Konsequenzen

Mittwoch, der 13. Mai 2020. An diesem Tag sollte mein Leben an die Wand fahren. Ein Vollcrash, und zwar der übelsten Art, den ich mir allerdings selbst eingebrockt hatte. Nichts würde danach sein wie vorher, aber das wusste ich noch nicht, ahnte es nicht einmal, als ich an dem Morgen zwischen Aufstehen und Hausverlassen die gewohnte Routine ablaufen ließ, mit den Gedanken voraus, konzentriert und zügig, um keine Zeit zu verplempern – wie es nach all den Jahren des Soldatseins in mir drinsteckte.

Ich wohnte in Schwarzenberg, Landkreis Calw, Baden-Württemberg, in einer Wohnung zur Miete, war also Heimschläfer, wie es bei der Bundeswehr heißt. Der Ort gehört zur Gemeinde Schömberg, die sich auf einem Höhenzug südlich von Pforzheim erstreckt, etwa 650 Meter über dem Meeresspiegel. Nur um es grob zu verorten – es gibt ungefähr ein Dutzend Schwarzenbergs in Deutschland.

Die Wohnung teilte ich mit Anna. Sie war damals meine Freundin, mittlerweile sind wir verheiratet. Anna diente wie ich beim Kommando Spezialkräfte, dem KSK. Dort hatten wir uns auch kennengelernt. Sie gehörte dem Spezialhundezug an, ich der 2. Kommandokompanie. Jener Kompanie, die seit geraumer Zeit öffentlich am Pranger stand, unter Beschuss von Journalisten, Bundeswehrgegnern aller Lager und nicht zuletzt von Politikern – bis hin zur obersten Chefin aller Soldaten, der Verteidigungsministerin. Das war zu der Zeit Annegret Kramp-Karrenbauer, bei uns hieß sie nur AKK. Wie es im Politikgeschäft gern gemacht wird, hatte sie mit dem markigen Spruch vom »eisernen Besen« medienwirksam verkündet, bei unserer Truppe durchkehren zu wollen.

Zurück ging das Ganze auf eine Geschichte, die in den Medien als »Schweinekopfparty« eine gewisse Berühmtheit erlangte, auf die niemand stolz sein konnte – nicht so, wie es in fast allen Medien dargestellt wurde. Wobei wir, die dabei waren, den Abend durchaus als gelungen empfanden. Gemeint war die Abschiedsfeier für unseren damaligen Kompaniechef im Frühjahr 2017, die im Nachgang zum größten Skandal in der Geschichte des KSK deklariert wurde – von Presse und Politik gleichermaßen, da waren sie sich ausnahmsweise mal einig.

Auch der zuständige Wehrdisziplinaranwalt (WDA), zu dem komme ich gleich, und die Kollegen vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) nahmen sich der Sache an und quetschten alle aus, die an dem Abend dabei waren, jeden einzeln. Insgesamt an die 70 Mann. Und eine Frau, um korrekt zu sein, unseren Versorgungsdienstfeldwebel, damals die einzige Soldatin der Kompanie.

Mich hatten sie zwei oder drei Mal vernommen. Der letzte Termin lag eine ganze Weile zurück. Nun war wieder einer dieser roten Zettel in mein Postfach im Geschäftszimmer geflattert, das früher die Schreibstube war, wo der gesamte Schriftverkehr abgewickelt wurde. Schön altmodisch: Knallroter Zettel, schwarze Schrift – da wusste man sofort, die »Zweier« wollen wieder was von einem. Viel stand auf den Zetteln meistens nicht drauf, hauptsächlich wann und wo man erwartet wurde.

Die Zweier, so nannten wir die vom Führungsgrundgebiet 2. Militärisches Nachrichtenwesen. Eine der Stabsabteilungen. Beim KSK gibt es – wie generell bei der Bundeswehr – sechs solcher Führungsgrundgebiete (FGG), von der Personalverwaltung über Ausbildung, Planung, Materialversorgung und Logistik bis zum Fernmeldewesen, also sämtliche Bereiche, die notwendig sind, um das Funktionieren der Truppe zu organisieren.

Einer der Aufgabenbereiche, um die sich die Zweier zu kümmern hatten, umfasste alles, was mit innerer Sicherheit zu tun hatte: Schutz vor Spionage, Zersetzung der Truppe, Sabotage, Extremismus und Terrorismus. Dabei arbeiteten sie eng mit dem MAD zusammen. Ein solcher roter Zettel konnte also auch bedeuten, dass man am Ende jemandem von denen gegenübersaß. Oder dem Wehrdisziplinaranwalt. Den kann man mit einem Staatsanwalt vergleichen, nur dass er nicht gegen Zivilisten ermittelt, sondern gegen Soldaten, die verdächtigt werden, ein schwerwiegendes Dienstvergehen begangen zu haben. Er nimmt Verstöße gegen das Soldatengesetz oder die Wehrdisziplinarordnung ins Visier. Ist an den Vorwürfen etwas dran, landet derjenige vor einem Truppendienstgericht, wo der Wehrdisziplinaranwalt praktisch als Ankläger auftritt. Außer es handelt sich um Straftaten, dafür sind dann ordentliche Gerichte zuständig, die zivilen – Amtsgerichte, Landgerichte … bis zum Bundesgerichtshof.

Normalerweise hätte Anna die ganze Woche freigehabt. Sie war am Wochenende zu ihren Eltern gefahren und wäre noch ein paar Tage geblieben, hätte man sie nicht kurzfristig in die Kaserne befohlen. Es hieß, sie müsse irgendwelche Formulare zur Materialrückgabe unterschreiben. Die Sache sei dringend.

Uns kam diese Anweisung etwas seltsam vor. Weder stand für ihren Zug ein Auslandseinsatz bevor noch hätte sie zu einer Übung weggemusst oder zu einem Lehrgang. Warum, fragten wir uns, war es dann so wichtig, dass sie den Kram unbedingt an diesem Tag unterschrieb und nicht in der nächsten Woche, nach ihrer freien Zeit? Andererseits waren wir beide lange genug bei der Truppe, um zu wissen, dass man nicht immer alles verstehen musste, was angeordnet wurde. Damit will ich sagen, dass wir uns nicht ewig die Köpfe zermarterten. Schon gar nicht kam mir in den Sinn, dass es etwas mit meinem Termin auf dem roten Zettel zu tun haben könnte.

