen Zeitung, in der die Entführer ihre Forderungen veröffentlicht haben.«

»Gut, schicken Sie die Unterlagen an meine Privatadresse. Und nun noch etwas. Sie haben mir gemeldet, Mark Foreman sei in Frankreich bei einem Unfall gestorben. Das war eine Lüge. Mark Foreman lebt und befindet sich wohl und munter in Birmingham.«

»Unmöglich. Ich habe es mit eigenen …«

»Halten Sie den Mund.« John Phillip Duncans Stimme klang so schneidend, dass es Smith kalt über den Rücken lief. »Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu diskutieren. Sie haben versagt, und Sie wissen, was in diesem Fall mit Ihnen geschieht.«

»Ich werde mich sofort darum kümmern. Er entkommt mir nicht. Ich bringe ihn um. Bestimmt. Sie können sich darauf verlassen«, beschwor Smith ihn.

»Okay, das ist Ihre letzte Chance. Bis Ende der Woche gebe ich Ihnen Zeit. Wenn Foreman dann noch lebt, ziehe ich die Konsequenzen, und was das bedeutet, können Sie sich denken.«

Duncan hängte ein, ohne auf eine Erwiderung zu warten.

Zwei Tage nach ihrem Gespräch mit dem Sicherheitsberater flog Susan nach Birmingham. Mark holte sie am Flughafen ab. Susans erste Frage, nachdem sie ihn zur Begrüßung umarmt hatte, war, ob er sich inzwischen mit seinem Freund in Atlanta in Verbindung gesetzt habe.

»Angsthase«, sagte Mark und lachte. Dann beruhigte er sie jedoch. »Ja, ich habe Keven Nash noch am gleichen Tag angerufen, und er war gestern in Birmingham. Ich habe ihn mit der Untersuchung der Vorfälle beauftragt. Es wird allerdings einige Zeit dauern, bis wir etwas Genaueres wissen, denn Keven ist der Meinung, dass jeder, der von dem Unternehmen Kenntnis hat, potentieller Täter ist. Er will deshalb alle Personen – mit einer Ausnahme, und das bist du – überprüfen.«

»Und was machst du bis dahin? Willst du dir nicht doch lieber eine Leibwache zu deiner Sicherheit zulegen?«, fragte Susan besorgt.

»Unsinn. Ich werde halt etwas aufpassen. Keine Sorge, mir passiert nichts. Unkraut vergeht nicht.«

Susan wollte etwas sagen, doch Mark ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Und jetzt Schluss mit dem Unsinn«, sagte er bestimmt, fuhr dann aber gleich liebevoll fort: »Komm, Schatz, wir müssen uns beeilen, ich will noch heute mit dir zum Camp fahren, um die nächsten Schritte mit dir und Sam zu besprechen.«

Während Mark Susan vom Flugplatz abholte und sie ins Motel brachte, kletterte ein in T-Shirt und Jeans gekleideter Mann fluchend und schwitzend eine Felswand hoch. Immer wieder hielt er an und stocherte mit einem Stock in den Felsspalten herum, um Klapperschlangen oder sonstiges giftiges Getier aufzuspüren und zu verscheuchen. Es war feuchtheiß, und die Mücken machten ihm zu schaffen. Zwar hatte er sich mit einem Insektenspray eingesprüht, aber das schien die Mücken nicht zu stören. Endlich hatte er den Platz erreicht, den er sich am Vormittag ausgesucht hatte. Der Standort war gut gewählt, denn von hier aus konnte er den Highway mehrere Meilen weit einsehen. Hinter einem Steinbrocken ließ er sich nieder und öffnete den Koffer, den er mit hochgeschleppt hatte.

Darin lagen, sauber in Schaumgummi eingepasst, die Teile eines Gewehrs. Mit geübten Handgriffen schraubte er sie zusammen und montierte als letztes ein Zielfernrohr auf den Lauf. Dann führte er ein Magazin mit zwanzig Schuss in die Kammer und lud das Gewehr durch. Er stellte die Waffe neben sich, nahm ein starkes Fernrohr aus dem Koffer und beobachtete den Highway.

Endlich, es mussten fast drei Stunden vergangen sein, glaubte er, in der Ferne das Fahrzeug, auf das er wartete, auszumachen. Konzentriert starrte er durchs Glas. Ja, es war der richtige Wagen. Er legte das Fernrohr zur Seite, griff nach dem Gewehr und richtete das Zielfernrohr auf den schnell näher kommenden Geländewagen. Deutlich konnte er Mark Foreman hinter dem Steuer erkennen. Ruhig, als wäre er auf dem Schießstand, hielt er das Fadenkreuz des Zielfernrohrs auf die Nasenwurzel Mark Foremans. Noch fünfzig Meter, noch zwanzig, jetzt. Der Mann krümmte den Finger am Abzug, spürte einen leichten Rückschlag und sah im gleichen Moment das Glas der Windschutzscheibe splittern.