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Zwölfmal Ente
süßsauer
Ich reiße das Fenster auf, um ein bisschen zu lüften. Da kommt Mama auch schon in mein Zimmer gestürmt und knallt das Fenster schnell wieder zu.
»Die Zugluft ist bestimmt nicht gut für ihn«, erklärt sie. »Wir wollen ihn doch gesund zurückgeben.«
»Er liegt unter meiner warmen Decke«, erwidere ich. »Da kann er sich gar nicht erkälten.«
»Trotzdem«, entgegnet Mama. »Sicher ist sicher!«
Dann gibt sie mir einen Kuss auf die Stirn und verschwindet wieder in der Küche. Angeblich, um weiter Buchstaben aus der Zeitung auszuschneiden. Ich glaube aber, es stinkt ihr einfach zu doll in meinem Zimmer, und sie wollte nur nicht, dass der Gestank die Nachbarschaft misstrauisch macht.
»Kann man auf dem reiten?«, fragt Enrico.
»Nein!«, antworte ich gereizt.
»Hilfst du mir, Maries Kaninchen zu klauen?«
»Nein!«
»Ich gebe dir auch eine ganze Tüte voll Süßigkeiten!«
»Nein!«
»Zwei Tüten!«
»Ich will deine geklauten Bonbons nicht und jetzt verschwinde!«
»Frag ich eben Renzo.« Enrico trollt sich beleidigt und das ist gut so. Ich muss nämlich dringend ins Bad, wo Mama ihr teures Lieblingsparfüm aufbewahrt. Das hat ihr Papa geschenkt, nachdem er in eine Drogerie eingebrochen ist, als bei uns zu Hause das Klopapier alle war. Weil die anderen Calzones noch in der Küche beschäftigt sind, kann ich mir unbemerkt den Flakon schnappen und mich wieder zurück zu Albi schleichen. Das ist kein Stehlen! Ich leihe es mir ja nur aus und außerdem bleibt es schließlich in der Familie.
Das Parfüm versprühe ich großzügig in meinem Zimmer, achte aber darauf, dass noch genügend übrig bleibt. Mama wäre sonst ziemlich sauer und imstande, mich mit einem Zementblock an den Füßen im Stadtteich zu versenken.
Hätte ich besser in Chemie aufgepasst, könnte ich erklären, was jetzt passiert. Statt den Gestank des Pandas zu überlagern, verbinden sich die beiden Gerüche zu einer noch schlimmeren Duftnote, die stark an einen großen Haufen Elefantendung in einer Pfütze Zebrapisse erinnert.
Der Rest des Sonntagnachmittags plätschert unaufgeregt dahin. Albi schläft und pupst und meine Familie bastelt die Lösegeldforderung zu Ende. Dann wird Enrico losgeschickt, um den Brief in den Kasten zu werfen. Das macht bei uns immer Enrico, weil er die kleinsten Finger hat. Damit kann er bequem in den Briefkastenschlitz greifen, sich einen Umschlag rausfischen, die Marke abknibbeln und dann auf unseren Brief kleben. Oma begleitet ihn, weil sie noch in den Kurpark will. Am liebsten geht sie in den Japanischen Garten, der wirklich so aussieht, als würde er irgendwo in Asien liegen und nicht mitten in Deutschland.
»Aber heute ist doch Sonntag! Da musst du nicht arbeiten«, versuche ich sie zu zurückzuhalten. Das scheint sie jedoch nicht sonderlich zu interessieren. Sie tätschelt mir zum Abschied die Wange und verlässt mit Enrico das Haus. Dabei murmelt sie: »Ich will mich nur ein bisschen ablenken, damit ich nicht ständig an Opa denken muss.«
Als sie weg ist, setze ich mich vors Radio und höre Nachrichten. Ich will wissen, ob die schon was über die Entführung bringen. Tun sie aber nicht und das finde ich merkwürdig. Noch merkwürdiger finde ich, dass der Zoo für die nächste Woche sogar einen Panda-Tag ankündigt, an dem jeder Besucher in einem Panda-Kostüm freien Eintritt hat. Ich nehme an, sie wollen die Entführung einfach vertuschen, weil sie davon ausgehen, dass niemand so ein stinkendes Tier freiwillig länger als einen Tag behält.
Richtig spannend wird es erst am Abend wieder, als Albi aufwacht. Offensichtlich hat er Hunger, denn er steckt seine Nase in alle Schränke meines Zimmers.
