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Familienrat

Hinter der Sicherheitsschleuse erwartet uns ein anderer Gefängniswärter. Er führt uns zu dem Besucherraum, in dem Opa jetzt sicher schon auf uns wartet. Mama und Oma unterhalten sich mit dem Mann über die Gesundheit seiner drei Kinder. Papa und Renzo diskutieren mit ihm den Tabellenstand seines Lieblingsvereins. Wenn man zehn Jahre lang jeden Freitag hierherkommt, kennt man sich einfach. Mit einigen der Wärter sind meine Eltern sogar per Du. Die wissen ja nicht, was meine Familie sonst so treibt. Die glauben ja, wir sind auch nach zehn Jahren immer noch total erschüttert, weil Opa für uns alle so völlig unerwartet im Gefängnis gelandet ist.

Ich sage nichts und laufe einfach hinterher. Der Weg zum Besucherraum ist überhaupt das Beste. Darauf freue ich mich schon die ganze Woche, weil es so schön gruselig ist. Alle paar Meter holt der Wärter seinen Spezialschlüssel hervor, um eine der vielen Türen aufzuschließen. Das scheppert dann immer ganz unheimlich, und ich stelle mir vor, ich wäre bereits erwachsen und hier eingesperrt. Doch das wird nie passieren, weil ich ja nie etwas Verbotenes tue. Wenn ich als Erwachsener hierherkommen sollte, dann höchstens um meine Geschwister oder meine Eltern zu besuchen.

Nach den ersten zehn Türen kommen wir in einen riesigen Raum, in dessen Mitte eine Treppe in die erste und zweite Etage führt. Die Stufen sind aber nicht aus Stein oder Holz, sondern aus einem Metallgitter. So kann man auch von unten genau sehen, was oben passiert. Wenn man über das Gitter geht, klappert das laut, vor allem bei den hohen Absätzen, die Mama trägt. Im Erdgeschoss und auch in den Etagen eins und zwei befinden sich die Zellen, in denen die Gefangenen sitzen. Die Türen haben alle taschenbuchgroße Guckfenster. Ein paar der Häftlinge starren uns neugierig an. Ich überlege jedes Mal, warum die wohl hier eingesperrt sind. Ob die auch nur einen Autotransporter voller Porsche geklaut haben, so wie Opa, oder ob die vielleicht sogar jemanden ermordet haben? Mir kriecht dann immer eine richtige Gänsehaut den Rücken hoch. Keine fiese, sondern eher so eine angenehm prickelnde wie beim Horrorfilmegucken. Kann ja nichts passieren, weil die Zellentüren alle abgeschlossen sind. Hoffe ich.

Einige von den Gefangenen grüßen uns freundlich, weil sie Papa oder Renzo von irgendwoher kennen. Enrico winkt dann immer fröhlich zurück, weil er glaubt, dass sie ihn meinen und sich sein Ruf als Mafia-Pate der örtlichen Astrid-Lindgren-Grundschule schon bis hinter die Gefängnismauern herumgesprochen hat. Meinem kleinen Bruder könnte man auch mit einem Besuch in der Umkleide des FC Bayern kurz vor dem Champions-League-Endspiel keine größere Freude machen. Hier im Gefängnis sind all seine Idole versammelt. Für Enrico besteht der einzige Unterschied zwischen den Häftlingen und Fußballstars darin, dass es von den Männern in den Zellen keine Panini-Bildchen gibt. Leider, denn die würde er sich sofort kaufen. Na ja, kaufen wahrscheinlich eher nicht.

Wir müssen dann noch durch zehn weitere Türen, die der Wärter mit Mama, Papa, Oma und Renzo schwatzend öffnet, ehe wir endlich den Besucherraum erreichen. Angelina hat es geschafft, auf dem ganzen Weg ihre Augen nicht ein einziges Mal vom Display ihres Telefons abzuwenden. Das funktioniert aber nur, weil sie den Weg so oft gelaufen ist, dass sie ihn auch mit verbundenen Augen gehen könnte. Das könnten wir alle, schätze ich mal.

Hinter der letzten Tür sitzt Opa in einem fensterlosen Raum an einem langen Tisch und wartet schon auf uns. Nicht irgendwie ungeduldig, sondern eher wie ein Kaiser, der sich die Gnade gibt, die Gesandten eines fernen Königreichs zu empfangen, die den langen, gefährlichen Weg nur auf sich genommen haben, um ihm zu huldigen. Irgendwie majestätisch eben. Außer dem Tisch gibt es in dem Raum noch acht Stühle, einen Getränkeautomaten und eine Kinderspielecke, für die sogar Enrico schon zu groß ist.

Was nach unserem Betreten des Besucherzimmers passiert, folgt einem strengen Ritual, dass sich jede Woche ohne die geringste Abweichung wiederholt. Zuerst geht Oma zu Opa und küsst ihn rechts und links auf die Wangen. Dann versichern sich die beiden gegenseitig, wie großartig sie aussehen und wie sehr sie sich vermisst haben. Obwohl das gelogen ist, zumindest was das Aussehen angeht. Als Nächstes ist Papa dran, danach begrüßen Mama, Renzo und Angelina Opa ebenfalls mit einem Küsschen rechts und links. Dann wäre ich an der Reihe, weil es bei der Begrüßung ja irgendwie dem Alter nach geht. Bevor ich mich zu Opa über den Tisch beugen kann, drängelt sich Enrico vor, obwohl er zwei Jahre und sechseinhalb Monate jünger ist als ich. Das macht er jede Woche! Aber Opa stört das nicht, weil Enrico sein Lieblingsenkel ist. Deswegen dauert die Begrüßung zwischen den beiden auch länger als bei den anderen. Opa will von Enrico ganz genau wissen, wie es in der Schule läuft, und mein kleiner Bruder erzählt ihm ausführlich jede einzelne seiner kleinen fiesen Gaunereien. Opa platzt dabei fast vor Stolz und murmelt die ganze Zeit: »Braver Junge! Guter Junge!« Ich finde das irgendwie unpassend, aber da bin ich der Einzige. Der Rest meiner Familie ist von der innigen Szene zwischen den beiden ganz ergriffen und Oma muss sich vor Rührung sogar eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Als ich endlich drankomme, schnauft Opa nur verächtlich, und so wie er mir seine Wange für den Begrüßungskuss hinhält, scheint ihn das wirklich Überwindung zu kosten. Ich sagte ja schon, dass ich das schwarze … oder besser … weiße Schaf der Familie bin. Für Opa bin ich eine einzige Enttäuschung, aber daran habe ich mich schon gewöhnt. Das macht mir nichts aus. Überhaupt nichts. Echt nicht.

»Und wie laufen die Geschäfte?«, fragt Opa, als wir alle Platz genommen haben. Er sitzt auf der einen Seite des Tisches, wir auf der anderen, während der Wärter gelangweilt neben der Tür lehnt und sich in der Nase popelt.