Und schließlich der Tag, an dem sie mich rausließen, der 30. November, wie ein zweiter Geburtstag. Es wurde schon dunkel draußen, als die Anstaltspsychologin die Sprechluke der Zellentür öffnete. Für sie eine ungewöhnliche Zeit. Sie begann ein belangloses Gespräch, sodass ich mich fragte, was sie eigentlich wollte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Auf einmal sagte sie, ohne das, was gleich kommen würde, irgendwie einzuleiten: »Sie werden heute noch entlassen.« Und während ich mich fragte, ob sie das gerade wirklich gesagt hatte, hörte ich, wie sie die Tür aufschloss.
Ich war deswegen nicht unschuldig. Und ich beklage mich nicht über die Haftzeit an sich, obwohl es wie gesagt die düstersten Monate meines Lebens waren. Sämtliche Vollzugsbeamten behandelten mich absolut korrekt, sogar freundlich und entgegenkommend. Keine Schikanen, keine blöden Sprüche, nichts. Eher hatte ich das Gefühl, dass sie sich wunderten, warum ein Häftling so lange in Einzelhaft gehalten wurde, mit all den »besonderen Sicherungsmaßnahmen«, wie es im Amtsdeutsch heißt. Anna wurde bei ihren Besuchen mehrmals von Vollzugsbeamten darauf hingewiesen, dass man etwas unternehmen müsse, da es rechtswidrig sei, was mit mir gemacht würde. Das versuchte sie die ganze Zeit auch unermüdlich, gemeinsam mit den Anwälten.
Ob die Anklage zum Zeitpunkt meiner Entlassung bereits fertig war, weiß ich nicht. Lange ließ sie nicht auf sich warten, im Januar begann der Prozess – wegen Verbrechens nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, Paragraf 22a, um genau zu sein.
Wäre ich einer der Ermittler gewesen, hätte ich wahrscheinlich ähnliche Schlüsse gezogen. Die Vorwürfe nach der Abschiedsfeier, das Hannibal-Netzwerk des Ex-KSK-Soldaten mit den Preppern, die für »Tag X« nicht nur Versorgungs-, sondern auch Waffendepots anzulegen planten, die Verbindung anderer KSK-Soldaten zur Reichsbürgerszene … und jetzt hatte dieser Typ, also ich, auch noch Munition verbuddelt, Tausende Patronen. Und Sprengstoff. Es hätte wahrlich weniger genügt, um in die gleiche Richtung zu denken.
Dabei war es bei mir eher noch mehr, was den Verdacht nähren konnte, wenn ich ehrlich bin. Damit meine ich nicht die alte Kalaschnikow. Wegen ihr – und dem Magazin, in dem sich noch scharfe Patronen befanden – fußte die Anklage zwar auf besagtem Kriegswaffenkontrollgesetz. Aber als Waffe war sie völlig unbrauchbar. Davon war ich auch ausgegangen, seit ich sie im Kompaniekeller aufgestöbert hatte. Wer hätte dort eine funktionstüchtige AK-47 liegenlassen? Außerdem kenne ich mich mit Waffen ziemlich gut aus. Niemals hätte ich einen Schuss mit diesem Schrottteil abgefeuert, falls das technisch überhaupt möglich gewesen wäre, wohl eher nicht. Vor Gericht bestätigte ein Gutachter dann auch, dass man damit keinen Krieg mehr hätte führen können. Etwas juristischer ausgedrückt: Die Waffe hatte ihre Kriegswaffeneigenschaft verloren – und das bereits, als sie gefunden wurde. Mein Interesse hatte sie nur deshalb geweckt, weil mir die Idee kam, sie längs aufzuschneiden und schön als Deko zu Hause an die Wand zu hängen. Immerhin war es eine echte Kalaschnikow. Die konnte man schon legendär nennen. Keine Waffe wurde und wird auf der Welt mehr verwendet. Ich schätze, es ist auch keine bekannter.
