Die Ermittlungen und das Verfahren infolge der Abschiedsfeier auf der Schießanlage hatten rein juristisch nichts mit meiner Festnahme nach dem Munitionsfund auf dem heimischen Grundstück zu tun. Dennoch hing das eine mit dem anderen zusammen. Auf den ersten Blick scheint das widersprüchlich, ist aber recht einfach zu erklären. Dazu muss ich nur etwas ausholen – und dabei auch ein klein wenig am Mythos des KSK kratzen.
Die Geheimniskrämerei, die der Truppe seit ihrem Bestehen von bestimmten Kräften immer wieder vorgeworfen wurde, aus meiner Sicht hauptsächlich politisch motiviert, hatte – und hat – gute Gründe. Nicht alle, aber viele Einsätze hätten ohne diese Verschwiegenheit nach außen nicht durchgeführt werden können, oder sie wären gescheitert. Die einzigartige und auch fordernde Ausbildung, die man als Kommandosoldat durchläuft und die uns zu besonderen Leistungen befähigte, war dabei nur ein Punkt, wenn auch ein wesentlicher. Ein anderer, der solche Einsätze möglich machte, aber auch für die Ausbildung von elementarer Bedeutung war, betraf die Ausrüstung, im weitesten Sinne, angefangen bei den Fahrzeugen über die verschiedensten Waffen, die Funktechnik bis hin zu all dem, was wir in Vollausrüstung sonst noch mit uns herumtrugen, wie Plattenträger (taktische Schutzwesten), Helme, Nachtsichtgeräte und so weiter.
Bei einer Truppe, die gern als Eliteeinheit gerühmt wird, ging man natürlich davon aus, dass sie stets und bei allem mit dem neuesten Stand der Technik versorgt wurde – State of the Art, wie man so schön sagt – und es auch sonst an nichts mangelte. Nach dem Motto: Ihr habt doch alles, ihr kriegt doch alles. Wenn im Zusammenhang mit der Bundeswehr öffentlich schwerfällige Führungsstrukturen, veraltete und nicht funktionstüchtige Technik und überhaupt ein Mangel an allem Möglichen beklagt wurde, bezogen das jedenfalls die wenigsten auf die Kommandokräfte in Calw. Dort schien in dieser Hinsicht immer die Sonne zu scheinen.
Tatsächlich waren wir beim KSK ausrüstungs- und materialmäßig besser aufgestellt als gewöhnliche Bundeswehreinheiten. Nichtsdestotrotz war auch bei uns manches nicht perfekt. Mehr als manches, um die Wahrheit zu sagen. Ein Beispiel: Jede Kompanie hatte einen eigenen Fuhrpark, sozusagen einen Grundbestand für den militärischen Alltag. Über diese Fahrzeuge konnte sie ständig verfügen. Kam ein spezieller Auftrag oder stand eine Übung an, für die mehr oder andere Fahrzeuge benötigt wurden, mietete man diese über den Fuhrparkservice. Das lief wie bei einer normalen Autovermietung: Man füllte ein Formular aus, gab Zeitraum und Fahrzeugkategorie an, dann bekam man das Gewünschte – falls es verfügbar war. Wovon man nicht immer ausgehen konnte, da auch andere Einheiten Ansprüche stellten. Genauso lief es bei Gefechtsfahrzeugen, ob Dingo, Enok oder Eagle, alles gepanzerte Fahrzeuge, die mit Waffen ausgerüstet werden konnten. Idealerweise gab man eine solche Bestellung mit dem größtmöglichen zeitlichen Vorlauf ab. Wenn ich zum Beispiel eine umfangreichere Übung plante, war es am zielführendsten, den Fahrzeugbedarf bereits ein Jahr im Voraus anzumelden. Das garantierte allerdings nicht, dass die Fahrzeuge dann auch alle funktionierten. Nach meiner Erfahrung waren im Schnitt nur etwa zwanzig Prozent einsatzfähig. Einmal organisierte ich für eine Übung auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz