Schwere Vorwürfe

Die Frage drängte sich erst in meinen Kopf, als Wochen darauf Vorwürfe in die Öffentlichkeit lanciert wurden, die nicht nur einen der größten Skandale seit Bestehen des KSK auslösten, wie die Medien berichteten, sondern auch die bereits erwähnten Ermittlungen von MAD und Wehrdisziplinaranwaltschaft, die sich dann über Jahre hinzogen. Es wurde behauptet, bei der Abschiedsfeier sei zu vorgerückter Stunde rechtsradikale Musik gespielt und von einigen Anwesenden mit Hitlergruß salutiert worden. Konkret beschuldigte man vier Personen, von denen eine ich war. Außerdem traf es den Kompaniechef, den Spieß und noch einen anderen Kameraden. Bei der Musik solle es sich um einen Song der Band Sturmwehr gehandelt haben, in dem die Textzeile »Armes Deutschland, was ist aus dir geworden?« vorkam. Die Sache mit den Schweineköpfen wurde in dem Zug auch publik und als Zeichen unserer moralischen Verdorbenheit gedeutet.

Vorgebracht hatte die Anschuldigungen »Diane«, die Tinder-Bekanntschaft unseres Kameraden, die sich nun (ausgerechnet) als Anna ausgab, was auch nicht ihr wirklicher Name war. Sie wollte mit eigenen Augen gesehen haben, wie wir vier bei der Feier unseren rechten Arm zum Gruß erhoben. Und sie hatte sich angeblich extra die betreffende Liedzeile eingeprägt, um im Nachhinein recherchieren zu können, wessen Musik wir da gehört hatten.

Um es vorwegzunehmen: Ich hatte den Abend anders in Erinnerung. Weder habe ich den Hitlergruß gezeigt noch mitbekommen, dass andere es taten. Ich habe auch keine rechtsradikale Musik wahrgenommen, geschweige denn selbst über den Ghettoblaster abgespielt. Aber die Sache war damit in der Welt. Und die Mühlen fingen an zu mahlen. Eine Zeitung schien von der anderen abzuschreiben, oder sie verwendeten alle dieselbe Quelle. Und die Politik stieg bereitwillig darauf ein.

Die Bundeswehr hatte mal wieder ein Rechtsextremismusproblem. Das war generell keine neue Botschaft, aber diesmal betraf es das Kommando Spezialkräfte, die Eliteeinheit, deren Einsätze unter strengster Geheimhaltung stattfanden und auch danach als geheime Verschlusssache behandelt wurden. Diese Truppe war also unkontrollierbar, so lautete der Tenor. Und wir, die 2. Kompanie, die dort gefeiert hatte, waren ein Schandfleck, gehörten ausgemerzt, wie lauthals aus verschiedenen Richtungen gefordert wurde. Wenn schon nicht das KSK komplett eingestampft würde, dann zumindest diese Kompanie.

Das war die Begleitmusik, die in der Zeit immer und immer wieder gespielt wurde. Und bald kamen die Enthüllungen zum Hannibal-Netzwerk hinzu, das ein ehemaliger KSK-Soldat aufgezogen hatte. Ein Geflecht aus Chatgruppen, über die sich bundesweit sogenannte Prepper organisierten, um den »Tag X«, wie sie ihn bezeichneten, vorzubereiten – den Umsturz der Gesellschaft. Damit hatte ich nun wirklich nichts zu tun. Ich erfuhr auch nur aus der Presse davon. Hannibal und Nordkreuz und was in dem Zusammenhang alles aufgedeckt wurde, davon hatte ich nie zuvor gehört.

Aber, ja, ich kannte den Ex-KSKler, der sich den Online-Benutzernamen Hannibal verpasst hatte. Er war in der 4. Kompanie. Ich wusste, dass er mit dem Verein Uniter e. V. in Verbindung stand, in dem sich ehemalige und aktive Soldaten und Polizisten engagierten, aber nicht, dass er auch zu diesem Netzwerk gehörte. Dass er für Uniter arbeitete, hatte er mir selbst einmal erzählt, auf der Schießbahn in Stetten am kalten Markt, wo wir häufiger Schießtrainings abhielten. Zwei oder drei Jahre bevor das alles aufflog. Damals kam er an und begann, vom Weltuntergang zu faseln, der unmittelbar bevorstünde. Womit er meinte, dass in Deutschland das staatliche Gefüge auseinanderbrechen würde. Um sich darauf vorzubereiten, müssten Verpflegungsverstecke angelegt und Safe Houses eingerichtet werden. Als er das erzählte, standen auch andere Kameraden dabei. Keine Ahnung, was die davon hielten. Einige aus Calw sollen Mitglied in dem Verein gewesen sein, was man so hörte. Mir kam das alles ganz schön wirr vor, um es mal so auszudrücken. Ich weiß noch, dass ich auf dem Schießplatz dachte: Wie hat es so einer in unsere Truppe geschafft?