Nein, es kamen andere Dinge hinzu, durch die mich die Ermittler in der rechten Ecke verorteten. Die Baggeraktion auf dem Grundstück war durch eine Hausdurchsuchung ergänzt worden. Dabei waren einige Zeitschriften zum Vorschein gekommen, die sich ausgiebig mit der Nazizeit befassten und diese nicht gerade kritisch betrachteten. Der Besitz dieser Hefte war nicht verboten, man konnte sie legal erwerben. Ich hatte sie auch nicht versteckt, sie lagen ordentlich sortiert in einem Schubfach des Wohnzimmerschranks, zusammen mit einer kleinen Postkartensammlung mit NS-Motiven und einem Liederbuch der SS. Gewissermaßen passend dazu, aus ihrer Sicht, stießen sie in meinem Kleiderschrank unter all meinen Klamotten auf drei Poloshirts und einen Hoodie, die allesamt von einer Marke stammten, die bevorzugt in rechten Kreisen und von Hooligans getragen wurde.
Die Drucksachen hatte ich auf einem Flohmarkt erstanden, vor über 25 Jahren war das. An den Zeitschriften interessierten mich die Beschreibungen militärischer Operationen aus dem Zweiten Weltkrieg. Darum ging es darin hauptsächlich. Sie wurden in aller Ausführlichkeit abgehandelt, sodass Leute, die davon Ahnung haben, jeden taktischen Schritt nachvollziehen konnten. Ob man es gut findet oder nicht, Fakt ist, dass sich die infanteristischen Taktiken im Grundsatz seither kaum geändert haben. Das wird jeder Militärexperte bestätigen. Ihre Basis liegt in dieser Zeit und noch weiter zurück. Nehmen wir nur das Führungsprinzip »Führen von vorne«, das älteste und wohl bekannteste. Rommel war damit, rein militärisch betrachtet, sehr erfolgreich im Zweiten Weltkrieg. Heute wird das Prinzip in allen modernen Armeen angewendet. Wir befassten uns in der Ausbildung auch intensiv damit. Es will nur keiner, dass man das laut ausspricht.
Ein anderer Punkt war die geschichtliche Verbindung zum Leben meiner Großväter, die zusätzlich mein Interesse weckte. Beide hatten im Zweiten Weltkrieg gekämpft, einer bei der Wehrmacht, der andere in den Reihen der Waffen-SS. Ob der zweite freiwillig dieser Truppe beigetreten war, weiß ich nicht, mir hat er es nicht erzählt. Ich erfuhr auch erst nach seinem Tod davon. Er war ein großartiger Opa, ich mochte ihn gern. Er wohnte in Leipzig, kam aber fast jedes Wochenende zu uns aufs Land, zusammen mit Oma. Wir gingen dann oft eine Runde im Wald spazieren und redeten über Gott und die Welt. Er hatte eine Narbe am Arm, die stammte von einer Granatsplitterverletzung. Als ich ihn danach fragte, erzählte er vom Krieg. Ich fand die Geschichten spannend und hörte immer mit großen Ohren zu. Dagegen sprach der andere Opa selten vom Krieg, fast gar nicht. Von meinen Eltern weiß ich, dass er ganz normaler Landser war, kurz vor Kriegsende in Frankreich in Kriegsgefangenschaft geriet, aber bald entlassen wurde. Doch kaum hatte er die Heimat erreicht, der Krieg war vorbei, holte ihn die Rote Armee und steckte ihn für fünf Jahre in ein Arbeitslager. Was der Grund dafür war, hat er nie erzählt. Aber auf die Sowjets, die zu DDR-Zeiten ja unsere besten Freunde sein sollten, war er nie wieder gut zu sprechen.
Wie auch immer, dass ich solche Zeitschriften und Kleidungsstücke besaß, ist nicht zu leugnen, und auch nicht, dass man daraus Rückschlüsse auf eine politische Gesinnung ziehen könnte. In diesem Zusammenhang möchte ich aber Folgendes sagen: Ich verurteile Radikalismus und Extremismus, ob rechts, links oder in sonst einer Form, aufs Schärfste. Aufgewachsen in der DDR, einem diktatorischen Regime, war für mich, wie für Millionen andere, die Wiedervereinigung ein geschichtliches Ereignis, das uns Demokratie und Freiheit brachte – und genau dieses hohe Gut schwor ich zu verteidigen. Als Soldat war das für mich selbstverständlich und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert.