Da Anna erst später auf ihrer Dienststelle zu erscheinen hatte, machte ich mich allein auf den Weg. Wie üblich verließ ich um Viertel nach sechs die Wohnung, stieg in meinen schwarzen Golf, der vor dem Haus parkte, und düste los. Blauer Himmel, die Sonne schien, aber es war kühl – das Thermometer zeigte fünf Grad an. Obwohl die Eisheiligen vorüber waren, ließ der Frühling weiter auf sich warten. Bis Mittag, verkündete der Wetterbericht im Radio, würden Wolken aufziehen, die Regenschauer brächten. Eine geradezu sinnbildliche Prophezeiung, wenn ich heute daran denke.

Die Strecke hätte ich mit geschlossenen Augen fahren können: zuerst ein Stück nach Süden, bis der Ort hinter mir verschwand, dann nach links, Richtung Osten, auf die Landstraße, die den Wald durchschnitt – anfangs gerade, dann wurde es kurviger – und nach Bad Liebenzell führte. Dort ein kurzer Stopp an einer Bäckerei, die direkt an der Straße lag. Auch das ein morgendliches Ritual. Eine Semmel mit Käse, eine mit Wurst – to go, für später. Manchmal nahm ich einen Becher Kaffee dazu, an dem Morgen nicht.

Wahrscheinlich würde ich mich gar nicht so genau daran erinnern, wäre es beim Rausgehen nicht zu einer merkwürdigen Begegnung gekommen. Ich sah, wie eine Frau, die neben mir bedient worden war, ebenfalls der Tür zustrebte. Also ging ich einen Schritt voraus, um ihr die Tür aufzuhalten. Keine große Sache, für mich eher eine Selbstverständlichkeit, wie ein natürlicher Reflex. Doch die Gute, die Mund und Nase hinter einer FFP2-Maske verbarg und deren Hände in Handschuhen steckten, schien das anders zu sehen. Ich trug ebenfalls eine Maske. Wer sich erinnert: Zu der Zeit war die erste Coronawelle gerade überstanden. In den meisten Geschäften galten jedoch weiterhin die üblichen Abstandsregeln und Schutzmaßnahmen. Jedenfalls, als der Frau klarwurde, dass meine nett gemeinte Geste ihr galt, blieb sie augenblicklich wie vom Donner gerührt stehen und fauchte mich an: »Aus dem Weg, los, verschwinden Sie!!! Stecken Sie mich bloß nicht an!«

Auch das hätte man als ungutes Vorzeichen auslegen können – wenn ein Tag schon so begann … Doch in dem Moment war ich höchstens verdutzt. Ich hätte mit einem »Danke!« gerechnet oder wenigstens mit einem wortlosen, aber freundlichen Nicken.

Ansonsten ging mir nur durch den Kopf, wie viel Angst und Schrecken dieses verfluchte Virus unter den Menschen verbreitete.

Apropos Virus: Vor Covid-19 knickte selbst eine Truppe wie das KSK ein. Das Virus machte alle gleich. Wie in vielen Betrieben, wo dies möglich war, hatten sie auch bei uns den Großteil der Kameraden, die nicht zwingend gebraucht wurden, vorsorglich nach Hause geschickt. Damit sich niemand unnötig infizierte.

Neben dem Kompaniechef, dem Kompanietruppführer, unserem Versorgungsdienstfeldwebel und – temporär – dem Spieß, der »Mutter der Kompanie«, gehörte ich zu den wenigen, die ihren Dienst in der Kaserne regulär fortsetzten. Soweit man es unter den Umständen als regulär bezeichnen konnte. Spätestens im Speisesaal wurde man jedes Mal daran erinnert, was für eine verrückte Zeit wir durchmachten. Vor der Pandemie waren die Tische zu langen Tafeln aneinandergereiht, man saß dicht an dicht, es ging ziemlich wuselig her, entsprechend hoch war der Geräuschpegel. Kam man jetzt in den Saal, herrschte Totenstille. Die Tische standen einzeln, weit auseinandergerückt, und an jedem gab es nur einen Stuhl.

Ich hatte ein eigenes Büro, im Erdgeschoss unseres Kompaniegebäudes, wo sich auch die der anderen befanden, war Teil des PLEX-Teams, das mit mir aus vier Mann bestand. PLEX stand für Planning and Exercise. Ganz korrekt nannte sich der Posten: Führer der Planungs- und Führungszelle der Kommandokompanie. Das heißt, ich plante und organisierte Ausbildungs- und Übungsmaßnahmen, führte einige auch selbst durch. Taktik, Raumkampf, klassische Infanterie, quasi alles, was den eigentlichen Kampf eines Soldaten betraf. Der Kompaniechef gab die Rahmenparameter vor, welche Inhalte, wie sie abgehandelt werden sollten und so weiter. Dementsprechend entwarf ich am Rechner Pläne, telefonierte herum, suchte nach geeigneten Übungsplätzen und schrieb Anforderungen, um all die Dinge zu regeln, die für die Umsetzung der Vorhaben erforderlich waren.

Wobei man sich das nicht so vorstellen darf, dass ich in der einen Woche etwas plante, was dann in der darauffolgenden stattfand. Oder im darauffolgenden Monat. So läuft das bei der Bundeswehr generell nicht, beim KSK ebenso wenig. Das meiste wurde ein Jahr im Voraus geplant. Jede Kompanie – zu meiner Zeit gab es vier Kommandokompanien – machte das für sich, reichte die Vorhaben anschließend beim Stab ein, wo die »Dreier«, also die vom Führungsgrundgebiet 3, die unter anderem für das Thema Planung zuständig waren, einen Gesamtplan erstellten. Der nannte sich Jahresvorhabenübersicht – JVÜ – und war quartalsweise aufgegliedert.

Durch die Pandemie geriet vieles durcheinander, und noch mehr fiel aus. Trotzdem sollte weiter geplant werden, praktisch ins Blaue hinein. Irgendwann würde Corona vorüber sein. Dann mussten die Ausbildungs- und Übungsvorhaben stehen, um sie ohne weitere Verzögerung angehen zu können. Deswegen fuhr ich jeden Tag in die Kaserne und erledigte meinen Job.

Es dauerte etwa 25 Minuten, inklusive des Zwischenstopps, bis ich in Calw ankam. Die Graf-Zeppelin-Kaserne, seit ihrer Gründung 1996 Standort des KSK, liegt etwas außerhalb auf einem Hügel, während sich der Ort im Tal an der Nagold entlangschlängelt – die Altstadt mit ihren Fachwerkbauten und dem Geburtshaus von Hermann Hesse auf der westlichen Seite des Flusses. Das Kasernengelände ist eingezäunt und der Zaun alle paar Meter mit Warnschildern versehen: »Militärischer Sicherheitsbereich … Betreten verboten! Vorsicht Schusswaffengebrauch!« So auch der sich ostwärts anschließende Standortübungsplatz. Er liegt noch ein Stück höher auf dem Muckberg, wo sich Wiesenflächen, Hochwald mit dichtem Unterholz und versprenkelte Kusselgruppen (so werden bei der militärischen Geländetaufe Kombinationen aus niedrigen Bäumen, Büschen und Sträuchern bezeichnet) abwechseln. Außerdem befinden sich auf dem hügeligen Areal ein kleiner Sportflugplatz, den wir unter anderem für Teile der Freifallsprungausbildung nutzten, ein Handgranaten-Wurfstand, ein Sprengplatz und ein kleines Übungsdorf.

