Zufrieden grinsend ziehe ich aus meiner Jackentasche einen Schokoriegel, den Oma noch nicht entdeckt hat. Ich reiße die Verpackung auf und schiebe mir die Hälfte davon in den Mund. Als der Panda das sieht, erhebt er sich träge und trottet gemütlich durch die offene Tür des Geheges direkt auf mich zu. Er bleibt vor mir stehen, reckt seinen runden Kopf zu mir hoch und schaut mir genau in die Augen. Denke ich. In Wirklichkeit starrt er nicht mich, sondern meinen Schokoriegel an.
»Er mag dich, Rocco«, sagt Mama gerührt.
»Quatsch, der mag Schokolade«, korrigiert Oma.
»Guter Junge!« Papa stürmt aus dem Käfig, klopft mir anerkennend auf die Schulter und reißt mir den restlichen Riegel aus der Hand. Dann wedelt er damit vor der Nase des Pandas rum und beginnt rückwärts Richtung Parkausgang zu laufen. Der Panda setzt sich schwerfällig in Bewegung und folgt Papa, oder besser gesagt, meinem halben Schokoriegel. Wir anderen Calzones auch. Niemand sagt ein Wort, weil es ein magischer Moment ist, wie das schneeweiße Tier meinem schwarz gekleideten Vater hinterhertrottet. Diesen Augenblick können nicht einmal die nächtlichen Schreie der Zootiere zerstören. Das schafft nur Angelina, die sich nach einer Ewigkeit wieder auf Mamas Telefon meldet und mit lauter Stimme fragt: »Wow! Wie habt ihr das denn geschafft?«
»Wo warst du die ganze Zeit? Die Nachtwächter hätten uns beinahe erwischt«, erwidert Mama sauer. »Wieso hast du uns nicht gewarnt?«
»Enrico hat mir den Laptop geklaut und sich damit auf dem Klo eingeschlossen, um sein blödes Computerspiel draufladen zu können«, verteidigt sich Angelina. »Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um das Schloss zu knacken und mir den Laptop zurückzuholen.«
»Anfängerin!«, brummt Renzo.
»Das habe ich gehört!«, brüllt Angelina zurück.
Während des Gesprächs ist unsere kleine Karawane stehen geblieben, weil Papa sich verlaufen hat. Wir stehen vor ziemlich dicken Kamelen, und ich kann mich nicht erinnern, dass wir an denen auf dem Hinweg vorbeigekommen sind. Andererseits sieht in der Dunkelheit sowieso alles gleich aus. Deswegen erkenne ich auch erst auf den zweiten Blick, dass die dicken Kamele keine Kamele, sondern Nashörner sind. An die kann ich mich aber auch nicht erinnern. Ich hatte vorhin schon den Verdacht, dass Papa bei den Pinguinen falsch abgebogen ist. Gesagt habe ich nichts. Natürlich habe ich nichts gesagt. Wenn wir uns hier verirren, bleibt der Panda im Zoo, und alles wird gut.
»Verrat uns lieber, wo wir langmüssen«, sagt Papa und schaut fragend in die nächste Überwachungskamera.
»Ihr müsst wieder ein Stück zurück und dann …«, beginnt Angelina, als Oma plötzlich losbrüllt. Lauter als die Löwen vorhin.
Der Panda hat einen Satz nach vorne gemacht und sich den Schokoriegel aus Papas Hand geschnappt. Dabei wirkte er überhaupt nicht mehr träge oder behäbig, sondern eher wie ein Krokodil, das tagelang bewegungslos auf seiner Sandbank lag, um dann auf einmal tödlich zuzuschlagen. Tödlich war der Pandaangriff aber nur für den Schokoriegel. Papas Finger haben nicht einen Kratzer abbekommen.
Mit einem zufriedenen Schmatzen lässt sich der Panda auf den Boden sinken und rollt sich auf die Seite, so als wollte er wieder gekrabbelt werden.
»Hat noch jemand von euch Schokolade in der Tasche?«, fragt Mama und schaut Oma an.
»Was schaust du mich so an?«, faucht Oma zurück. »Ich habe keine Schokolade!«
Das glaube ich ihr sogar, weil sie die nämlich immer sofort aufisst.
Renzo und Papa haben auch nichts Süßes dabei. Deswegen versuchen sie wieder, den Panda vor sich herzuschieben. Als das nicht funktioniert, probieren sie es mit Rollen. Doch das klappt auch nicht, obwohl der Panda rund wie ein Fass ist.
»Wir brauchen eine Schubkarre«, beschließt Papa schließlich.
»Ich kann eine holen«, schlage ich vor, obwohl ich das selbstverständlich nicht tun werde. Ich werde einfach bis zum Sonnenaufgang durch den Zoo stromern, dann zurückkehren und atemlos verkünden, dass es im ganzen Zoo keine einzige Schubkarre gibt. Dann müssen wir den Panda zurücklassen und uns davonmachen, ehe die ersten Besucher kommen. So lautet mein Plan. Doch der geht leider nicht auf, weil die anderen mich komisch angucken. Sogar der Panda hebt seinen dicken Kopf, um mich mitleidig anzusehen. Das verunsichert mich so sehr, dass ich schnell noch ein »Die Schlüssel waren wirklich nicht mehr da!« hinterherschiebe.
»Renzo holt die Schubkarre«, erklärt Papa, und so wie er mich dabei ansieht, ist es nicht schwer zu erraten, dass er mir nicht glaubt. Weder das mit der Karre noch das mit den Schlüsseln.