Doch weiter im Text: Bei der Hausdurchsuchung wurden außerdem sämtliche Kommunikationsgeräte und Speichermedien sichergestellt, die sich finden ließen. Da ich ein ziemlicher Ordnungsfanatiker bin und in den letzten 10, 15 Jahren nichts weggeworfen hatte, auch wenn die Geräte längst ausrangiert waren, kam einiges zusammen: sechs Mobiltelefone, vier Laptops, zwei Tablets, eine separate Festplatte, ein GPS-Gerät, diverse USB-Sticks und Speicherkarten. Der Nachteil dieser stattlichen Sammlung: Es dauerte ewig, bis alle Daten ausgewertet waren. Der Vorteil: Auf diese Weise mussten die Ermittler erkennen, dass ich in all den Jahren nicht mit irgendwelchen rechtsextremen oder sonstigen kriminellen Vereinigungen verbandelt war.
Eine heiße Spur vermuteten sie, als sie auf dem Handy, das ich zu dem Zeitpunkt benutzte, die Kontaktdaten eines Mannes fanden, der als Zivilist eine Schießausbildungsfirma samt Schießplatz betrieb und zugleich die Lizenz als Waffenhändler besaß. Ihm wurden, unter anderem, Kontakte zur Prepper-Chatgruppe Nordkreuz nachgesagt. Die Presse hatte darüber berichtet. Nicht zuletzt, weil ein hohes Tier aus der Landespolitik in Mecklenburg-Vorpommern, dort saß seine Firma, eine Pistole für die Jagd bei ihm gekauft hatte und sich als Schirmherr eines Special-Forces-Workshops einspannen ließ, den er einmal jährlich veranstaltete, wohl zusammen mit dem Landeskriminalamt. Dieser Workshop war Fortbildungsmaßnahme, Leistungsvergleich und Waffenmesse in einem. Vertreter von Waffenherstellern und Ausrüstungsfirmen liefen dort ebenso auf wie Ausbilder und andere Abgesandte verschiedener Polizeibehörden, einschließlich Bundes- und Zollkriminalamt, sowie mehrerer ausländischer Spezialeinheiten.
Tatsächlich kannte ich diesen Mann, aber nicht im Zusammenhang mit dem politischen Hintergrund. Ich hielt ihn für einen hervorragenden Ausbilder, hatte Jahre zuvor selbst an einer Schießausbildung teilgenommen, für die er vom KSK angefordert worden war. Einem Lehrgang auf dem Truppenübungsplatz Heuberg in Stetten am kalten Markt. Anschlagarten am Fahrzeug. Wie man aus einem fahrenden Fahrzeug schießt und wie beim Absitzen von einem Fahrzeug und beim anschließenden Ausweichen, unter Feindkontakt, also während man selbst beschossen wird – solche Sachen. Und nicht nur wir nutzten seine Expertise. Die Bundespolizei einschließlich der GSG 9, verschiedene Landespolizeibehörden und auch ausländische Spezialeinheiten griffen auf seine Dienste als Schießausbilder zurück, das österreichische Einsatzkommando Cobra zum Beispiel, selbst US-amerikanische SWAT-Teams.
Seine Kontaktdaten hatte ich mir besorgt, weil wir für die Waffenspezialisten unserer Trupps Fremdwaffenausbildung durchführen wollten. Als Fremdwaffen gelten all jene, mit denen die hiesigen Streitkräfte und Sicherheitsorgane nicht ausgerüstet sind, die anderer Länder aber schon – oder irgendwelche bewaffneten Gruppen dort. Sich damit auszukennen, sie warten und schießen zu können, machte bei Soldaten, die zu Auslandseinsätzen geschickt wurden, natürlich mehr als Sinn. Bei einem Einsatz konnte es immer passieren, dass einem gegnerische Waffen in die Hände fielen. Genauso wie es sein konnte, dass man die eigene Waffe einbüßte oder diese nicht mehr brauchbar war, sodass einem einzig die erbeutete blieb, um weiterkämpfen zu können.