Am Kaserneneingang zog ich meine Zutrittsberechtigungskarte durch den Leser, woraufhin sich die Schranke öffnete. Der Wachmann grüßte freundlich, ich grüßte zurück. Alles war wie immer.

Die Chipkarte, sie hatte die Größe einer Kreditkarte, war mit einem Passfoto und einem blauen Dreieck versehen. Dass ich zum Kommando Spezialkräfte gehörte, konnte man anhand der Karte nicht erkennen. Dasselbe beim Truppenausweis. Darauf stand, neben der Personenkennzahl, lediglich »BMVg« – für Bundesministerium der Verteidigung, aber keine Angabe zur Truppenzugehörigkeit.

Die Kaserne wurde von einer privaten Sicherheitsfirma bewacht. Mittlerweile ist das überall gängige Praxis bei der Bundeswehr. In Calw war es schon so, als ich das erste Mal dorthin kam, 2001, zum Eignungsfeststellungsverfahren, wie das damals hieß. Angeblich eine Kostenfrage, also das mit dem zivilen Wachdienst. Bestimmt auch eine Frage des Personals. Das KSK hat seit jeher Schwierigkeiten, genügend Bewerber zu finden, die den charakterlichen Anforderungen gerecht werden und die entsprechende körperliche Leistungsfähigkeit mitbringen. Laut einem internen Dienstschreiben des Bundesverteidigungsministeriums waren im Mai 2022 lediglich 83 Prozent der militärischen Dienstposten in Calw besetzt. Bei den dienstpostengerecht ausgebildeten Kommandofeldwebeln lag die Quote mit 67 Prozent sogar noch deutlich darunter. Die Anforderungen, physisch wie psychisch, sind allerdings auch nirgends so hoch wie beim KSK, mit Ausnahme der Kampfschwimmer vielleicht.

Zusätzlich zum zivilen Wachschutz wurde eine militärische Wache eingesetzt, die ebenfalls den Eingangsbereich im Blick hatte. Der äußere Kasernenzaun war mit Bewegungssensoren ausgestattet, wie man sich denken kann bei einem solch sensiblen Objekt. Sobald auch nur ein Tier gegen den Zaun sprang, wurde Alarm ausgelöst und sofort griffen die verschiedenen Sicherungsmaßnahmen. Details verrate ich nicht. Nur so viel: Obwohl ich lange dort diente, fast 20 Jahre, und die Gegebenheiten bestens gekannt haben dürfte, wäre ich niemals der Idee verfallen, unbefugt auf das Gelände zu gelangen. Unbeobachtet war man dort nie und nirgends. Dafür sorgten neben dem Wachpersonal etliche Überwachungskameras, die 24/7, also rund um die Uhr, in jedem Winkel sämtliche Bewegungen registrierten. Die Monitore dazu flimmerten im Wachgebäude am Eingang.

Ich fuhr direkt bis zum Kompaniegebäude, wie sonst auch. Ein beigefarbener Block, Erdgeschoss und zwei Stockwerke, rotes Dach mit versetzter Schräge. Davor Parkplätze für die, die zur Kompanieführung gehörten. Und wieder liefen Automatismen ab: Raus aus dem Golf und rein ins Gebäude, die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo sich meine Stube befand. Dort zog ich meine Uniform an und verließ das Zimmer gleich darauf, stieg die Stufen wieder hinunter, um pünktlich zur Morgenrunde im Besprechungsraum zu erscheinen, der lag im Erdgeschoss – militärisch pünktlich, also fünf Minuten früher. Bis sieben Uhr fanden sich auch die anderen ein, Kompaniechef, Kompanietruppführer und so weiter, die Tagesbesprechung begann.

Falls sich einer der Anwesenden ungewöhnlich verhielt, so muss mir das entgangen sein. Ich glaube aber, keiner benahm sich anders als sonst. Ich erinnere mich auch nicht, dass ein Thema auf den Tisch kam, das irgendwie aus der Reihe fiel, womöglich einen versteckten Hinweis darauf enthielt, was mir bevorstand. Niemand im Raum schien eine Ahnung zu haben, was sich zur selben Zeit nur wenige Schritte entfernt zusammenbraute. Obwohl, zusammengebraut hatte es sich schon vor diesem Tag.

Um 8:30 Uhr stand mein nächster Termin an. Zumindest hatte ich es so gespeichert – der rote Zettel, die Zweier. »Zeugenvernehmung« hatten sie draufgeschrieben. Im Stabsgebäude, genauer gesagt im Kleinen Stab. Dort saß nicht der KSK-Kommandeur, sondern der Kommandeur der Einsatzkräfte, in der Hierarchie eine Stufe darunter.

Punkt 8 Uhr klingelte mein Telefon. Ein Feldwebel aus dem Stab. Er meinte, ich sollte eigentlich dort sein, der Termin wäre genau jetzt.

So schnell war ich vermutlich noch nie zum Stab runtergeflitzt, das Gebäude lag etwas tiefer. Dass mir das passierte! Pünktlichkeit ist für mich kein Würfelspiel, im Dienst sowieso nicht, aber auch sonst. Vielleicht hatten sich die Zweier auf dem Zettel mit der Uhrzeit vertan, aber jetzt blieb keine Zeit, um das zu ergründen.

Fürs Stabsgebäude besaß ich eine Zutrittsberechtigung, die Chipkarte, die ich am Kaserneneingang benutzt hatte, öffnete mir auch dort die Tür. Aber nicht die ein Stockwerk darüber, dem Zugang zum Kleinen Stab, dort musste ich klingeln, damit mich jemand reinließ. Es ging ruckzuck – und schon fand ich mich in einem Raum wieder, den ich bereits kannte.

Dort hatte ich schon einmal gesessen – vor demselben Mann, der mich jetzt mit einem »Guten Morgen« empfing, weder freundlich noch unfreundlich, neutral könnte man sagen. Ich erwiderte den Gruß ebenso dienstlich-förmlich.