»Albi braucht was zu fressen!«, rufe ich über den Flur in die Küche.
»Wer?«, ruft Papa zurück.
»Der Panda!«
»Es ist noch Schokolade da«, ruft Mama.
»Das ist keine so gute Idee«, antworte ich und versuche Albi von der Schublade mit meinen Unterhosen wegzuziehen. »Davon kriegt er Blähungen.«
Mama und Papa kommen aus der Küche zu mir rüber und betrachten ratlos den Panda, der gerade meinen Papierkorb durchwühlt.
»Was fressen die denn überhaupt?«, will Papa wissen.
»Bambus«, antworte ich, weil ich mich im Gegensatz zum Rest der Familie Calzone vorher ein bisschen schlaugemacht habe.
»Wo sollen wir denn jetzt Bambus herkriegen?«, fragt Mama.
»Wartet, ich habe eine Idee!«, verkündet Papa und brüllt: »Angelina! Ich brauche deine Hilfe.«
Dann ist er auch schon im Zimmer meiner Schwester verschwunden.
»Er ist wirklich ein schönes Tier«, sagt Mama. »Schade, dass er so stinkt.«
»Aber daran gewöhnt man sich«, erkläre ich. »Echt!«
Mama lupft vorsichtig das Taschentuch, das sie sich schon die ganze Zeit vor die Nase hält.
»Weiß du was, Rocco?! Der riecht sogar ein bisschen nach meinem Parfüm. Das was Papa mir geschenkt hat, als das Klopapier alle war. Erinnerst du dich?«
Und ob ich mich erinnere.
»Alles erledigt! In zwanzig Minuten können wir essen! Und der Panda auch«, sagt Papa, als er wieder zurück ist.
Mehr will er nicht verraten, doch genau zwanzig Minuten später klingelt es an der Tür. Es ist dann aber doch nur Oma, die nach Hause kommt und zufrieden drei Herrenbrieftaschen präsentiert.
»Die Leute im Japanischen Garten sind so was von leichtsinnig. Wenn die da meditieren, vergessen sie alles und achten gar nicht mehr auf ihre Sachen«, erklärt sie und grinst.
Kurz darauf klingelt es erneut. Vor der Tür steht ein junger Asiate mit einer großen Styroporbox in der Hand. Darin sind zwölf Portionen gebratene Ente süßsauer mit Duftreis, die er auf dem Küchentisch abstellt. Geld will er keines haben, weil das Essen schon bei der Bestellung mit einer Kreditkarte bezahlt wurde – aber bestimmt nicht mit unserer. Mama kramt in einem der von Oma erbeuteten Portemonnaies nach Trinkgeld und drückt es dem Boten in die Hand. Der Junge verbeugt sich tausendmal, und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre vor lauter Dankbarkeit auf allen vieren rückwärts zur Tür gekrochen. Mama hat ihm zwanzig Euro gegeben. Das ist nicht ungewöhnlich. Meine Eltern können sehr, sehr großzügig sein. Sie geben nur nicht gerne Geld für Dinge aus, die sie sich auch anders beschaffen können.
»Eine Portion für jeden von uns«, erklärt Papa feierlich. »Und fünf für den Panda. Das müsste ihm schmecken, kommt ja schließlich aus seiner Heimat.«
Ich habe da meine Zweifel, weil Pandas ja quasi Vegetarier sind. Aber vielleicht mag er wenigstens den Reis. Ich trage die fünf Plastikteller in mein Zimmer und stelle sie vor Albi auf den Boden.
Der Panda nähert sich neugierig und schnuppert kurz an dem Essen. Dann dreht er sich um und wischt mit seiner Tatze Enricos Lego-Star-Wars-Sammlung von der Fensterbank. Darunter auch die X-Wing, die nun in ihre Einzelteile zerlegt zwischen der Ente und dem Reis liegt. Albi wendet sich wieder mir zu und schaut mich mit traurigen roten Augen an. Ich kann ihm nicht böse sein. Es war ja auch nicht meine X-Wing, und außerdem ist das nur gerecht, weil Enrico die einem Mitschüler abgenommen hat. Er hat sie nicht mal selbst zusammengebaut, sogar das musste der andere Junge für ihn erledigen.
»Er mag keine Ente«, sage ich, als ich zurück in die Küche komme. »Und Reis auch nicht.«