Wir in Calw hatten zwar Fremdwaffen, sogar eine ganze Waffenkammer voll, die man für Ausbildungszwecke nutzen konnte, aber nicht, um damit scharf zu schießen. Auch anderswo bei der Bundeswehr standen dafür keine zur Verfügung, jedenfalls zu der Zeit nicht. Fürs Schießtraining hätten es Waffen mit Beschussstempel sein müssen, also vom Beschussamt, dem Waffen-TÜV, auf Funktionssicherheit geprüfte und zum Schießen freigegebene. In meinen Augen ein klares Manko. Die Waffen des Feinds zu kennen und auch zu wissen, wie sie funktionierten, bedeutete, den Feind besser zu verstehen.
Aber gut, die Aufgabe bestand also darin, eine solche Ausbildung auf die Beine zu stellen. Ich fing an, mich umzuhören und landete recht schnell bei ihm. Meines Wissens war seine Firma die einzige in Deutschland, die das Gesuchte anbot. Wenn all die anderen mit ihm arbeiteten, wir selbst auch, seit Jahren, dazu die Kontakte ins Landesministerium, zum BKA und wohin noch – nichts sprach gegen ihn. Wir telefonierten, tauschten uns über WhatsApp aus, schrieben Mails, ich ordnungsgemäß vom Dienstcomputer, womit alles sauber belegbar war. In Polen fand ich auch einen Anbieter. Am Ende wägte ich ab, welche Variante die beste wäre, was die Ausbildungsinhalte betraf, aber auch in Hinblick auf die Kosten und den logistischen Aufwand. Wir waren angewiesen, wirtschaftlich zu denken.
Schließlich ließ ich mir von ihm ein Angebot schicken. Die genaue Summe erinnere ich nicht, einige Tausend Euro, akzeptabel. Dann stiegen wir in die konkrete Planung ein. Die Schießbahn wollte ich organisieren, er sollte mit den Waffen und der passenden Munition anrücken. Wir verständigten uns darauf, unter anderem mit dem M16 zu schießen, einem US-amerikanischen Sturmgewehr, das in über 80 Ländern verwendet wurde. Außerdem mit dem russischen Scharfschützengewehr AK Dragunow. Und mit dem Sturmgewehr AK-74, ebenfalls ein russisches Fabrikat. Alle drei Modelle waren – sind – in Afghanistan und in Afrika verbreitet im Einsatz. Dazu sollte er verschiedene Pistolenmodelle mitbringen.
Wir befanden uns schon fast auf der Zielgeraden, auf einmal platzte alles. Seine politischen Verstrickungen flogen auf. Ob die Vorwürfe zutrafen, kann ich nicht beurteilen. Umgehend kam der Befehl, nicht mehr mit ihm und seinen Leuten zu trainieren. Also stellte ich den Kontakt ein. Mehr war da nicht. Dargestellt wurde es in einigen Artikeln, als liefere unser dienstlicher Austausch den unumstößlichen Beweis, dass ich in diesen Kreisen mit drinsteckte.
