Kapitel 21

Als Ali Assarwar Sheila stolz die Nachricht überbrachte, dass er die Gesuchten gefunden habe, flog sie ihm vor Freude um den Hals. Assarwar überwand seine Schüchternheit und nutzte die günstige Gelegenheit, um Sheila leidenschaftlich zu küssen. Wie selbstverständlich ließ sie es geschehen. Sie presste sich an ihn, und Ali spürte ihre aufwallende Leidenschaft. Doch bevor sie sich ihrem Gefühl ganz hingab, löste sie sich, wenn auch widerstrebend, aus seinen Armen.

»Dazu haben wir jetzt keine Zeit«, sagte er außer Atem. »Wir müssen die Nachricht sofort nach Birmingham weiterleiten.«

Sheila setzte sich an den Schreibtisch, verschlüsselte die Botschaft und reichte Ali Assarwar den Zettel.

»Kannst du sie gleich aufgeben?«

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er und verließ den Raum.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis er zurückkam. »Die Nachricht ist unterwegs«, sagte er, zog er einen Sessel heran und setzte sich.

»Was hast du jetzt vor?« Als Sheila nicht sofort antwortete, fuhr er fort: »Wir können für ein paar Tage nach Tripolis fahren. Ich habe dort eine Villa am Meer. Wir können uns ausruhen, schwimmen und die Tage genießen.« Erwartungsvoll sah er sie an.

Doch Sheila schüttelte bedauernd den Kopf. »Unmöglich, Ali, ich muss nach Al Zariff, um das Versteck zu observieren. Der ganze Erfolg unseres Unternehmens hängt davon ab, dass die Befreiungstrupps genaue Informationen über das Versteck, seine Lage, die Bewachung, den Ablöserhythmus, einfach jede Kleinigkeit bekommen. Sie brauchen diese Daten so schnell wie möglich, damit sie sich auf ihre Aufgabe vorbereiten können. Ich darf keine Zeit verlieren, ich muss sofort nach Al Zariff. Es tut mir von Herzen leid, aber ich kann nicht mitkommen.«

Ali Assarwar war enttäuschter, als er es zeigte. Er hatte sich auf ein paar Tage mit Sheila gefreut. Doch er unterdrückte seine Gefühle, denn Sheilas Plan entsetzte ihn. Beschwörend sprach er auf sie ein: »Du kannst unmöglich nach Al Zariff. Das Dorf liegt mitten im Gebirge, es ist die Hochburg von Sheik Hamlek. Fremde werden dort nicht geduldet. Nein, Sheila, vergiss es, ich lasse dich da nicht hin.«

Sheila lächelte ihn dankbar an. »Es ist lieb, dass du um mich besorgt bist, aber ich muss dahin. Deswegen bin ich doch extra nach Beirut gekommen. Ich muss die Informationen beschaffen. Und wenn ich nicht ins Dorf kann, dann muss ich eben eine andere Möglichkeit finden, das Versteck zu beobachten.«

»Wie stellst du dir das eigentlich vor? Das Dorf liegt in einem schmalen Tal und ist von hohen Bergen umgeben. Nur eine Straße verbindet es mit der Außenwelt. Aber die kannst du nicht benutzen, denn vor Al Zariff liegen noch zwei andere Siedlungen. In beiden wohnen Hamleks Leute. Du kämst nicht einmal nahe an Al Zariff heran.«

»Aber es muss eine Möglichkeit geben, zum Dorf zu gelangen. Wenn es auf der Straße nicht geht, dann gehe ich über die Berge.«

Ali sah sie kopfschüttelnd an. »Du hast vielleicht Vorstellungen von den Bergen hier. Ich werde dir zeigen, wie unmöglich dein Plan ist. Ich habe eine Karte von der Gegend in meinem Arbeitszimmer. Ich hole sie.«

Aber auch als Ali mit der Karte zurückkam und ihr alle Schwierigkeiten aufzählte, die ihrem Plan entgegenstanden, gab sie nicht auf. Sie musste Mark Foreman Detailinformationen beschaffen, egal wie schwer oder gefährlich es war. Als keines seiner Argumente half, gab Ali auf. Resignierend zuckte er mit den Schultern.

»Also gut, wenn ich dich von diesem idiotischen Plan nicht abbringen kann, dann wollen wir gemeinsam versuchen, einen Weg zu finden. Ich habe Verbindungen zur Armee und kann vielleicht einen Hubschrauber auftreiben. Wir können dann das Gelände in sicherer Entfernung abfliegen und sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, unbemerkt an das Dorf heranzukommen.«

Sheila war ihm für seine Worte so dankbar, dass sie sich spontan zu ihm hinüberbeugte und ihn küsste. Ali nahm sie in seine Arme, und für die nächsten Stunden vergaßen beide Sheik Hamlek, die Geiseln und die Männer, die in Birmingham auf Nachricht warteten.