Es war der für uns zuständige Wehrdisziplinaranwalt. In Zivil. Er trug einen Anzug – grau, wenn ich mich recht entsinne. Unsere dritte Begegnung. Die erste fand in Stadtallendorf statt, 2017, in jenem Sommer, als es mit den Ermittlungen wegen der Schweinekopfparty anfing. Damals musste ich in der Herrenwald-Kaserne erscheinen, seinem Dienstsitz. Dort befindet sich auch der Führungsstab der Division Schnelle Kräfte, eines Großverbands aus leichten und schnellen Kräften des Heeres mit insgesamt rund 20 000 Soldaten, die unter dem Motto »einsatzbereit – jederzeit – weltweit« als hochbewegliche Infanterie im Verbund mit Hubschraubern und Flugzeugen der Luftwaffe agieren können. Im Grunde ist diese Division so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe. Das KSK ist ein selbstständiger Truppenteil davon. Außerdem gehören eine Gebirgsjägerbrigade, eine Luftlandebrigade, einschließlich zweier Fallschirmjägerregimente, das Kommando Hubschrauber und eine luftbewegliche Brigade der niederländischen Streitkräfte dazu.

Die zweite Begegnung mit dem WDA – beim Militär wird so ziemlich alles abgekürzt – fand in Calw statt, in genau dem Raum, in dem wir jetzt saßen. Auch da war es um besagte Abschiedsparty gegangen. Diesmal ging es nicht darum.

Stattdessen stellte er mir Fragen zu einem Kameraden, vom Dienstgrad Oberstabsfeldwebel wie ich, der lange in unserer Kompanie gedient und zu den Besten gehört hatte, nun aber nicht mehr dabei war – unfreiwillig. Der Kommandeur des KSK hatte ihm Dienstausübungs- und Uniformtrageverbot erteilt, nachdem der MAD ihn als sogenannte Verdachtsperson ausgemacht und gemeldet hatte. Der Fall war erstaunlich schnell in die Medien gelangt – und das, obwohl Geheimhaltung bei uns nicht groß genug geschrieben werden konnte. Die Anschuldigungen gegen ihn: Er sei Rechtsextremist, sympathisiere mit der AfD und stünde den Reichsbürgern nahe, sei vermutlich selbst einer. Im Kern resultierten die Vorwürfe daraus, dass er verschiedene Symbole aus der nordisch-germanischen Mythologie auf Facebook und Telegram gepostet und als Profilbild bei WhatsApp verwendet hatte. Einige solcher Symbole trug er auch als Tattoo auf der Haut. Für den MAD der Beweis für eine rechtsextremistische Haltung, die in seinem Inneren tief verwurzelt sei. Obwohl der Kamerad genau das bestritt, uns gegenüber auch niemals so aufgetreten war, hatte der Kommandeur in dieselbe Kerbe geschlagen. Für ihn war es ein Zeichen fehlender Verfassungstreue und ein Verrat an den Werten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Ich konnte zu der Befragung nicht viel beisteuern. Zum einen, weil ich nicht auf Facebook oder Telegram unterwegs war. Zum anderen hatte ich mir seine Tattoos nie so genau angesehen, er trug sie nicht offen zur Schau. Das Tattoo, um das es sich hauptsächlich drehte, sollte vom linken Oberarm bis über die Schulter reichen und unter anderem eine sogenannte Odal-Rune zeigen. Die ist zugegebenermaßen geschichtlich nicht unbelastet, wurde aber auch auf unseren Dienstgradabzeichen verwendet, vom Hauptfeldwebel bis rauf zum Oberstabsfeldwebel. Nur dass sie in der Verwendung nicht als Rune bezeichnet wurde, sondern als »Kopfwinkel mit der Spitze nach oben«. Die frappierende Ähnlichkeit dürfte aber niemand bestreiten wollen.

Es gab noch einen dritten Grund, warum ich eher wortkarg reagierte. Der Kamerad war früher mein Truppführer gewesen. Wir haben uns gut verstanden. Ich erlebte ihn immer als vorbildlichen Soldaten, akribisch und dienstbeflissen. Zig Mal war er bei Auslandsoperationen im Einsatz, er hätte sein Leben für unser Land gegeben. Taten zählen mehr als Worte. Oder Tattoos. Außerdem wusste ich, dass er großer Norwegen-Fan war und ihn die nordische Mythologie seit Jahren faszinierte.

Aber so weit in die Tiefe ging die Befragung gar nicht. Sie blieb ungewöhnlich oberflächlich, was nicht nur an mir lag. Üblicherweise dauerte ein solcher Termin mehrere Stunden. Und danach musste man das Protokoll lesen und abzeichnen, dass alles korrekt wiedergegeben wurde, was zusätzlich Zeit in Anspruch nahm. An dem Tag war ich bereits nach 30 Minuten – wenn es hoch kam – mit allem fertig, sodass ich mich fragte, was das überhaupt sollte.

Der Fall landete später vor dem Truppendienstgericht. Allerdings nicht, weil der Kamerad zu einer Strafe verdonnert werden sollte. Genau das Gegenteil: Er hatte über einen Anwalt Beschwerde gegen das Dienstausübungs- und Uniformtrageverbot eingelegt. Und bekam recht, auf der ganzen Linie. Für das Gericht war die Maßnahme des Kommandeurs rechtswidrig – und zwar von Anfang an. Die verwendeten Symbole würden keine Rückschlüsse auf eine rechtsextremistische Gesinnung zulassen. Zu der Erkenntnis waren vorher schon Experten des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr gekommen, aber das wurde anscheinend ignoriert. Im Laufe der Ermittlungen, so hieß es, hätten sich auch keine anderen Beweise ergeben, die den Anfangsverdacht untermauerten. Insbesondere nicht bei der Durchsuchung seiner persönlichen Sachen, seines Dienstzimmers samt Computer, seines Autos und seines Mobiltelefons. Genauso wenig durch die Befragung von Kameraden, ziviler Mitarbeiter und des Tätowierers, der ihm die Symbole gestochen hatte. Niemand von denen habe jemals gehört, dass er die Nazizeit verherrlichte oder faschistoide Äußerungen hinausposaunte – was meine Erfahrungen mit ihm bestätigte. Abgesehen davon war er, wie alle beim KSK, vom MAD regelmäßig einer Sicherheitsprüfung unterzogen worden. Dabei wurde in einem mehrstufigen Verfahren überprüft, wie vertrauenswürdig der Kandidat war und ob bei Behörden wie dem Verfassungsschutz, dem Bundeskriminalamt (BKA), der Polizei oder der Staatsanwaltschaft etwas gegen ihn vorlag. Je nach Stufe der Sicherheitsüberprüfung wurden zusätzlich Personen aus dem Umfeld befragt und diese gegebenenfalls auch überprüft. Bei ihm hatten sie wohl sogar die Ü3 durchgeführt, die höchste und somit umfassendste und gründlichste Stufe zu der Zeit. Sie wurde bei Personen angewandt, die Zugang zu geheimen und streng geheimen Verschlusssachen hatten. Bei der Ü3 musste man drei Leute angeben, die einen wirklich gut kannten. Und die wurden dann ausgiebig befragt: zum sozialen Umfeld desjenigen, um den es ging, zu seiner politischen Einstellung, ob er irgendwelchen Vereinen angehörte, wofür er sich in seiner Freizeit engagierte und so weiter. Sie hakten jeden denkbaren Bereich ab, der Rückschlüsse darauf zuließ, wie jemand tickte und wofür sein Herz schlug. Als ich mich beim KSK bewarb, wurde das noch nicht so intensiv zelebriert. Bei mir ging es damit erst los, nachdem ich dorthin versetzt worden war. Heute machen sie das, soviel ich weiß, schon vorher, zumindest parallel zu den Eignungstests.