Wenn ich mir ein Etikett anheften müsste, dann am ehesten das eines Patrioten. Konservativ, kritisch, loyal – so würde ich mich beschreiben. Und wer mich kennt, wirklich kennt, wird das bestätigen. Die Vaterlandsliebe mag manchen antiquiert erscheinen, für mich ist es eine wichtige Größe. Ohne sie wäre ich nicht zur Bundeswehr gegangen, hätte nicht geschworen, meinem Land treu zu dienen. Kein Mensch schwört auf etwas, was er eigentlich ablehnt. Dem Land dienen zu wollen, das war für mich die soldatische Grundmotivation. Wo die herkam? Kann ich nicht sagen, sie war einfach da. Als die DDR aufhörte zu existieren, war ich 14. Hätte sie länger überlebt, ich wäre dort nicht zur Armee gegangen, eher wäre ich abgehauen. Obwohl: Die Heimat verlassen? Die Eltern? Die Großeltern? Das hätte ich wahrscheinlich nicht übers Herz gebracht. Umso schöner, dass die Wende kam und plötzlich alle in einem Deutschland leben konnten. Mit all den Vorzügen, aber auch Nachteilen. Alles hat eine Kehrseite. Trotzdem war da das Bedürfnis, diesem Land zu dienen. Schwer zu erklären. Ich stülpte mir das nicht über oder so, diese innere Einstellung kam von allein. Ich bin stolz auf unser Land, auf seine Errungenschaften – vielleicht deshalb das mit der Motivation. Und mir sind Werte wichtig, womit ich wie erwähnt in die Kategorie »konservativ« falle. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Sauberkeit, Ordnung – solche Tugenden sollten jungen Menschen mitgegeben werden. Keinem Kind schadet es, gewisse Orientierungspfeiler zu haben, die auch Grenzen festlegen. Das habe ich von zu Hause mitbekommen, und ich kann nichts Falsches daran erkennen. So ist das Leben. Es funktioniert nicht, wenn jeder macht, was er will. Und das kann man ruhig in der Schule schon lernen. Es braucht eine gewisse Grundordnung, damit das System funktioniert, Ziele erreicht werden. Bei uns waren Lehrer Autoritätspersonen, und die Eltern unterstützten sie. Wenn man Bockmist baute und ein Lehrer sich zu Hause beschwerte, dann gaben die Eltern ihm recht. Heute ist es genau umgekehrt. Wohin das führt, sieht man ja. Aber ich schweife ab.
Meine politische Verortung spielte dann auch im Gerichtsverfahren eine Rolle. Am besten, ich lasse das Urteil sprechen. Darin sind zu dem Thema folgende Aussagen von Zeugen wiedergegeben, auf die sich der Richter in der Urteilsfindung berief. Die erste Aussage stammt von einem Ermittler, die zweite von meinem letzten Kompaniechef, die dritte wieder von einem Ermittler:
Der erste Ansatz der polizeilichen Ermittlungsarbeit seien Umfeldermittlungen gewesen, um das Vorhandensein eines rechtsradikalen oder »Prepper«-Netzwerks (bundesweites Anlegen von Depots) und die potenzielle Beteiligung des Angeklagten daran nachzuweisen oder auszuschließen. Die Ermittlungen hätten keine Hinweise auf ein entsprechendes Netzwerk unter Beteiligung des Angeklagten ergeben.
Grundlagen gerade der Auslandseinsätze seien der parlamentarische Auftrag, der Traditionserlass und soldatische Tugenden wie Kameradschaft, die einen Einsatz trügen, sowie Traditionsbilder, innere Führung, historische Ausbildung, Staatsbürgerkunde. Auch spielten in der Ausbildung Operationen aus dem 2. Weltkrieg zu Ausbildungszwecken eine Rolle ... Die Herausbildung eines »Kriegerethos«, welcher bei einigen Kommandosoldaten in die politisch rechtsextreme Richtung tendiert sei, habe er [bei mir] nicht verzeichnet und hätte er auch nicht geduldet.
Insgesamt habe das Wohnhaus des Angeklagten aber nicht ansatzweise den Eindruck hinterlassen, den Beamte der Soko »Rex« [Sonderkommission Rechtsextremismus beim Landeskriminalamt Sachsen] etwa bei Durchsuchungen im rechtsradikalen oder extremistischen Milieu vorfinden.
Das rückte einiges gerade, änderte unterm Strich aber nichts am Hauptvorwurf, der war nicht aus der Welt zu schaffen. So sehr ich inzwischen bereute, was ich getan hatte, war es ein Teil meines Lebens, und dafür musste ich die Konsequenzen tragen. Das gehörte auch zu meinem Werteverständnis. Der Angeklagte war schuldig, ich war schuldig.