unter anderem vier Dingos. Alle vier mussten wir vorher erst reparieren lassen. Da ich das Problem kannte, fingen die Fachkräfte zwei Monate vor der Übung an, um rechtzeitig fertig zu sein. Bei den Eagles sah es nicht besser aus. Da standen dann manchmal zwanzig von denen, aber nur sechs waren voll funktionstüchtig. Ein konkretes Beispiel: Bei einem, der fahrbereit gewesen wäre, war die Waffenanlage kaputt. Ein anderer war nicht fahrtauglich, dafür hatte er eine intakte Waffenanlage. Also organisierten wir einen Kran und hievten die funktionierende Waffenanlage in den fahrfähigen Eagle – inklusive aller Montiererei, die das in beiden Fahrzeugen mit sich brachte. Eine ähnliche Situation herrschte bei den Transportpanzern Fuchs, auch von denen waren längst nicht alle zu gebrauchen. Als ich in meinem Gerichtsprozess dieses Thema anschnitt, wollte es keiner hören, man hat mir nicht geglaubt oder nicht glauben wollen. Es hieß dann immer, das KSK habe doch alles und bei der Bundeswehr sähe es auch nicht so düster aus. Aber kurze Zeit später wurde groß in den Medien berichtet, dass die Bundeswehr personell, materiell und finanziell am Boden lag, über Jahrzehnte sozusagen totgespart wurde.
Einen Großteil der Instandsetzungsarbeiten erledigten Zivilangestellte, von denen manche sogar mit zu den Übungen kamen, auch wenn es ins Ausland ging. Deren Chef war immer ein Offizier, aber der schraubte nicht. Und zu schrauben gab es eigentlich immer etwas. Selbst bei den Waffen, mit denen die Gefechtsfahrzeuge bestückt wurden, war häufig handwerkliches Geschick und Kreativität gefragt. Manche flogen uns auf dem Übungsplatz regelrecht um die Ohren. Wenn sie nicht vollständig hinüber waren, flickten wir sie mit Schrauben und Draht und sonst was wieder zusammen.
Einsätze waren eine andere Geschichte, aber im Übungsbetrieb musste reichlich improvisiert werden. Ich konnte am Schreibtisch die tollsten Sachen planen. In der Realität sah es dann oft anders aus. Doch es musste trotzdem irgendwie gehen. Die übergeordnete Führung erwartete, dass das Ausbildungsziel erreicht wurde. Und genauso, dass die taktische Einsatzbereitschaft erhalten blieb, technische Unpässlichkeiten und Versorgungsengpässe hin oder her. Flexibilität war das Zauberwort. Und das hatte auch eine gute Seite: Man blieb im Kopf beweglich, lernte, sich schnell einer Situation anzupassen und neue Wege zu suchen, Probleme zu lösen. Alles Fähigkeiten, die im Ernstfall, bei einer Operation, hilfreich sein konnten.
Seit ich vom normalen Truppsoldaten in die Kompanieführung und dort ins PLEX-Team aufgerückt war, war es immer mein Ziel, Übungs- und Ausbildungsvorhaben so realitätsnah wie möglich zu gestalten, um die Soldaten, die mir anvertraut wurden, optimal auf ihre Einsätze vorzubereiten. Zugegeben, das könnte glatt aus einem militärischen Lehrbuch stammen. Mit dem Unterschied, dass ich selbst oft genug im Einsatz war, um zu wissen, dass eine solche Formulierung, auch wenn sie danach klingt, eben keine leere Floskel ist. Für einen Soldaten, der nicht bestmöglich vorbereitet in einen Einsatz geschickt wird, ist das Risiko doppelt und dreifach hoch. Und das gilt dann ebenso für sein Team, seinen Trupp, ein schwaches Glied schwächt alle. Bei den Einsätzen, zu denen Kommandokräfte losgeschickt werden, kann dieses Risiko den Tod bedeuten, von einer Sekunde auf die nächste.
