12
Die Rückkehr
»Wo hast du das denn her?«, ruft Renzo mir zu, als ich am Nachmittag auf einem Damenrad mit einem Kinderfahrradanhänger hintendran die Auffahrt zu unserer Garage hochfahre.
»Geklaut«, antworte ich und stelle das Rad neben dem hellgrünen Leichenwagen ab.
»Weißt du, was ich gerade verstanden habe?«, sagt Renzo. »Geklaut!«
»Genau das habe ich ja auch gesagt«, erwidere ich, und das stimmt tatsächlich. Ich habe das erste Mal in meinem Leben richtig etwas geklaut. Das Rad mit dem Anhänger stand unverschlossen vor dem Kiosk von Herrn Fee. Und als ich auf dem Heimweg von der Schule daran vorbeikam, bin ich einfach aufgestiegen und losgefahren. Keiner hat was gemerkt, und als die Besitzerin aus dem Laden kam, war ich längst hinter der nächsten Ecke verschwunden. Der Anhänger war nämlich genau das, was mir für meinen Plan noch fehlte.
»Rocco hat ein Fahrrad geklaut! Mit Anhänger!«, brüllt Renzo. Er lässt das Werkzeug fallen, mit dem er eben noch an dem Leichenwagen rumgeschraubt hat, und läuft ins Haus, um den restlichen Calzones die frohe Botschaft zu verkünden.
Als ich in die Küche komme sind alle ganz aufgeregt und klopfen mir anerkennend auf die Schulter. Oma muss wieder heulen, aber diesmal vor Freude.
»Ich habe immer gewusst, dass du ein waschechter Calzone bist«, verkündet Papa stolz, und Mama sagt: »Du ahnst ja gar nicht, wie glücklich du mich machst.«
Sogar Enrico reckt mir seinen Daumen entgegen und Angelina gibt mir einen schwesterlichen Kuss auf die Wange.
»Darauf müssen wir anstoßen!«, verkündet Papa und nimmt zwei Flaschen aus dem Kühlschrank: Sekt für die Erwachsenen und Zitronensprudel für uns Kinder.
»Ich muss nur mal kurz in mein Zimmer«, sage ich, als Mama Sekt und Sprudel in die Kristallgläser gießt, die bei uns nur an ganz hohen Feiertagen aus dem Schrank geholt werden.
Albi liegt zwischen den Bambusstangen auf dem Boden und sieht gar nicht gut aus. Ich streichele ihm tröstend über das Fell, doch auch dabei lässt er das Panda-Poster keinen Augenblick aus den Augen. Ich reiße die Schublade meines Schreibtischs auf. Dort habe ich die Tropfen versteckt, die Papa mir für Albi gegeben hatte. Ich schließe meine Faust um das Fläschchen und gehe zurück in die Küche, wo meine Familie immer noch ganz aufgedreht ist. Für einen Moment haben sie sogar vergessen, dass die Pandaentführung nicht so reibungslos läuft wie geplant. Auf dem Küchentisch liegt die neue Lösegeldforderung, die Mama und Papa zusammengeklebt haben. Wenn ich das richtig verstehe, verlangen sie mittlerweile nur noch 20 000 Euro, und von einem Gleitflieger ist auch keine Rede mehr, nur noch von einem Lenkdrachen. Neben dem Blatt stehen die gefüllten Gläser. Ich beuge mich über den Zettel und tue so, als würde ich ihn lesen. In Wahrheit schütte ich heimlich ein paar Tropfen aus dem Fläschchen in den Sekt und den Zitronensprudel – außer in meinen natürlich.
»Und jetzt lasst uns anstoßen«, ruft Papa und schnappt sich einen der Sektkelche. »Heute ist ein besonderer Tag! Mein zweitältester Sohn tritt endlich in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters! Er lebe hoch, hoch, hoch!«
Meine ganze Familie trinkt auf mein Wohl und das ist mir ein bisschen peinlich. Zehn Minuten später sind sie alle eingeschlafen. Todmüde waren sie wegen durchwachten Nächten, die sie Albi zu verdanken haben, ja sowieso. Wahrscheinlich haben die Tropfen deswegen so schnell gewirkt.
Ich laufe in die Garage und schnappe mir einen Pinsel und einen Topf mit schwarzer Farbe, die Renzo sonst zum Umspritzen der geklauten Wagen benutzt. Dann rase ich zurück in mein Zimmer und beginne damit, Albis Beine, Arme, Augen und Ohren schwarz anzumalen. Als Vorbild nehme ich einfach das Poster an der Wand, damit ich weiß, wo die Flecken hingehören. Nur gegen seine roten Albino-Augen kann ich nichts machen, aber meine sehen nach den vielen schlaflosen Nächten auch nicht viel besser aus. Albi lässt alles mit sich geschehen, so als ahnte er, dass seine Rettung unmittelbar bevorsteht. Als ich fertig bin, ziehe ich einen Schokoriegel aus meiner Tasche. Den habe ich aus Enricos Vorrat gemopst und das war schon mein zweiter Diebstahl heute. Wenn das so weitergeht, kann ich heute Abend auf eine richtige Verbrecherkarriere zurückblicken.
Als ich den Riegel auspacke, hebt Albi seinen Kopf und schnüffelt neugierig. Ich verlasse langsam den Raum und tatsächlich: Der Panda erhebt sich und folgt mir durch den Flur, vorbei an der Küche, wo Mama, Papa und Oma auf den Stühlen und Enrico, Angelina und Renzo auf dem Fußboden schlafen, und dann raus aus dem Haus zu dem Fahrradanhänger. Mit dem Schokoköder gelingt es mir sogar, ihn in den Hänger zu locken. Für einen Augenblick befürchte ich, dass das Gefährt unter Albis Gewicht zusammenbricht. Er hat in den letzten Tagen zwar abgenommen, ist aber immer noch ziemlich kräftig. Doch zum Glück geht alles gut. Wahrscheinlich rechnen die Hersteller sowieso damit, dass die Kinder immer dicker werden, und bauen ihre Anhänger jetzt schon stabiler, als es eigentlich nötig wäre.
»Braver Panda«, lobe ich Albi und springe aufs Rad.
Wir haben den halben Weg geschafft, da fängt es an zu regnen. Erst nur ganz leicht, dann immer stärker. Als wir den Zoo erreichen, bin ich nass bis auf die Knochen. Albi nicht, denn der hockt ja schön trocken unter dem Verdeck des Fahrradanhängers.
An der Kasse ist nicht viel los, eigentlich gar nichts. Wir sind die einzigen Besucher weit und breit, und das liegt bestimmt nicht nur an dem Regen, der jetzt so richtig kräftig auf uns runterprasselt. Der andere Grund für die Flaute ist, dass sich der Albino-Panda angeblich immer noch auf der Krankenstation befindet, wo ein internationales Team von Tierärzten um sein Leben kämpfen soll. So stand es heute Morgen jedenfalls in der Zeitung.
Und wer geht schon in den Zoo, wenn die neue Hauptattraktion nicht zu sehen ist? Da nützt auch die Aktion »Freier Eintritt für Besucher im Panda-Kostüm«, die heute trotzdem stattfindet, überhaupt nichts.