Das Urteil lautete: zwei Jahre Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf Bewährung. Das bedeutete, ich würde frei, aber nie wieder Soldat sein. Die Bewährungszeit endete im Frühjahr 2023. Ich erfüllte sämtliche Auflagen, ließ mir nichts zuschulden kommen. Kurz darauf heirateten Anna und ich. Das hatten wir schon länger vorgehabt, nun schien uns der Zeitpunkt richtig.
Ich sollte noch auflösen, wie die Sache mit der Munitionsamnestie ausging. Erstaunlicherweise wurde deutlich mehr zurückgegeben, als vorher vermisst worden war: über 46 000 Munitionsartikel, davon 90 Prozent Manöver- und Übungsmunition, der Rest Gefechtsmunition. Und längst nicht alle Losnummern, mit denen die Patronen gekennzeichnet waren, konnten noch eindeutig bestimmten Bundeswehrbeständen zugeordnet werden. Vielleicht war beides auch gar nicht so erstaunlich, bestätigte es doch nur, dass bei der Truppe nicht erst seit vorgestern diese Laissez-faire-Haltung in Bezug auf Waffen und Munition vorherrschte – und eben nicht nur bei einigen wenigen.
Ich habe viel darüber nachgedacht und manches dazu gelesen. Etwas Abstand hilft meistens, das eigene Tun objektiver zu betrachten. Irgendwo im Netz stieß ich auf den Artikel eines Bundeswehrobersts a. D., der sich mit dem ganzen Wirbel um das KSK befasste. Eine Passage fand ich besonders interessant. Darin stellte er die beiden Welten gegenüber, in denen man als Kommandosoldat lebte. Auf der einen Seite das Kasernendasein – er nannte es den »Friedensbetrieb« – in Calw, auf der anderen Seite der Kriegseinsatz in Afghanistan, nur als Beispiel. Dann dröselte er kurz auf, was das im Detail bedeutete. Hier zahllose Vorschriften, die nach engen, eben militärischen Maßstäben einzuhalten waren, während sich dort, im Einsatzland, alles darauf konzentrierte, im Kampf zu bestehen und unbeschadet in die Heimat zurückzukehren. Und auf den Umgang mit Munition bezogen: Hier der sorgfältige Nachweis möglichst jedes einzelnen Schusses in der Schießkladde. Dort der recht freihändige Umgang mit Waffen und Munition.
In diesem Punkt konnte ich ihm nur zustimmen. In Afghanistan, um dabei zu bleiben, zur Zeit meiner ersten Einsätze dort, war ein Teil der Munition verschlossen in Depots gelagert, sozusagen der Verteidigungsbedarf. Der Restbestand befand sich mehr oder weniger frei zugänglich in einem Container. Wenn man schießen wollte, also trainieren, ging man dorthin und holte sich, was man brauchte. Da wurde nichts ein- oder ausgetragen. Oder wenn es darum ging, die Bewaffnung auf den Autos zu überprüfen. Man fuhr in dem Land ständig über staubige Pisten, und Waffenöl und Staub sind nicht die beste Kombination, eher eine äußerst unvorteilhafte. Vermischte sich das eine mit dem anderen, konnte das eine Funktionsstörung an der Waffe verursachen. Für die Munition, die dabei eingesetzt wurde, führte niemand eine Liste. Es zählte einzig, dass man alles tat, um jederzeit einsatzbereit zu sein, man selbst und genauso die Ausrüstung und Technik.
Und nun kam hinzu, dass KSK-Soldaten nicht nur einmal im Auslandseinsatz waren, sondern immer wieder und nicht nur für ein oder zwei Wochen, sondern für Monate, jedenfalls die meisten von uns. Was den Oberst a. D. zu der Mutmaßung veranlasste, der dort gewohnte Umgang mit Waffen und Munition könnte mit der Zeit auf das Verhalten am Heimatstandort abgefärbt haben. Wenn man selbst in der Mühle drinsteckt, sieht man das vielleicht nicht. Doch ich schätze, er lag gar nicht so falsch damit.