Aber darauf will ich nicht hinaus. Worum es geht: Damit man Ausbildung und Übungen einsatzrealistisch gestalten konnte, benötigte man entsprechendes Material. Oder entsprechende Mittel, im weitesten Sinne. Von Landfahrzeugen war schon die Rede. Aber auch Hubschrauber und Flugzeuge gehörten dazu. Es ging weiter mit Waffen, mit der Munition dafür. Mit Sprengstoffen. Bis hin zu dem, was wir als Darstellungs- und Blendmittel bezeichneten. Darstellungsmittel wurden verwendet, um bestimmte Gefechtsereignisse möglichst naturgetreu zu inszenieren – zum Beispiel verschiedene Arten von Explosionen (Knall, Feuerball, Rauch). Oder auch Maschinengewehrfeuer, als stünden uns feindliche Kräfte gegenüber. So ähnlich wie das, was Pyrotechniker beim Film fabrizieren, wenn Spezialeffekte für Kriegsszenen, Katastrophen oder Unfälle verlangt werden. Blendmittel benutzten wir vor allem beim Raum- und Häuserkampf. Die berühmte Szene: Eine Tür fliegt auf, man sieht, wie ein kleiner Gegenstand in den Raum geworfen wird, in der Sekunde darauf knallt es höllisch oder es blitzt so grell, dass man automatisch die Augen zukneift. Die Leute im Raum sind für einen kurzen Moment geblendet, und diesen Moment nutzen die Angreifer, die in den Raum eindringen, um sie zu überwältigen oder zu bekämpfen. Ein Teil des Einmaleins der Geiselbefreiung.
In der Theorie waren solche Übungsvorhaben klar definiert. Man könnte von Routine sprechen, so oft wie wir das machten, die verschiedensten Abläufe mussten immer wieder trainiert beziehungsweise aufgefrischt werden. Ging es jedoch an die konkrete Umsetzung dieser Übungen, haperte es nicht selten an so manchem. Zum Beispiel kam es immer wieder zu Engpässen bei der Munitionsversorgung. Allerdings forderten wir auch riesige Mengen an. Ich glaube, nirgendwo sonst bei der Bundeswehr wurde so viel verbraucht. Allein was in unserem Schießausbildungszentrum an Munition durch die Waffen ging: im Jahr ungefähr eine Million Schuss, meist Kaliber 9 mm Luger und .223 Remington. Oder nehmen wir eine typische Übung auf einem Truppenübungsplatz. Dabei wurden pro Tag im Schnitt 10 000 Schuss abgefeuert und innerhalb einer Woche bis zu 20 Kilo Sprengmittel gezündet. Manchmal noch mehr. Ganz zu schweigen von Unmengen an besagten Darstellungs- und Blendmitteln, von denen man nie genug haben konnte.
Blieb bei den Übungsmaßnahmen, die ich leitend begleitete, etwas übrig, was trotz mancher Knappheit immer wieder vorkam, landete es im Keller unseres Kompaniegebäudes, der – militärisch untypisch – so unaufgeräumt war, dass ein Messie daran seine helle Freude gehabt hätte. In diesem Chaos standen einige Kisten, darunter eine große abschließbare aus Blech, in der ich über Jahre hinweg solche Restbestände sammelte, unsortiert und ohne zu unterscheiden, ob es sich um Hartkern-, Weichkern- oder Leuchtspurmunition handelte, oder um welches Kaliber. Das Gleiche galt für Sprengmittel und alles andere – was übrig blieb, kam rein. Zusätzlich noch einige der Gegenstände, die ich immer mal wieder im Kellergang fand, ohne nachvollziehen zu können, wer sie dort abgelegt hatte. Es war nicht unüblich, von Einsätzen – speziell, wenn es Auslandseinsätze waren – Fundstücke mitzubringen. Souvenirs sozusagen. Als Erinnerung oder weil man dachte, die Sachen noch irgendwie gebrauchen zu können. So sammelten sich da unten auch alte Panzerminen und Sprengfallen an. Natürlich keine riesigen Mengen, Einzelstücke, und die waren alle delaboriert, also ungefährlich. Eine Softairwaffe fand ich dort auch mal. Und jene AK-47, die Kalaschnikow, die später in der vergrabenen Munitionskiste auf meinem Grundstück entdeckt wurde.