Es dauert keine fünf Minuten, da ist Renzo auch schon wieder zurück. Er hat aber keine Schubkarre, sondern so einen Bollerwagen dabei, mit dem man im Zoo kleine Kinder hinter sich herziehen kann.
»Der war nicht mal abgeschlossen«, verkündet Renzo, als er den Wagen abstellt. Er und Papa versuchen den dicken Panda auf die Ladefläche zu heben. Das gelingt jedoch erst, als auch noch Mama, Oma und ich mit anpacken. Obwohl ich mich echt nicht anstrenge, sondern nur so tue als ob.
»Achtung! Die Nachtwächter kommen zurück«, ruft Angelina plötzlich.
Mit dem Panda in dem Bollerwagen kommen wir jetzt flotter voran und verschwinden schnell in einem Seitenweg, der zu den Elefanten führt. Papa und Mama ziehen den Wagen, und Renzo zieht mich an meinem Ärmel hinter sich her, damit ich nicht trödele. Das hatte ich tatsächlich vor, und dass Renzo das gemerkt hat, zeigt eben doch, dass wir eine Familie sind. Da weiß eben jeder genau, wie der andere tickt. Die Einzige, die jetzt noch bremst, ist Oma, die nicht mehr so gut zu Fuß ist. Deswegen setzt Papa sie kurzerhand zu dem Panda in den Bollerwagen. Da ist noch genügend Platz und schön weich hat sie es dort auch. Trotzdem sieht sie nicht zufrieden aus. Ich vermute mal, weil sie die ganze Zeit an die Geschichte mit dem Kaninchen denken muss. Auch der Panda sieht nicht besonders glücklich über seine Beifahrerin aus. Ich sagte ja bereits, dass alte Leute manchmal etwas riechen. Dabei duftet er selbst nicht besonders gut, ehrlich gesagt stinkt der Panda ganz gewaltig.
Wir erreichen das Lieferantentor, ohne noch einmal auf die Nachtwächter zu treffen. Angelina hält uns auf dem Laufenden, wo sich die beiden gerade aufhalten, während Papa und Renzo Oma über das Tor heben. Dann ist der schwere Panda an der Reihe. Nach drei Versuchen geben die beiden auf und Papa macht sich am Schloss zu schaffen. Zehn Sekunden später hat er es mit seinem Dietrich geöffnet, und ich frage mich, warum wir das nicht vorhin schon gemacht haben. Dann hätten wir uns die ganze Kletterei sparen können.
»Hat er eigentlich auch einen Namen?«, frage ich, als wir mit dem Panda in dem Bollerwagen über den Parkplatz laufen.
»Keine Ahnung«, erwidert Mama, die neben mir geht, weil jetzt Renzo mit Papa den Wagen zieht. Oma ist nicht wieder eingestiegen, sondern folgt uns mit ein paar Metern Abstand. Dabei tröpfelt sie Parfüm auf ihr besticktes Stofftaschentuch und hält es sich unter die Nase.
»Dann müssen wir ihm einen Namen geben«, sage ich.
»Gute Idee, wir nennen ihn Lars. Nach dem Eisbären, weil er doch genauso weiß ist«, schlägt Mama vor.
»Oder Schneeflocke«, ruft Papa
»Milchtröpfchen«, mischt sich Angelina über das Telefon ein.
»Von wegen Tröpfchen«, stöhnt Renzo. »Bei dem Gewicht ist das eher ein Milchfass.«
»Wie wäre es mit Schimmelkäse«, näselt Oma, die sich immer noch ihr Taschentuch vor die Nase hält.
»Ich finde, wir sollten ihn Albi nennen«, sage ich. »Als Abkürzung von Albino.«
Zu meiner Überraschung widerspricht niemand. Wahrscheinlich ist es ihnen einfach egal, weil sie sowieso davon ausgehen, dass er nicht lange bei uns bleibt. Höchstens ein paar Tage, bis meine Familie das Lösegeld kassiert hat.
Renzo und Papa parken den Bollerwagen direkt neben unserem Auto, sodass sie Albi nicht weit tragen müssen. Als sie ihn in den Wagen wuchten, dreht sich Albi noch einmal um und blickt sehnsüchtig in die Richtung, in der sein Gehege liegt. Dazu gibt er ein trauriges Quieken von sich, das ich mir nur damit erklären kann, dass er nicht gerne Auto fährt. Ich kann ihn verstehen, denn wie ich schon befürchtet hatte, ist jetzt da hinten gar kein Platz mehr. Oma besetzt wieder die Liege und Renzo sitzt auf der einen Seite. Ich und der Panda müssen uns die andere Seite teilen. Albi legt mir seinen schweren runden Kopf auf die Beine und sieht mich dabei mit seinen roten Augen an. Und diesmal meint er wirklich mich und nicht meinen Schokoriegel, da bin ich mir ganz sicher.
Im selben Moment gibt Papa auch schon Gas und rast mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Als er in die Kurve geht, rutscht mir der Panda noch dichter auf die Pelle. Wegen seines Gewichts und seines Gestanks kriege ich kaum noch Luft. Trotzdem ist es ein wahnsinnig schönes Gefühl, weil er so kuschelig ist und weil ich mir genau wie Enrico schon lange ein Haustier wünsche. Nur habe ich mich nie getraut nach einem Hamster oder Meerschweinchen zu fragen. Ich hatte Angst, dass meine Eltern losziehen und eines für mich aus irgendeinem Stall klauen. Okay, der Panda ist auch gestohlen. Aber ja nur auf Zeit, und so lange er bei uns ist, werde ich dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlt. Dass ist schließlich die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass die große Waage endgültig zu weit nach links, also der schlechten Seite, ausschlägt.