6
Der Einbruch
Als es am Abend draußen dunkel wird, steigen wir Calzones alle wieder in den Wagen. Alle außer Angelina, die erneut die Fernüberwachung übernimmt, und Enrico, der lieber zu Hause bleibt. Renzo hat ihm eine Raubkopie des Computerspiels »Grand Theft« besorgt, und das will er unbedingt ausprobieren, weil da die Verbrecher die Helden sind.
Mama und ich finden zwar, dass Enrico für das Computerspiel noch viel zu klein ist, aber Papa hat gesagt: »Ach was, dabei kann er eine Menge für später lernen. Das ist besser als Schule.«
Mich nehmen meine Eltern nur mit, damit ich zu Hause keinen Unsinn mache. Mit Unsinn meinen sie zum Beispiel die Polizei oder den Zoo anrufen. Meine Familie hat mich schon den ganzen Nachmittag nicht aus den Augen gelassen. Ich hatte keine Chance, nach unserer Rückkehr irgendetwas zu unternehmen, um die Entführung doch noch zu verhindern.
Renzo und ich hocken uns rechts und links neben der Liege auf den Wagenboden und ziehen die Knie an, weil es so eng ist. Oma hat sich schon hingelegt, schläft diesmal aber nicht ein, weil sie ja heute Nachmittag schon ein Nickerchen gemacht hat. Mama und Papa sitzen vorne, und da auf den Straßen um die späte Uhrzeit nicht mehr viel los ist, erreichen wir den Zoo diesmal viel schneller als bei unserem ersten Besuch.
»Was gäbe ich dafür, wenn Opa uns jetzt sehen könnte«, erklärt Papa, als er auf den leeren Parkplatz fährt. »So ein Ding hat selbst er noch nie gedreht.«
»Noch habt ihr es nicht gedreht«, rufe ich von hinten, werde aber von den anderen Calzones völlig ignoriert.
»Wie viel Lösegeld man wohl für die Rückgabe eines weißen Pandas verlangen kann?«, fragt Mama.
»Gar nichts. Die werden überhaupt nichts zahlen«, rufe ich. Wieder keine Reaktion.
»Eine Million Deutsche Mark!«, antwortet meine Oma, die sich immer noch nicht an den Euro gewöhnt hat.
»Und einen Hubschrauber!«, ergänzt Renzo, weil das sein großer Traum ist und sich ein Helikopter nicht so einfach klauen lässt wie ein Auto. Sonst hätte er längst einen.
»Ich denke, wir sollten vier Millionen Euro fordern, dann können wir immer noch auf zwei Millionen runtergehen, wenn denen das zu viel ist«, erklärt Papa, als er den Wagen abstellt.
Wir steigen aus und sehen ziemlich verwegen aus, weil wir alle schwarze Klamotten tragen. Das ist die Berufsbekleidung der Calzones. Ich trage die auch. Renzo hat mich vor der Abfahrt gezwungen, mein neongelbes T-Shirt wieder auszuziehen. Dabei hatte ich mir das extra für unseren Ausflug rausgesucht. Mama hält jetzt einen alten Weinkorken über die Flamme ihres Feuerzeugs und schmiert mir dann den Ruß ins Gesicht. Danach sind die anderen dran, und als sie fertig ist, sind wir in der Dunkelheit kaum noch zu sehen.
Wir nehmen wieder den Weg über das Lieferantentor. Diesmal klettere ich freiwillig drüber, weil ich nicht noch einmal geworfen werden möchte und ich mir um die Uhrzeit sowieso keine Eintrittskarte kaufen kann.
Kurz darauf meldet sich auch schon Angelina auf Mamas Mobiltelefon: »Es gibt zwei Wachmänner, die jede Stunde eine Runde auf ihren Fahrrädern drehen. Keine Sorge, ich warne euch, wenn die Typen in eurer Nähe auftauchen. Ich habe die Bilder der Überwachungskameras hier auf meinem Rechner. Winkt doch mal!«
Wir winken in die nächste Kamera.
»Ich hoffe, die speichern ihre Aufzeichnungen nicht«, bemerkt Mama skeptisch.
»Doch, tun sie«, erwidert Angelina. »Aber keine Sorge, solange ihr im Zoo seid, ersetze ich die Live-Aufnahmen mit Archivbildern, die menschenleere Wege zeigen.«
»Gutes Mädchen«, sagt Papa, und sogar Renzo brummt lobend.
Wir schleichen hintereinander durch den dunklen Zoo und das ist ziemlich unheimlich. Von allen Seiten ertönen seltsame Geräusche, und in den Gehegen tauchen die Schatten von Tieren auf, die ich hier noch nie getroffen habe, weil die tagsüber wahrscheinlich schlafen. Es stinkt in der Dunkelheit auch mehr als im Hellen. Aber das ist bei Blinden ja auch oft so, dass die viel besser riechen, fühlen und schmecken können als sehende Menschen.
Plötzlich raschelt es in einem Gebüsch neben mir. Ich zucke zusammen, weil ich befürchte, dass dort ein Tiger oder Löwe lauert. Vielleicht werden die ja nachts aus ihren Gehegen gelassen, damit die ein bisschen Auslauf kriegen. Das wäre doch möglich, oder? Ich war nachts noch nie im Zoo und habe also keine Ahnung, was da nach Kassenschluss abgeht.
»Mach dir mal nicht ins Hemd«, sagt Renzo. »Das ist doch nur eine Ratte.«
Mein großer Bruder hat recht. Als ich mich umdrehe, sehe ich sie davonwuseln. Sie ist dunkelgrau und hat mit Sicherheit mehr Angst vor uns als wir vor ihr. Trotzdem ist auch Renzo ganz blass geworden. Das erkenne ich, weil seine rußverschmierten Wangen jetzt eher hellgrau als schwarz sind.