Bei dem Kommandeur, der besagten Kameraden vom Dienst suspendierte, noch ehe die Beschuldigungen seriös überprüft worden waren, handelte es sich übrigens um denselben, der in seinem Brandbrief an die Truppe versprach, bei jedem Verdachtsfall würden die rechtsstaatlichen Grundsätze gewahrt und Vorverurteilungen nicht zugelassen (siehe Seite 9 ). Dass man so einem Vorgesetzten nicht unbedingt das größte Vertrauen entgegenbrachte, kann man vielleicht verstehen.

Die Medien berichteten über den Ausgang der Geschichte so gut wie gar nicht. Ich erinnere mich an einen einzigen Artikel. Ein Muster, das nicht neu war – und ist, auch im Allgemeinen, wenn es nicht um Angehörige des KSK oder der Bundeswehr geht: Verdacht oder Anklage werden groß aufgebauscht. Fallen die Vorwürfe in sich zusammen, vor Gericht oder bereits vorher, sodass es gar nicht erst zu einem Prozess kommt, ist das meist nicht mal mehr eine Meldung wert. Ein Einzelfall wäre kaum von Bedeutung, in der Masse jedoch entsteht auf diese Weise ein verzerrtes Bild. Damit will ich nicht bestreiten, dass es Verfehlungen, auch strafrechtlich relevante, in der Truppe gibt. In dieser Hinsicht sind KSK im Kleinen und Bundeswehr im Großen nach meiner Erfahrung nichts anderes als Abbilder der Gesellschaft. Mit dem Unterschied, dass die Fälle, die dort bekannt werden, stärker in den öffentlichen Fokus rücken – was nur verständlich ist, da sich gerade Soldaten mit ihrem Eid der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichten, gegen die sie dann verstoßen würden.

Aber weiter mit dem 13. Mai: Ich höre noch, wie ich mich vom Wehrdisziplinaranwalt verabschiedete, ihm einen schönen Tag wünschte. Dann verließ ich den Raum, wollte zurück in die Kompanie. Doch kaum dass ich durch die Tür auf den Flur kam, traten mir zwei Herren entgegen, die dort gewartet haben mussten. Unbekannte Gesichter, ernste Gesichter. Auch diese beiden trugen Zivil. Ohne ein Wort zu viel zu sagen, stellten sie sich als MAD-Mitarbeiter vor und meinten, sie hätten ein paar Fragen an mich.

»Haben Sie Ihr Handy dabei?«, war dann ihre erste Frage, an Ort und Stelle, noch bevor mein Gehirn anfangen konnte, sich einen Reim darauf zu machen, was das Ganze zu bedeuten haben könnte. Ein zweiter roter Zettel hatte definitiv nicht in meinem Postfach gelegen.

»Das liegt auf meiner Stube«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Vermutlich wirkte ich etwas verstört. Warum war ihnen mein Telefon so wichtig?

»Dann müssen wir es holen – jetzt!«

So wie der Satz ausgesprochen wurde, blieb kein Zweifel daran, dass mit dem Wort »jetzt« sofort gemeint war.

Ich wunderte mich, dass die beiden unangemeldet aufgetaucht waren, und noch mehr, dass ihr größtes Interesse meinem Handy zu gelten schien, jedenfalls im Moment. Trotzdem war ich relativ entspannt. Sie und ich, wir standen auf derselben Seite, auch wenn die vom MAD ehrlicherweise bei uns nie gern gesehen waren. Als Soldat hatte ich geschworen, meinem Vaterland treu zu dienen. Das war auch ihr Auftrag, so grundsätzlich. Ob ich in dem Augenblick exakt das dachte, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, dass ich mich nicht unwohl fühlte, nicht im Sinne von: ertappt, jetzt wird’s böse, alles fliegt auf oder so. Anscheinend gab es Informationsbedarf, wozu auch immer, das würden sie mir sicher gleich verraten.

Dieses Gefühl änderte sich, als wir den Kleinen Stab verließen und den Weg zum Kompaniegebäude einschlugen. Bis dorthin waren es etwa 80 Meter, vielleicht hundert Schritte. Man kann nicht sagen, dass sich unterwegs zwischen uns eine Plauderei entwickelte. Wir liefen und schwiegen.

Dann fragte einer der beiden, ob ich an dem Tag noch etwas vorhätte. Es klang fast beiläufig. Anstatt zu antworten, rutschte mir die Frage heraus: »Wieso, wird’s länger dauern?«

Daraufhin wieder Schweigen.

Auch fünf oder zehn Schritte weiter antworteten sie nicht. Ich hatte die Frage nur so dahingeworfen. Das Schweigen der beiden verlieh ihr eine andere Bedeutung, sie schien plötzlich viel schwerer zu wiegen. Was passierte hier gerade?

Meine Stube betraten die beiden Männer nicht. Sie warteten vor der Tür. Ich holte das Handy, es lag auf dem Tisch, und gab es ihnen. Wieder blitzte der Gedanke auf, dass das mit dem Telefon irgendwie seltsam war. Wobei es wohl schon vorgekommen sein musste, dass sich der MAD WhatsApp-Nachrichten oder SMS zeigen ließ. Nicht bei mir, aber von anderen Kameraden hatte ich das gehört.

Wieder zurück im Stab, lotsten mich meine Begleiter in den großen Besprechungsraum, der mir einigermaßen vertraut war. Ich hatte mehrmals an Chefbesprechungen teilgenommen, die dort stattfanden, in Vertretung unseres Kompaniechefs. In der Mitte des Raums bildeten mehrere Tische eine größere Fläche. Rundherum standen Stühle. Zu dritt wirkten wir in diesem Ensemble etwas verloren. Wir setzten uns gegenüber, ich mit dem Rücken zum Fenster, sie hatten die Tür hinter sich, durch die wir hereingekommen waren.