In Afghanistan nahmen wir alles mit, was uns für eine einsatznahe Ausbildung brauchbar erschien – besonders für Soldaten, die dort noch nie im Einsatz waren. Es ist ein großer Unterschied, ob man jemandem solche Sachen auf einem Foto zeigt oder sie ihm gegenständlich präsentieren kann, als reelle Darstellungsmittel. Zum Beispiel Schnellkochtöpfe, die von außen harmlos aussahen, innen aber mit Sprengstoff gefüllt waren. Oder selbst gebaute Pressure Blades, eine Art Auslösevorrichtungen für Sprengfallen. Von denen waren manche für Personen ausgelegt, andere für Fahrzeuge und wiederum andere nur für Panzer. Auch typische Kleidungsstücke brachten wir von dort mit, etwa Polizeiuniformen. Oder Uniformen der verschiedenen Milizen-Gruppen, die Warlords unterstanden. Die konnten wir dann im Schießausbildungszentrum einsetzen, bei der Freund-Feind-Kennung. Wenn einer zum Beispiel eine solche afghanische Polizeiuniform trug und eine Waffe in der Hand hielt, also eigentlich eine Gefahr darstellte, durfte man nicht auf ihn schießen – da die afghanischen Sicherheitskräfte als Verbündete galten.
So logisch und sinnvoll mir dieses Sammeln und Aufbewahren von Munition und Sprengmitteln erschien, verstieß ich damit natürlich gegen Vorschriften – was mir auch bewusst war. Normalerweise hätten jede einzelne Patrone und alle nicht verwendeten Einsatzmittel fein säuberlich registriert und zurückgegeben werden müssen. So wie ich es in der Grundausbildung erlebt hatte, die ich bei den Gebirgsjägern in Schneeberg absolvierte. Andererseits war dieses Bunkern, ob Material allgemein oder Munition im Speziellen, beileibe keine Erfindung von mir. Das wurde auch anderswo bei der Bundeswehr praktiziert. Vielleicht nicht in jeder Kaserne, aber in vielen, den meisten. Wer das bestreitet, hat keine Ahnung oder ist nicht ehrlich.
Aus meiner Sicht hatte ich gute Gründe, es so und nicht anders zu praktizieren. Nehmen wir nur die Situation, die sich während einer vierwöchigen Schießausbildung bei uns in der Kaserne ergab. Im Schießausbildungszentrum wurden, wie gesagt, große Mengen an Munition verschossen. War ich als Leitender eingesetzt, überlegte ich vorher, wie viel Munition für die Teilnehmer gebraucht wurde, an jeder Station und insgesamt. Dann forderte ich die entsprechende Menge an. Es gab ein Vorratslager für Munition in der Kaserne. In dem wurde aber nur ein geringer Teil des Bedarfs vorgehalten, für laufende Schießvorhaben. Der weitaus größere Teil kam aus dem Munitionslager Wermutshausen, rund zwei Stunden von Calw entfernt.