Der Hubschrauberflug half sehr. Zusammen mit Ali Assarwar und einem Oberleutnant der Armee flogen sie mehrere Male das Berggelände zu beiden Seiten des Dorfs Al Zariff ab. Ali hatte dem Piloten gesagt, dass sie an einer geologischen Studie arbeite, damit ihm Sheilas Interesse für das Bergmassiv nicht verdächtig vorkam. Sheila hatte die Karte von dem Gelände auf dem Schoß und markierte alle für ihren Plan wichtigen Punkte. Das Dorf lag, wie Ali gesagt hatte, eingeklemmt in einem engen Tal in etwa elfhundert Meter Höhe. Die Berge, die es umsäumten, stiegen teilweise bis auf zweitausend Meter an und waren schroff und unzugänglich. Außer einigen Büschen gab es keine Vegetation. Nur an einer Seite des Bergmassivs, fast verdeckt zwischen Felsbrocken, entdeckte Sheila einen Trampelpfad, der sich bis zum Kamm hinaufwand. Sie markierte den Verlauf des Weges mit einem roten Stift auf der Landkarte.

In ihrer Beiruter Wohnung begann sie sofort mit der Vorbereitung ihres Unternehmens. Sie hatte beschlossen, für einige Tage in den Bergen zu kampieren. Alle Einwände, die Ali gegen den seiner Ansicht nach hirnrissigen Plan vorbrachte, schlug sie in den Wind. Auch als Ali ihr einen seiner Söhne als Begleiter und Beschützer aufdrängen wollte, lehnte sie ab. Sie wollte allein sein, denn sie hatte nach dem Erlebnis an ihrem Ankunftstag kein allzu großes Vertrauen in die Belastbarkeit seiner Söhne. Sie dagegen war als Einzelkämpferin ausgebildet und würde in jeder Situation die Nerven behalten. Auch verstand sie es, sich im Gelände richtig zu bewegen, Entbehrungen zu ertragen und sich den gegebenen Umständen anzupassen. Ali Assarwars Söhnen traute sie diese Fähigkeiten nicht zu. Natürlich sagte sie ihm das nicht, sondern erklärte ihm, dass sich ein einzelner Mensch viel besser in der kargen Landschaft verbergen könnte als zwei Personen. Ali blieb nichts anderes übrig, als in Sheilas Plan einzuwilligen und ihr beim Zusammenstellen der Ausrüstung zu helfen.

Am folgenden Tag brach Sheila auf. Ahmed hatte von seinem Vater den Befehl bekommen, sie mit einem Jeep so weit wie möglich zu ihrem Ausgangspunkt zu bringen. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Hinter Baskinta bogen sie in einen Schotterweg ein, der in die Berge führte. Ahmed musste weit nach Norden fahren, um in das Seitental zu gelangen, von dem aus Sheila den Aufstieg zum Kamm wagen wollte. Der Schotterweg wurde immer schmaler. Ahmed konnte nur noch im Schritttempo fahren. Manchmal lagen die Felsbrocken so dicht beieinander, dass Sheila fürchtete, der Jeep bliebe stecken. Aber immer fand Ahmed noch einen Weg. Sie brauchten nur länger als ursprünglich angenommen. Als sie schließlich am Fuß der Bergkette ankamen, wurde es bereits dunkel.

Sheila holte ihren Rucksack aus dem Jeep und begann den Aufstieg. Aber schon nach einer Stunde war es so dunkel geworden, dass sie den Pfad nicht mehr ausmachen konnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als eine Rast einzulegen und zu warten, bis der Mond aufgegangen war. Sie kauerte sich an einen Felsbrocken und zog ihren Parka über. Doch trotz der warmen Jacke fror sie, denn ein kalter Wind blies von den Bergen. Sheila war froh, als sie nach zwei Stunden wieder aufbrechen konnte. Der fahle Mondschein gab genügend Licht, um den Pfad zu erahnen. Der Anstieg wurde steiler und steiler, Sheila keuchte unter der Last ihres Gepäcks. Vor allem machte ihr das Gewicht der Wasserflaschen zu schaffen. Aber sie durfte keine leeren, denn sie brauchte viel Wasser, um die sengende Mittagssonne zu überstehen. Der Schweiß rann ihr in Strömen vom Gesicht, aber sie kümmerte sich nicht darum. Schritt für Schritt stieg sie weiter den steilen Pfad bergan. Die harte Ausbildung in Foremans Schule zahlte sich aus.

Endlich hatte sie den Kamm erreicht. Im Tal brannten einige Lichter. Das musste Al Zariff sein. Ohne sich auszuruhen, suchte sie nach einem Versteck. Sie hatte Glück, denn ganz in der Nähe fand sie eine Felsspalte, die sie vor dem kalten Nachtwind und der Tageshitze schützen konnte. Von einem der halbverdorrten Büsche, die vereinzelt zwischen den Felsen wuchsen, brach sie einen Ast ab und stocherte damit in der Felsspalte umher. Sie wollte sichergehen, dass sie ihr Quartier nicht mit Schlangen und Skorpionen teilte. So gut es ging, richtete sie sich ein und versuchte zu schlafen, aber es gelang ihr nicht. Die schweißnasse Kleidung klebte an ihrem Körper und ließ sie frösteln. Immer wieder musste sie aufstehen, um sich durch Bewegung zu wärmen. Erst als die Sonne aufging, fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf.