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass mein Fall und alles, was seit der Abschiedsfeier an tatsächlichen und vermeintlichen Verstößen, einschließlich rechtsextremistischer Denke, beim KSK ans Tageslicht befördert wurde, für rege Betriebsamkeit im Bundesverteidigungsministerium sorgten. Der MAD, selbst nicht skandalfrei in dieser Geschichte (unter anderem schickte ein MADler Fotos vom Baggereinsatz auf meinem Grundstück an einen KSK-Kameraden), wurde umstrukturiert und bekam zusätzliche Stellen. Die damalige Verteidigungsministerin setzte eine Task Force ein, geleitet vom Generalinspekteur des Heeres, die einen Plan mit 60 Einzelmaßnahmen zur Neugestaltung des KSK erarbeitete. Allgemein ging es vor allem darum, interne Strukturen zu verbessern, die Dienstaufsicht zu verstärken, mehr geeignetes Personal zu finden und bei diesem ein staatsbürgerliches Bewusstsein auszuprägen. Künftig sollte es eine neue, vierte Stufe der Sicherheitsüberprüfung geben, die einen intensiveren Blick auf ein breiteres Umfeld des Kandidaten, also mehr als drei Personen wie bei Stufe 3, und häufigere Wiederholungen beinhaltete. Sämtliche Übungstätigkeiten und internationale Kooperationen wurden kurzfristig auf Eis gelegt, bestehende Einsatzverpflichtungen von anderen Bundeswehreinheiten übernommen. Wenn Letzteres so einfach möglich war, dann sagte das einiges über den Charakter der Einsätze, aber gut.
Ein anderer Punkt: Das KSK sollte stärker in die reguläre Bundeswehr integriert werden, insbesondere der Bereich Ausbildung. Der wurde der Infanterieschule im bayerischen Hammelburg und damit dem Ausbildungskommando des Heeres unterstellt. Interessanterweise wird die Ausbildung nun nicht etwa dort durchgeführt, abgesehen von einzelnen Lehrgängen, die es zuvor schon gab, sondern am »neu aufgestellten Ausbildungsstützpunkt Spezialkräfte Heer«, wie damals verkündet wurde. Dieser Ausbildungsstützpunkt befindet sich – wer hätte es gedacht? – in Calw, in der Graf-Zeppelin-Kaserne. Genau dort, wo all die Jahre das Ausbildungs- und Versuchszentrum mit seiner hochspezialisierten Infrastruktur seinen Standort hatte. Man könnte auch sagen: Altes Gefäß, neuer Name. Und 30 zusätzliche Dienstposten, die man vorher schon gern gehabt hätte. Und ein neues Verbandsabzeichen, nämlich das der Infanterieschule: zwei gekreuzte Schwerter auf rotem Grund, darunter ein großes weißes S – für Schule.
Zum angekündigten »eisernen Besen« gehörte schließlich auch, dass beim KSK ein neuer Kommandeur installiert und die 2. Kompanie Kommandokräfte, meine einstige Truppe, aufgelöst wurde. Und ich meine: wirklich aufgelöst, im Sinne von ausradiert. Wie eine schlechte Erinnerung. Heute gibt es in Calw eine 1., 3., 4., 5. und 6. Kompanie, aber keine 2. mehr.