Ob die bloße Tatsache, dass ich diesen Kameraden kannte, Einfluss auf meinen eigenen Fall und die politische Einschätzung meiner Person hatte, kann ich nicht sagen. Fakt ist, dass Ermittlungen gegen mich eingeleitet wurden, nachdem die Tinder-Dame vom Abschiedsfest einen Glatzkopf beschrieben hatte, der zur fraglichen Zeit, als die Arme hochgestreckt worden sein sollen, beim Kompaniechef gestanden habe. Sie verwendete den Begriff »Nazi-Opa« – wohl wegen der Glatze. Ich war damals 43 und für die polierfreudige Länge beziehungsweise Kürze meiner Haare hatte ich mich wahrlich nicht freiwillig entschieden. Da wuchs einfach nicht mehr viel. Aber als Glatzkopf wird man schnell in die rechte Ecke gerückt. Damit hatte ich meinen Stempel weg und irgendwann – zusätzlich zu den Ermittlungen des MAD und des Wehrdisziplinaranwalts – ein Verfahren der Staatsanwaltschaft an der Backe.

Wie zuverlässig die Angaben der Tinder-Dame in Bezug auf die Anschuldigungen gegen mich waren, zeigte sich spätestens, als die Ermittler ihr eine sogenannte Wahllichtbildvorlage präsentierten. Eine solche wird verwendet, wenn ein Täter, der namentlich bekannt ist, identifiziert werden soll. Ermittler sprechen dem Verfahren einen hohen Beweiswert zu. Das heißt, wer dabei als Täter erkannt wird, hat schlechte Karten. In dem Fall war es so, dass sie der Frau Porträtfotos von acht glatzköpfigen Männern vorlegten. Sie tippte auf eins davon, in dem festen Glauben, mich darauf zu erkennen. Doch das Foto zeigte nicht mich und auch niemand anderen aus unserer Kompanie. Damit wurde der Fall jedoch nicht etwa zu den Akten gelegt. Auch nicht, nachdem sich die Frau noch einmal von sich aus bei den Ermittlern meldete, um ihren Irrtum einzugestehen. Sie habe mich an dem Abend auf der Schießanlage zwar gesehen, sagte sie bei dem Telefonat, ich sei jedoch definitiv nicht derjenige gewesen, der einen Hitlergruß gezeigt habe. So steht es in den Ermittlungsunterlagen, die ich allerdings erst zu sehen bekam, nachdem dieses Verfahren gegen mich doch noch eingestellt wurde. Und zwar im Sommer 2022, mehr als fünf Jahre nach der Abschiedsfeier.

Bei unserem ehemaligen Kompaniechef, der in der Zwischenzeit zur Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf strafversetzt worden war, mahlten die Mühlen der Justiz nicht so langsam. Ihm wurde wie mir das »Verwenden von Kennzeichen verbotener Organisationen« vorgeworfen, womit der Hitlergruß gemeint war. Und auch sein Verfahren war bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart anhängig. Die Details kenne ich nicht, aber ich weiß, dass er den Vorwurf ebenfalls bestritt. Meiner Meinung nach wäre er in seinem Zustand, so wie er vom Met beseelt auf dem Sofa lag, gar nicht imstande gewesen, auch nur ein einziges Körperteil stramm von sich zu strecken. Einer unserer Medics hatte ihn im Laufe des Abends untersucht, er hielt eine Alkoholvergiftung für möglich. Und das hieß schon etwas bei einem kräftigen Mann von fast zwei Metern.

Wie auch immer, sein Fall entschied sich bereits im Herbst 2018. Die Presse berichtete groß darüber. Unter anderem war zu lesen, die Staatsanwaltschaft würde es als erwiesen ansehen, dass er am Lagerfeuer den Hitlergruß gezeigt hatte, angeblich mehrmals. Das zuständige Amtsgericht habe einen Strafbefehl erlassen, verbunden mit einer Geldbuße in Höhe von 4000 Euro.

Nicht geschrieben wurde, wie es zu dem Strafbefehl gekommen war beziehungsweise warum er ihn angenommen hatte. Da er sich genau wie ich zu Unrecht beschuldigt sah, hatte er ursprünglich über seinen Anwalt Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt. Daraufhin entschied der zuständige Richter, eine Gerichtsverhandlung anzusetzen – diese sollte öffentlich sein. Der Termin stand bereits fest, und die meisten von uns erhielten eine Vorladung als Zeugen. Das wiederum hätte bedeutet, dass unsere Namen bekannt geworden und wir höchstwahrscheinlich von Presseleuten fotografiert worden wären, zumindest einige von uns. Ein absolutes No-Go für Kommandosoldaten. Um unsere Identität zu schützen, beantragte die Verteidigung in Absprache mit der Bundeswehr, den Fall im Rahmen einer nicht öffentlichen Verhandlung zu entscheiden. Doch das lehnte das Amtsgericht ab. Erst da akzeptierte der Kompaniechef Strafbefehl und Geldbuße – aus einem einzigen Grund: um uns zu schützen. Er stellte sich noch einmal vor seine Jungs, wie er das auch in Afghanistan getan hatte.