Zunächst richteten sich ihre Fragen auf die Abschiedsfeier 2017. Also rührten sie tatsächlich noch darin herum. Da ich mich dazu bereits geäußert hatte, erfuhren sie nichts Neues. Es schien auch nur als Einleitung gedacht. Ziemlich schnell schwenkten sie über zu meiner Frau, die hatten sie offenbar auch vernommen. Nicht Anna war gemeint, sondern meine Ex-Frau, wir waren seit 2019 geschieden. Soldat ist nicht gerade der familienfreundlichste Beruf, schon gar nicht, wenn man bei den Spezialkräften ist, häufig zu Auslandseinsätzen und Lehrgängen muss. Wir waren schon einige Jahre zusammen gewesen und hatten uns für eine Wochenendbeziehung entschieden, nachdem ich beim KSK aufgenommen wurde. Kurz darauf, 2002, war unser Sohn zur Welt gekommen. Es schien uns die beste Lösung, dass sie mit dem Kleinen in der Nähe ihrer und meiner Eltern blieb, die sie mehr unterstützten, als ich es als frischgebackener Kommandosoldat hätte tun können. Zwischen uns lagen dann 550 Kilometer Autostrecke. Wahrscheinlich war es naiv zu glauben, das könnte funktionieren. Viele meiner Kameraden pendelten, aber bei den meisten ging die Beziehung in die Brüche. Eine Weile denkt man, dass man es besser hinkriegt. Und belügt sich damit nur selbst. An den Wochenenden kurz zu Hause aufkreuzen, schnell den Rasen mähen und sich gegenseitig ein paar Stunden heile Welt vorgaukeln, oft monatelang nicht einmal das – so lässt sich unmöglich ein vernünftiges Familienleben führen. Wahrscheinlich verdrängten wir es beide, doch irgendwann waren wir nur noch eine Scheinfamilie.

Zwei Dinge werde ich wohl bis zu meinem letzten Tag bereuen: dass ich all die Jahre so selten für den Jungen da war. Und dass ich ihn in eine Geschichte verwickelt habe, um die es später noch gehen wird. Wenn ich könnte, würde ich das Erste besser machen und das Zweite am liebsten ungeschehen. Nur leider funktioniert das Leben nicht so.

Der MAD hatte also meine Ex-Frau ausgehorcht. Aber das Familiäre diente wiederum nur als Überleitung zum eigentlichen Thema, auf das die beiden nun ohne weitere Umschweife zusteuerten: »Wir haben Hinweise«, sagte einer von ihnen, »dass Sie auf ihrem Wohngrundstück zu Hause in Sachsen Munition gelagert haben! … Und wir wissen auch, an welchen Stellen.«

Es war, als hätte jemand urplötzlich einen Schalter umgelegt. Eben hatte ich im Stillen noch gedacht: Was auch immer die Herren wollten, sicher würden sie bald wieder abziehen. Und ich würde den Rest der heutigen Dienstzeit meine Arbeit erledigen, anschließend nach Hause fahren, ein bisschen trainieren, vielleicht eine Runde durch den Wald joggen und mich ansonsten auf einen ruhigen Abend mit Anna freuen. Dieser Gedanke war mit einem Mal wie weggeblasen, als wäre er nie in meinem Kopf gewesen. Aber er wurde seltsamerweise nicht durch einen neuen ersetzt, dazu war ich nicht fähig. In meinen Ohren dröhnte es, als würde ich das Blut in den Gefäßen rauschen hören, nur viel lauter.

In der Zwischenzeit war auch Anna in der Kaserne eingetroffen. Sie ist ein genauso pünktlicher Mensch wie ich. Ihr Termin war für 8 Uhr angesetzt, und das nicht zufällig. Die angeblich so dringend erforderliche Unterschrift hatten sie nur als Vorwand benutzt. Anna wurde, was ich erst viel später erfuhr, in einem Raum festgehalten. Nicht mithilfe körperlicher Gewalt, auch nicht, indem sie die Tür verriegelten. Sie befahlen ihr, den Raum nicht zu verlassen. Vermutlich stand jemand davor, der eingeschritten wäre, hätte sie sich der Anweisung widersetzt. Wie mir hatten sie ihr das Handy abgenommen, sie durfte mit niemandem sprechen. Und sie erfuhr auch nicht, warum sie das Ganze über sich ergehen lassen musste, nicht einmal, dass sie durch mich in diese Situation geraten war. Hätte sie nur das Geringste von dem gewusst, was mir die zwei MADler einen Kasernenblock entfernt vorhielten, sie hätte eins und eins zusammenzählen können. Aber ich hatte ihr gegenüber nie etwas erwähnt, mit keinem Wort. Sie wusste rein gar nichts. Außer dass ich das Haus besaß in dem kleinen Dorf in Sachsen, meiner Heimat. Nach der Scheidung hatte ich überlegt, es vielleicht zu verkaufen. Aber ich hing zu sehr daran. Und ich mochte die Gegend. Ganz in der Nähe war ich aufgewachsen, meine Eltern lebten noch dort, auch Freunde von früher. Eines Tages, wenn meine Zeit in Calw vorüber sein würde, das war der Plan, wollte ich wieder dort leben, am liebsten mit Anna.

Doch nun saßen die beiden vom MAD vor mir und warteten auf eine Reaktion. Ich hätte die Wahrheit sagen sollen, hielt es aber für gescheiter, den Ahnungslosen zu geben, alles abzustreiten. Nicht dass ich vorher darüber nachgedacht hätte. Ich war völlig unvorbereitet, die Situation überrumpelte mich. Eine Lüge im Affekt, könnte man sagen. Der Vorwurf als Angriff, die Lüge als spontane Verteidigungsstrategie, eine bessere hatte ich so schnell nicht im Köcher.

Mir fiel auch keine andere ein, als sie mir ein Luftbild vom Grundstück vorlegten, auf dem der Gastank hinter dem Carport zu sehen war. Direkt neben dem Gastank hatte ich eine Munitionskiste aus Kunststoff vergraben – was ihnen offenbar jemand geflüstert hatte. Die Kiste enthielt zwei Kilo PETN-Sprengstoff, mehrere Sprengfolien, Sprengschnüre, Zünder und rund 2800 Gewehr- und Pistolenpatronen unterschiedlicher Kaliber und Projektilarten wie Leuchtspur, Weich- und Doppelkern. Außerdem eine Kalaschnikow AK-47 samt Kurvenmagazin für dreißig Patronen. Das russische Sturmgewehr war ein Uraltmodell, nicht mehr wirklich funktionstüchtig. Auf Juristendeutsch: Es hatte seine Kriegswaffeneigenschaft verloren. Damit fiel es nicht mehr unter das Kriegswaffenkontrollgesetz, was später, vor Gericht, eine wichtige Rolle spielen sollte, auch für das Urteil. Trotzdem hätte ich es nicht besitzen dürfen.