Die 66 Kameraden, die es am Ende betraf, wurden nicht etwa durch neue ersetzt. Es fand eine Art Beerdigungsappell statt. Ich war nicht dabei, zu der Zeit saß ich bereits in Haft, aber ich ließ es mir später erzählen. Der oberste Chef, also der KSK-Kommandeur, es war noch nicht der neue, sondern der, der die Truppe zum gegenseitigen Denunzieren aufgerufen hatte, sprach ein paar salbungsvolle Worte: Das Kommando Spezialkräfte würde sich seit seiner Gründung mit Hingabe, Professionalität, individuellem und Team-Einsatz, oft auch mit persönlicher Entbehrung und Risiko dem Aufbau, der Gestaltung und dem Wirken ebendieses Kommandos widmen, um der politischen und militärischen Führung unseres Landes eine Handlungsoption zur Verfügung zu stellen … und das mit nachhaltigem Erfolg. Und stets gemeinsam. Überhaupt war ständig von »gemeinsam« die Rede. Gemeinsames Ziel … gemeinsam Hürden meistern … gemeinsam Rückschläge bewältigen … gemeinsame Werte … gemeinsames soldatisches Selbstverständnis … gemeinsam das Richtige tun … gemeinsam die Kompanie auflösen. Keine Silbe über den wahren Grund dieser Zeremonie. Nicht einmal unseres gefallenen Kameraden gedachte er. Wie wenig dieser Mann über die 2. Kompanie wusste, zeigte sich, als er zum Ende seiner kleinen Begräbnisansprache ein Zitat aus Goethes Faust II in die Runde warf und meinte, das sei unser Motto gewesen: »Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« Mag sein, dass dieser Spruch auf der Rückseite des Kompanie-Coins stand. Als Wahlspruch benutzt haben wir ihn nie. Unser Schlachtruf, der einzige, war »Glück – Ab!«, wie bei den Fallschirmjägern. Ein dreifaches »Glück – Ab!«, um genau zu sein.
Dieser Appell war die offizielle Begräbnisstunde. Beseitigt wurde aber auch alles andere, was an die Kompanie hätte erinnern können. Ehemalige Kameraden berichteten mir hinterher, wie das gesamte Kompaniegebäude auf links gedreht wurde. Es flog alles raus – Möbel aus dem Uffz.-Raum, sämtliche Erinnerungsstücke von Übungen und Einsätzen, mit denen wir die Wände dekoriert hatten, auch alle Fotos und Urkunden kamen in den Müll. Als wäre jedes einzelne Teil mit einer hochgiftigen Chemikalie kontaminiert gewesen. Wahrscheinlich hätten sie am liebsten den ganzen Block dem Erdboden gleichgemacht.
Ein Gedanke noch dazu: Als die Kompanie aus dem Dasein des KSK gelöscht wurde, ausgemerzt wie Ungeziefer, bestand rund die Hälfte des Personals bereits aus Kommandosoldaten, die erst nach der Abschiedsfeier aufgenommen worden waren, also als unbelastet gelten durften. Was eine zusätzliche Sicherheitsüberprüfung übrigens bestätigte, der alle zu diesem Zeitpunkt aktuellen Kompaniekräfte unterzogen wurden. Daher drängte sich die Vermutung auf, dass diese Auflösungsaktion in Wirklichkeit als symbolischer Akt zelebriert wurde, um gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit ein Zeichen zu setzen, den Spruch vom »eisernen Besen« anschaulich zu illustrieren.
Komplett verschwunden ist meine ehemalige Kompanie aus der KSK-Geschichte nun allerdings doch nicht. Im Zuge einer Transparenzoffensive, die zu meiner Zeit undenkbar gewesen wäre, wurde vor dem Eingang der Kaserne in Calw ein Besucherzentrum errichtet, für deutsche Verhältnisse in Rekordbauzeit. Bei der Eröffnung im September 2022 hieß es, damit sei nun auch der letzte Punkt des Reformprogramms umgesetzt. Um nicht den Eindruck zu erwecken, die neue Transparenz würde Kritisches verschweigen, wurde ein kleiner Bereich, eine Wandtafel, auffallend düster gestaltet, nur in Schwarz- und Grautönen. Als stamme das, was man dort zu sehen bekommt, aus einer Zeit, die eine Ewigkeit zurückliegt. Wie Schwarz-Weiß-Fernsehen. Überschrieben wurde das Ganze mit: »Schatten der Vergangenheit, Reformen für die Zukunft«. Darunter sind die Kopien von etwa einem Dutzend Zeitungsartikel zu sehen. In einigen geht es um meine Geschichte, worauf ich wahrlich nicht stolz bin. Dazu sind kleine Texttafeln angebracht – die ganze Wahrheit kann man darauf aber auch nicht lesen.