Lautes Gekläffe weckte sie. Zwei Hunde balgten sich im Dorf um einen Knochen und hatten sie hochfahren lassen. Vorsichtig kroch sie zum Eingang. Sie hatte ihren Standort gut gewählt, denn von hier oben konnte sie das ganze Dorf einsehen. Es bestand aus hundert zumeist einstöckigen Häusern, die sich um eine Art Marktplatz gruppierten. An der Südseite wurde der Marktplatz durch eine Moschee und an der Nordseite durch das einzige mehrstöckige Gebäude des Ortes begrenzt.

Sicher das Haus des Sheiks, dachte Sheila. Sie krabbelte zurück und holte Papier und Bleistift. So gut es ging, skizzierte sie einen Lageplan des Ortes.

Langsam erwachte im Dorf das Leben. Der Muezzin rief die Gläubigen zum Morgengebet, Männer und Burschen strömten in die Moschee. Wenig später öffneten die Händler ihre Läden, und auf dem Marktplatz wurden Stände für Obst und Gemüse aufgebaut. Männer standen herum, rauchten und unterhielten sich.

Sheila hatte ihr Fernglas geholt und beobachtete das dörfliche Treiben. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie den Häusern, die in der Nähe des mehrstöckigen Gebäudes lagen. In einem dieser Häuser musste sich das Versteck der Geiseln befinden. Aber so sehr sich Sheila auch bemühte, sie konnte nicht erkennen, in welchem der Häuser die Amerikaner gefangengehalten wurden.

Der Tag verging, ohne dass sie auch nur die Spur eines Hinweises erhalten hätte. Dann, die Sonne stand schon tief im Westen, öffnete sich die Tür des Hauses, das rechts neben dem mehrstöckigen Gebäude lag, und ein bewaffneter Mann trat heraus. Gleich darauf folgten drei Männer, denen die Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Den Schluss bildete wieder ein bewaffneter Libanese. Durch ihr Fernglas konnte Sheila trotz eines dichten Bartes Dennis Albright erkennen. Sie hatte sich sein Bild in Birmingham so gründlich eingeprägt, dass sie ihn überall erkannt hätte.

Die Gefangenen wurden auf den Marktplatz geführt und durften sich dort eine halbe Stunde bewegen. Danach ging es zurück ins Haus. Für den Rest des Abends passierte nichts mehr, abgesehen davon, dass ein Mann mit einem ledernen Aktenkoffer, der wie eine Arzttasche aussah, das Haus betrat.

Am nächsten Tag bot sich Sheila, die seit dem Morgengrauen wieder ihren Beobachtungsposten bezogen hatte, das gleiche Bild. Erst mit einbrechender Dunkelheit wurden die Gefangenen aus dem Haus geführt. Wieder hatten sie eine halbe Stunde Zeit, um sich zu bewegen, und wieder wurden sie von zwei Männern mit Maschinenpistolen bewacht. Durch ihr Glas konnte sie erkennen, dass Dennis Albright sich verletzt haben musste, denn seine linke Hand war mit einem Verband umwickelt. Er schien Schmerzen zu haben, denn Sheila konnte sehen, wie er die rechte Hand um sein linkes Handgelenk presste.

Sobald die Gefangenen im Haus verschwunden waren, packte Sheila ihre Sachen zusammen. Sie hatte genug gesehen. Sie bedauerte nur, dass sie nicht erfahren konnte, wie es im Haus aussah, wie viele Wachen eingesetzt waren und wann die Wachen abgelöst wurden. Gerade diese Informationen brauchte Foreman dringend für die Planung des Unternehmens Blitzschlag. Sie nahm sich vor, Ahmed darauf anzusprechen. Er musste versuchen, diese Angaben aus dem Pockennarbigen herauszupressen.

Sheila wartete, bis der Mond aufgegangen war, und machte sich dann an den Abstieg. Am Fuß des Berges wurde sie schon von einem unruhigen Ahmed erwartet.

»Wo hast du denn gesteckt?«, fragte er aufgeregt. »Ich warte schon seit Stunden auf dich. Ist was passiert?«

Sheila legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Alles in Ordnung. Ich konnte nicht früher kommen, aber ich habe die Geiseln gesehen. Alles lief bestens.«

Sheila warf ihr Gepäck auf den Rücksitz und stieg in den Jeep.

»Und jetzt beeil dich bitte. Ich will das, was ich beobachtet habe, noch heute nach Birmingham telegrafieren.«