Die Kiste war aber nicht das Einzige, was ich auf dem Grundstück vergraben hatte – auch darüber wussten sie Bescheid. Sie konnten ziemlich exakt die Stellen benennen, wo der Rest lag: an der westlichen Giebelseite des Hauses. Dort waren es zwei Zehn-Liter-Kunststoffeimer und eine Plastiktüte, die ich etwa einen Meter tief im Erdreich versenkt hatte, im Wesentlichen gefüllt mit Hunderten von Patronen unterschiedlichster Sorten und einigen Irritationswurfkörpern, also Blendgranaten, auch Flashbangs genannt. Solche Granaten benutzten wir zum Beispiel, wenn wir die Befreiung von Geiseln in Gebäuden trainierten. Die Tiefe für die Gruben hatte ich nicht zufällig gewählt. In der Ausbildung, bei Überlebenslehrgängen, war uns beigebracht worden, wie solche Erdverstecke angelegt wurden und dass sie mindestens 75 Zentimeter tief sein sollten, damit sie nicht entdeckt würden. Woher das ganze Zeug stammte und warum ich es zu Hause vergraben hatte, werde ich gleich noch im Detail erklären.

Die Eimer verschwinden zu lassen, dabei hatte mir mein Sohn geholfen. Er wusste nicht, was drin war. Auch von der Munitionskiste hatte er keine Kenntnis. Trotzdem hätte ich ihn da nicht mit reinziehen dürfen. Er war damals 14, was es nicht besser machte. Das meinte ich mit dem, was ich gern ungeschehen machen würde. Es war unklug und verantwortungslos – ich dachte mir einfach nichts dabei. Das klingt wie eine Ausrede, nicht einmal besonders originell, aber es ist die Wahrheit.

Für Außenstehende vermutlich schwer verständlich. Dafür muss man sich vor Augen führen, dass ich im Dienst ständig mit Waffen und Munition hantierte, nicht selten auch mit Sprengmaterialien – ich war zum Breacher (übersetzt: Öffnungstechniker) ausgebildet worden, darauf gehe ich später noch genauer ein. Für den Moment soll genügen, dass ein »Breacher« lernt, mit verschiedensten Sprengmitteln umzugehen und sie beispielsweise bei der Erstürmung eines Gebäudes einzusetzen. All die Sachen in der Kiste und in den Eimern waren für mich keine besonderen Gegenstände, sondern ganz normale, alltägliche Arbeitsmittel, so vertraut wie einem Handwerker Hammer und Säge, vermutlich sogar vertrauter. Bei Auslandseinsätzen, etwa in Afghanistan, die fünf, sechs Monate dauern konnten, hatte man seine Waffen, die Munition und zum Teil auch Sprengmittel 24 Stunden am Tag bei sich. Sie gehörten dazu wie die Uniform, ohne verließen wir nicht das Zelt oder den Wohncontainer. Und wenn keine Operation anstand, führten wir Schießübungen durch, reinigten und pflegten die Waffen, hatten sie also selbst dann dauernd in den Händen. Während der Ruhephasen lagen sie neben dem Bett, damit sie sofort griffbereit waren, falls Alarm ausgelöst wurde. Hielt man sich zu einem Einsatz außerhalb des Feldlagers auf, blieb die geladene und schussbereite Waffe oft sogar im Schlaf am Mann. Selbst bei Übungen in Deutschland, die auf Truppenübungsplätzen stattfanden, war es in der Regel so, dass man seine Waffen rund um die Uhr bei sich behielt. Normalerweise sollten sie für die Zeit der Ruhephasen abgegeben und weggeschlossen werden. Darauf wurde aus Zeitgründen jedoch häufig verzichtet, insbesondere wenn Nachtschießen auf dem Programm stand, das einschließlich der Nachbereitung bis ein, zwei Uhr morgens dauern konnte. Was dann zwar nicht hundert Prozent vorschriftsgemäß war, dafür aber realistischer in Bezug auf die Bedingungen, wie man sie bei einem echten Einsatz vorfand.

Der Ton der MADler hatte sich verändert. Überhaupt war die Stimmung gekippt. Sie sahen in mir jetzt doch einen Feind, das spürte ich. Und nichts hätte ich vorbringen können, was daran etwas geändert hätte. Also beschloss ich, gar nichts mehr zu sagen.

»Müssen Sie auch nicht«, antwortete einer der beiden, »nebenan wartet das LKA Sachsen, die übernehmen jetzt.«

Wie aufs Stichwort öffnete sich eine Tür, die in einen kleinen Nebenraum führte. Drei Beamte in Zivil erschienen. Offenbar hatten sie die ganze Zeit mitgehört. Es folgte eine Art Staffelübergabe. Während sich die LKA-Beamten vorstellten, verließen die Herren vom MAD den Raum.

Schwer zu beschreiben, diese Situation – irgendwie surreal. Normalerweise arbeitete ich eng mit Polizeikräften zusammen. Wie oft hatten wir gemeinsam trainiert, mit MEKs oder SEKs oder auch mit Beamten vom Bundeskriminalamt. Auf Übungsplätzen oder Schießanlagen. Jetzt hockte ich als Beschuldigter vor ihnen. Ich war kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. In mir unendliche Leere. Es fühlte sich so falsch an, nicht irgendwelche Ausbildungs- oder Trainingsmaßnahmen mit ihnen zu besprechen, sozusagen auf Augenhöhe, von Kollege zu Kollege, wie es mir vertraut war. Stattdessen saßen sie da mit einem Vernehmungsprotokoll und erklärten mir meine Rechte.

Die Befragung verlief recht einseitig. Ich sagte so gut wie nichts. Nur als sie wissen wollten, ob die Verstecke durch irgendetwas vor Zugriff gesichert seien. Keine Ahnung, was sie sich vorstellten, vielleicht dass ich Sprengfallen installiert hatte, in meinem eigenen Garten, die ihren Leuten um die Ohren fliegen könnten. Oder was sie mir sonst zutrauten. Aber nichts dergleichen war der Fall. Deswegen hatte ich die Sachen ja dort vergraben und nicht irgendwo anders. Nur so konnte ich sicher sein, dass sie für niemanden eine Gefahr darstellten.