Ganz gleich wie genau ich plante, am Ende eines Tages konnte trotzdem Munition übrig sein. So war es oft auch. Die Schützen wurden belehrt, dass sie alle Patronen, die Restmunition, abzugeben hatten. Hätte ich mich streng nach Vorschrift verhalten, hätte ich jeden Abend die übrig gebliebenen und zurückgegebenen Patronen einzeln sortiert in die jeweiligen Packungen zurückstecken und einschließen müssen, um sie am nächsten Morgen dann wieder herauszuholen. Erstens fand ich das umständlich. Und zweitens kostete es Zeit, unnötig viel für meinen Geschmack. So ein Tag zog sich ohnehin schon in die Länge. Also sparte ich mir das und packte stattdessen die Restpatronen, samt Magazin oder einzeln, in die Kiste im Keller – um sie am nächsten Tag wieder auszugeben. Auch die Jungs, mit denen ich die Ausbildung machte, waren geschafft und wollten nur noch auf ihre Stube. Also hat jeder sein Magazin beschriftet, abgegeben und am Morgen dann wiederbekommen. Wenn am Ende einer solchen Woche Munition übrig war, wurde sie in der Kiste aufbewahrt, und so sammelte sich mit der Zeit einiges an. Es kam auch vor, dass nach einem größeren Schießen eine Pappkiste mit Restmunition von irgendjemandem vor meinem Büro abgestellt wurde. Oder vor dem Büro des Versorgungsdienstfeldwebels, der damit dann zu mir kam. Damit will ich nicht sagen, dass es korrekt war – nur dass es eben so war. Später hatte ich auch eine Kiste in meinem Büro stehen. Das war kein Geheimversteck, wer in den Keller oder ins Büro kam, konnte die Kisten ohne Weiteres sehen.
Auf großen Übungsplätzen war der Aufwand noch mal ein anderer. Dort musste am Ende jede Sorte einzeln in der Schießkladde aufgelistet werden, wie viele Patronen davon verschossen worden waren, durch welchen Trupp oder welche Kompanie und so weiter. Am Wochenende nach solch einer Übung kam ich zu kaum etwas anderem, als zusammen mit dem Schreiberling diese Schießkladde auszufüllen, um alles ordnungsgemäß abrechnen zu können. Mit einer vernünftigen Computersoftware wäre das unkomplizierter und schneller zu erledigen gewesen, aber wir benutzten noch im Jahr 2020 Papier und Stift dafür. Selbst in dem Munitionslager in Wermutshausen, in dem ständig bis zu zwei Millionen Munitionsartikel deponiert waren, wurden damals die Bestandsveränderungen, also die Ein- und Ausgänge, mit Stift und Papier verwaltet. Inzwischen soll das Lager ans digitale Buchungssystem der Bundeswehr angebunden worden sein – aber auch erst, nachdem krasse Missstände im Munitionswirtschaftswesen aufgedeckt worden waren. Dazu komme ich gleich.
Also hat man sich auch bei solchen Übungen einen praktikableren Weg gesucht und nach beschriebenem Muster gebunkert. So schuf ich mir gleichzeitig einen kleinen Vorrat, auf den ich zurückgreifen konnte, falls bei einer der nächsten Übungen nicht ausreichend Munition zur Verfügung stand. Mit Darstellungs- und Blendmittel und auch mit Sprengmitteln verfuhr ich auf dieselbe Weise. Nach der Devise: Haben ist besser als brauchen.
Dabei war für mich immer selbstverständlich, dass ich der Bundeswehr, dem KSK, nichts wegnehme. Niemals hätte ich davon Patronen für mich persönlich abgezweigt. Dabei wäre das ein Leichtes gewesen.