Zumindest war das ein Grund gewesen. Zuallererst ging es zu der Zeit, als ich die Entscheidung traf, darum, den ganzen Kram möglichst schnell und unauffällig verschwinden zu lassen. Ich hätte ihn auch im Wald verbuddeln oder im Wasser eines gefluteten Steinbruchs versenken können – nicht weit vom Haus entfernt gab es einen. Doch dann wäre immer ein gewisses Risiko geblieben, dass andere zu Schaden kämen. Außerdem wollte ich die Sachen nicht der Truppe entziehen, sondern nur für einen gewissen Zeitraum verstecken.

Wie ich erfuhr, war das LKA zur gleichen Zeit in dem Dorf dabei, meinen Garten mit einem Bagger umzugraben, um die Munitionsdepots freizulegen. Wie lange wir in dem Besprechungsraum saßen, kann ich nicht sagen. Irgendwann klingelte ein Handy. Ich glaube, es war das des leitenden Ermittlers. Er meldete sich mit seinem Namen, hörte kurz zu, schien dabei zu nicken. Dann beendete er das Telefonat, steckte das Handy ein, sah mich an … und sagte einen Satz, der meine Gedanken vollends durcheinanderwirbelte: »Sie sind vorläufig festgenommen!«

Sekunden später klickten Handschellen. Das erledigte einer der anderen Beamten. Ich spürte das kühle Metall auf der Haut. Den Rest nahm ich wie durch einen Dunstschleier wahr.

Dann war Stille. Eine Form der Stille, die einem ewig erscheint, obwohl sie in Wirklichkeit nur einen kurzen Moment andauert. Als wäre allen Beteiligten die Situation unangenehm. Aber das kann ich mir auch eingebildet haben.

Nach einer Weile sagte ich: »Ich möchte einen Anwalt.« Als hätte ich eine Filmszene nachgesprochen. So was sieht man in jedem Krimi.

»Haben Sie einen?«

Ich hatte mir noch nie etwas zuschulden kommen lassen, nie gegen das Gesetz verstoßen, abgesehen von einigen Geschwindigkeitsüberschreitungen. Also nein, ich hatte keinen Anwalt. Bisher hatte ich immer auf der richtigen Seite gestanden, auf der Seite der Guten, der Gesetzestreuen.

In Afghanistan nahmen wir Verbrecher fest – jetzt war ich selbst einer. Nur dass ich das noch lange nicht realisierte. Weder passte es in mein Weltbild, in dem Recht und Ordnung ein hohes Gut darstellen, noch fühlte ich mich so. Nicht dort im Besprechungsraum. Nicht, als wir hinübergingen ins Kompaniegebäude zu meiner Stube, eskortiert von anderen LKA-Beamten, die uns draußen empfingen, im Gegensatz zu den Vernehmern sichtbar bewaffnet. In der Stube musste ich mich umziehen und meine Wohnungs- und Autoschlüssel sowie den Schlüssel für den Waffenschrank herausrücken. Und auch unten auf dem Parkplatz nicht, wo sie mich warten ließen, während sie mein Auto inspizierten und im Navi die zuletzt gefahrenen Routen nachvollzogen. Dabei konnte jeder, der vorbeikam, sehen, dass ich Handschellen trug. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.

Schließlich kehrten wir in den Stab zurück. Stunden verstrichen, ohne dass etwas passierte. Vorher hatte ich noch telefonieren dürfen, um mir einen Anwalt zu organisieren. Nach einer Weile kam die Nachricht, es sei jemand gefunden worden, der meine Verteidigung übernimmt – eine Strafrechtsanwältin aus Leipzig.

Anscheinend war unklar, wo sie mich über Nacht unterbringen. Zunächst meinten sie, es ginge nach Stuttgart, in die JVA. Stuttgart-Stammheim. Da klingelte sofort etwas: Deutscher Herbst, die RAF. Staatsfeinde. Mit meiner Festnahme fiel ich in die gleiche Kategorie, doch ich weigerte mich auch jetzt, diesen Gedanken zuzulassen. Was sich allerdings nicht verdrängen ließ: wen das alles betraf, was sich hier gerade ereignete. Denn die LKA-Beamten wollten wissen, wer von meinen Angehörigen benachrichtigt werden müsse. Meine Mutter hatte nach einem Herzinfarkt einen Bypass gelegt bekommen. Sie konnte solche Nachrichten nicht gebrauchen. Und mein Vater und mein Sohn, was würden die denken? Und Anna.

Dann, es wurde schon dunkel, brachten sie mich in einem Mercedes-Transporter zu unserem Übungsplatz. Dort stand ein Hubschrauber bereit, inklusive »Begleitschutz« – eine Truppe vom SEK Baden-Württemberg, in voller Montur, bewaffnet mit G36-Sturmgewehren. Auch mit Angehörigen dieser Einheit hatten wir trainiert, nicht nur einmal. Jetzt waren wir Fremde.

Das Ziel hatte sich geändert. Der Hubschrauber hob ab, flog durch die Dunkelheit, Richtung Nordosten. Ich sah aus dem Fenster, suchte irgendwelche Punkte, Lichter oder Geländeübergänge, die an Hell-Dunkel-Nuancen auszumachen waren – um mich zu orientieren. Nicht, dass es jemandem genutzt hätte, der Pilot brauchte garantiert keine Unterstützung. Es geschah automatisch. Als Kommandosoldat hatte ich es immer so gemacht, darauf war ich konditioniert.

Irgendwann erreichten wir Dresden, die sächsische Landeshauptstadt. Die Altstadt war hell erleuchtet. Man konnte die Elbe sehen. Kurz darauf setzte der Hubschrauber zur Landung an. Am Boden wartete das nächste Empfangskomitee: Einsatzkräfte des SEK Sachsen – wie ihre Kollegen, die mich auf dem Flug bewacht hatten, in taktischer Ausrüstung, schwer bewaffnet. Drei Fahrzeuge standen in einer Reihe bereit. Mich eskortierten sie zu dem in der Mitte. Bevor ich einsteigen konnte, legten sie mir zusätzlich zu den Handschellen Fußfesseln an und verbanden beide mit einem Gurt, sodass ich die Arme nicht mehr heben konnte.

Wo sie mich für die erste Nacht hinverfrachteten, weiß ich bis heute nicht. Das Gebäude, in dem sich die Zelle befand, sah aus, als würde es zu einer Kaserne gehören. Sie ließen die ganze Nacht das Licht an. Vor der Gittertür hielt ein Beamter Wache. Irgendwann muss ich trotzdem eingeschlafen sein. Am nächsten Morgen rückte das SEK wieder an und wieder wurden mir Hand- und Fußfesseln angelegt. So ging es zum Justizgebäude in die Innenstadt, nahe der Elbe. Dort wartete der Haftrichter. Die Stunde der Wahrheit.