Nachdem ich in die Kompanieführung gekommen und Ausbilder geworden war, unter anderem fürs Schießen, schloss ich mich der Schießleistungsgruppe Calw an – als Sportschütze. Somit hätte ich mir so viel Munition kaufen können, wie ich wollte. In dieser Gruppe waren ausschließlich Soldaten, der Verein hatte sein Quartier in der Kaserne, und wir durften auch die Schießanlage nutzen, also das Schießausbildungszentrum – nach Dienstschluss. Jeder musste seine eigenen Sportschützenwaffen mitbringen. Die Munition wurde zwar gestellt, es war sozusagen dienstliche Munition, hinterher aber genau abgerechnet. Das Training diente hauptsächlich dazu, Lücken zu schließen und seine Leistungen zu verbessern. Als Ausbilder hatte ich außerdem den Anspruch, nicht nur gut schießen zu können, sondern besser zu sein als diejenigen, die ich ausbildete. Dafür genügte es nicht, alle zwei Monate mal auf die Schießbahn zu gehen, wie es im Dienstplan meist vorgesehen war. Wenn man richtig gut sein wollte, musste man regelmäßig trainieren, mindestens einmal die Woche, besser noch öfter.
Die Sachen, die ich in der Kiste bunkerte, sollten also nicht bis zum Sanktnimmerleinstag vor sich hin modern, sondern bei nächster Gelegenheit eingesetzt werden. Wurden sie auch, sobald es sich anbot. Richtig große Übungen auf Truppenübungsplätzen fanden höchstens einmal im Jahr statt. In dem Zeitraum dazwischen gab es viele kleinere Übungen, Schießtrainings oder auch Vorführungen, Letztere hauptsächlich für die Generalität und für Politiker, die sich so was gern anschauten oder denen wir zeigen sollten, dass wir eine super Truppe sind. Einige dieser Maßnahmen wurden relativ kurzfristig angesetzt. Oder es wurden länger geplante inhaltlich angepasst, aktualisiert. Zum Beispiel wenn wir mit einer neuen Waffe, einem neuen Modell, ausgerüstet wurden. Damit sollte dann intensiver trainiert werden, um sie schneller zu beherrschen. Also wurde mehr Munition benötigt. Um die zu bekommen, mussten die üblichen bürokratischen Abläufe eingehalten werden. Vier Wochen Bestellfrist waren das Mindeste. Manche Sorten musste man im Jahr vorher ordern – und bekam sie manchmal trotzdem nicht. Dann war es hilfreich, auf geeignete Restmunition zurückgreifen zu können. Das klappte nicht immer, aber das war die grundsätzliche Idee. Es beschwerte sich übrigens auch niemand, wenn man bei Vorführungen den einen oder anderen mit Darstellungsmitteln erzeugten Effekt zusätzlich einsetzte, umso eindrucksvoller wirkte die Präsentation. So manches Mal stand außer den sogenannten Schwarzbeständen gar nichts anderes zur Verfügung, gerade was diese Darstellungsmittel betraf. Also für mich machte das alles Sinn.
Wie sich bald zeigen sollte, war ich längst nicht der Einzige, der beim Umgang mit Munition und Sprengmitteln Vorschriften ignorierte. In einem Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr von 2020 heißt es, dass vorschriftswidrige Abläufe diesbezüglich beim KSK jahrelang als Routinebetrieb erlebt wurden. Anders ausgedrückt: Verstöße gab es auf allen Ebenen und das dauernd, ohne dass sich jemand daran stieß. Der laxe Umgang mit Munition und Material war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Soldaten behielten verbotenerweise Munition ein. Die Buchführung wurde mit Kreativität gestaltet, sodass es auf dem Papier wenigstens halbwegs stimmte. Und auch bei Inventuren der Munitionsbestände, die jährlich durchzuführen waren, nahm man es mit der Sorgfalt offenbar nicht so genau. Als ein Grund wurde die dauernde Überlastung des logistischen Fach- und Führungspersonals ausgemacht. Ein anderer sei die unzureichende Dienstaufsicht gewesen. Es ging so weit, dass bei einem Kommandeurswechsel dem neuen einfach gemeldet wurde, alles sei vollzählig, und der es dann im guten Glauben auch nicht überprüfen ließ. Mindestens einmal sollen dabei die fürs KSK vorgehaltenen Bestände im Munitionslager Wermutshausen komplett verschwiegen worden sein, als hätte das Depot gar nicht existiert. Man sollte annehmen, dass so etwas sofort aufgefallen sein müsste – anscheinend war das aber nicht der Fall.
Als im Dezember 2019, vermutlich erstmals seit vielen Jahren, die Inventur vorschriftsmäßig durchgeführt wurde, stießen die Prüfer auf erhebliche Bestandsdifferenzen. Zigtausend Munitionsartikel fehlten, während von anderen einige Tausend zu viel vorhanden waren. Der gravierendste Minusbestand wurde bei den Sprengmitteln registriert – sage und schreibe 62 Kilo fehlten. Oder möglicherweise doch nicht? So richtig schien das niemand aufklären zu können. Am Ende wurde ein Zählfehler als Ursache angenommen. Demnach sollen bei der Inventur im Jahr zuvor mehr Sprengmittel eingetragen worden sein, als tatsächlich vorhanden waren. Bei 62 Kilo musste sich aber jemand gewaltig verzählt haben.
Die Differenzen bei der Munition schrieb man hauptsächlich Buchungsfehlern zu. So sollen zum Beispiel rund 30 000 Patronen unterschiedlicher Kaliber nicht ausgetragen worden sein, die zum Auslandseinsatz nach Afghanistan gingen. Der Grund für andere Fehlbestände, immerhin auch im fünfstelligen Bereich, ließ sich dagegen angeblich nicht mehr klären. Ebenso blieb ein Rätsel, wie es bei einigen Sorten zu Überbeständen kommen konnte.
Das Rätsel wurde noch größer, als der damalige Kommandeur in Auswertung der Inventurergebnisse einen Befehl erließ, der später als »Munitionsamnestie« durch die Medien ging und ihm eine Anklage wegen unterlassener Mitwirkung bei Strafverfahren (Paragraf 40 des Wehrstrafgesetzes) einbrachte, im Zivilen vergleichbar mit Strafvereitelung im Amt. Wie das ausgegangen ist, kann ich nicht sagen, zuletzt schien das Verfahren noch zu laufen.
Unser Kompaniechef verkündete diesen Befehl des Kommandeurs bei einem der Morgengespräche, 2020 war das, in der letzten Märzwoche. Erst traf sich die Kompanieführung wie üblich im Büro des Kompanietruppführers, um die wichtigsten Punkte, die für den Tag anstanden, in kleiner Runde zu besprechen. Das dauerte in der Regel etwa eine Viertelstunde. In der Zwischenzeit versammelte sich der Rest der Kompanie im Uffz.-Raum, einige tranken Kaffee, alle warteten.
Diese Morgengespräche wurden recht locker gehalten. Jeder suchte sich einen Platz, manche standen, und wenn die Kompanieführung von ihrer kurzen Vorbesprechung anrückte, gab es kein Strammstehen oder so, sondern einfach nur ein »Guten Morgen«. Das war an dem Tag nicht anders. Ein ganz gewöhnliches Morgengespräch. Punkt für Punkt wurde abgehandelt, die Sache mit der Munition war einer davon. Der Kompaniechef machte nicht viel Aufhebens darum. Es seien Bestandsdefizite festgestellt worden. Deswegen solle überschüssige Munition gesammelt und abgegeben werden. Vor dem Gebäude, in dem der Munitionstrupp seinen Bereich hatte, würde eine Palette aufgestellt, dort solle man das Zeug reinwerfen. Wir hätten einen Monat Zeit. Die Aktion sei anonym, niemand, der etwas zurückgebe, bräuchte zu fürchten, bestraft zu werden.
Für wie glaubwürdig der letzte Punkt zu halten war, dazu hatte wahrscheinlich jeder seine eigene Meinung. Zumal alle wussten, dass der Bereich, wo die Rückgabepalette stehen sollte, von Kameras überwacht wurde wie das gesamte Gelände. Mein Vertrauen in den Kommandeur hielt sich ohnehin in Grenzen, besser gesagt: Es war keins vorhanden. Ich hatte erlebt, wie er Kameraden dazu aufrief, andere anzuschwärzen. So was ging gar nicht in meiner Wertewelt.
Außerdem kursierte irgendwann das Gerücht, er hätte Feldärztinnen die Anweisung erteilt, politisch anstößige, insbesondere rechtsextreme Tätowierungen von KSK-Soldaten zu melden, wenn sie solche bei ihren Untersuchungen feststellten. Damit hätte er sich der Anstiftung zum Verrat von Privatgeheimnissen und der Verleitung zu einer rechtswidrigen Tat strafbar gemacht. Er wurde deswegen auch angezeigt. Die Aussage einer Ärztin schien das Gerücht zu bestätigen, woraufhin die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eröffnete. Dabei soll dann aber doch nichts Rechtsrelevantes herausgekommen sein. Trotzdem blieb so eine Geschichte natürlich im Hinterkopf. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Mir ging es rein ums Juristische – ein Chef, der angeordnet haben soll, gegen das Gesetz zu verstoßen, so jemandem konnte ich nicht vertrauen. Was die Tattoos betrifft, halte ich es schlichtweg für falsch, sich als Soldat Motive stechen zu lassen, die nicht mit den Werten des Grundgesetzes in Einklang stehen. Ich kann nicht einerseits einen Eid schwören, dem Land treu zu dienen und Recht und Freiheit des Volkes zu verteidigen, mich also zur Einhaltung der Verfassung verpflichten, und dann mit solchem Zeug auf der Brust oder sonst wo herumlaufen.
Jedenfalls schien es mir keine kluge Idee, mich an der »Aktion Fundmunition«, wie sie intern genannt wurde, zu beteiligen. Hinzu kam, dass sich meine »stillen Reserven« aus der Kiste seit Längerem nicht mehr in der Kaserne befanden. Die Abschiedsfeier auf der Schießanlage – hier ist der Zusammenhang: Als MAD und Wehrdisziplinaranwalt damals mit ihren Ermittlungen begannen, war es nur eine Frage der Zeit, wann es die ersten Durchsuchungen in der Kaserne geben würde. Ich hatte mir nie etwas zuschulden kommen lassen, war auch noch nie mit MAD und WDA konfrontiert gewesen, wusste aber natürlich, dass ich in der Kiste etwas hatte, was dort offiziell nicht hingehörte. Und da ich so gar nicht abschätzen konnte, was auf mich zukommen würde, falls man die Sachen entdeckte, verstaute ich sie kurzerhand in meinem Auto und brachte sie nach Sachsen, zu mir nach Hause.
Man kann es Naivität nennen. Oder Dummheit. Auf jeden Fall war ich unbekümmert genug, mir keine großen Gedanken zu machen, was ich da eigentlich anstellte. Ich meine, ich hatte keine schlaflosen Nächte deswegen. Ich dachte einfach, ich bringe die Sachen dort in Sicherheit und warte, bis sich alles beruhigt hat, bis die Vorwürfe aus der Welt geschafft sind. Ich ging fest davon aus, dass es so kommen würde.
Und für die Zeit danach hatte ich auch schon einen Plan: Munition und Sprengmittel sollten bei einer Großübung auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz, der etwa eine Fläche von 23 000 Fußballfeldern hat, verübt und damit vernichtet werden. Konkret auf den Schießbahnen 2 und 3, die sich zusammen über ein Areal von etwa drei mal vier Kilometern erstreckten und auf denen mit fast allen Munitionssorten, über die die Bundeswehr verfügte, geschossen werden durfte. Die Restmunition wollte ich für Warmschießübungen einsetzen. Den Sprengstoff hätte ich als Ablenkladung ausgelöst oder als Schlagladung, wie man sie in echten Einsätzen verwendete, um Minen und Sprengfallen zu zerstören. Geplant war die Übung für das erste Quartal 2020 … doch dann kam Corona.