Wir standen auf dem Platz, wie Gott uns schuf, nur die Unterhosen durften wir anbehalten. In der Kaserne in Calw, vor dem Ausbildungs- und Versuchszentrum (AVZ), so hieß das damals. 80 Soldaten, zusammengewürfelt aus verschiedenen Einheiten und Truppengattungen im gesamten Bundesgebiet, die meinten, sie hätten das Zeug, bei der härtesten Truppe der Bundeswehr aufgenommen zu werden. Ich war einer von ihnen.
Auf dem Boden vor uns hatten wir, wie es uns befohlen worden war, unsere Kleidung und Ausrüstung ausgebreitet – Felduniform, Stiefel, Rucksack, Feldkoppel mit Magazintasche, Wasserflaschentasche, ABC-Maskentasche, Klappspatentasche. Der Rucksack war gefechtsmäßig gepackt, mit Schlafsack, Isomatte, Poncho, Regenschutz, Wechselwäsche und so weiter. Außerdem hatte jeder eine Waffe erhalten, ein G3-Schnellfeuergewehr. Zwar gab es schon das G36, das Sturmgewehr, das das G3 als Standardwaffe bei der Bundeswehr ablöste, doch das wäre knapp ein Kilo leichter gewesen. Und es uns leichter zu machen, das war nicht die Aufgabe, im Gegenteil. Aus diesem Grund wurden auch die Rucksäcke gewogen. War alles drin, was reingehörte und reindurfte, brachte er zwanzig Kilo auf die Waage. Hätte einer geschummelt, sein Gewicht reduziert, und wäre dabei erwischt worden, wäre er raus gewesen, noch bevor es richtig anfing. Medikamente, irgendwelche Powerriegel oder Zigaretten, das war alles nicht erlaubt, nur die definierte Ausrüstung und man selbst. Die Reduktion auf das Wesentliche: den Körper und die Aufgabe. Gut, der Geist sollte dann auch gefordert werden, auf eine spezielle Art.
Wer dort auf dem Platz angetreten war, hatte den ersten Teil des Eignungsfeststellungverfahrens bereits hinter sich. Heute heißt es nicht mehr Eignungs-, sondern Potenzialfeststellungsverfahren. Die Abläufe wurden über die Jahre etwas geändert, die eigentlichen Herausforderungen, denen sich die Kandidaten letztlich stellen müssen, sind im Großen und Ganzen jedoch gleich geblieben. Der Hauptunterschied zu meiner Zeit besteht darin, dass nach dem ersten Teil ein Vorbereitungsprogramm eingeführt wurde, bei dem die Teilnehmer gezielt das trainieren, was sie im zweiten Teil zu bewältigen haben. Einschließlich der Abläufe und welche Aufgabe dem Einzelnen in bestimmten Situationen zufällt. Man hat dann praktisch einen Plan, muss sich nicht erst an Ort und Stelle Gedanken machen, wie man etwas bewerkstelligt. Das kann hilfreich sein. Die Frage ist, ob es wirklich besser ist, vorher zu wissen, was einen erwartet – vor allem für den Kopf.
Dieses Vorbereitungsprogramm läuft über zehn Wochen. Offiziell heißt es, dadurch würden es mehr Bewerber zum KSK schaffen. Angeblich kommen im Schnitt statt der zehn Prozent, die es früher waren, nun zwanzig Prozent durch. Vielleicht stimmt das inzwischen, ich habe es nicht so erlebt. Dass nach wie vor in Calw Nachwuchsmangel herrscht, spricht wohl auch eher dagegen.
Der erste Teil des Eignungsfeststellungsverfahrens war recht geschmeidig verlaufen, verglichen mit dem, was uns noch erwartete. Ein paar Sporttests, bei denen einem nichts Außergewöhnliches abverlangt wurde, zum Beispiel acht Klimmzüge. Man solls nicht glauben, aber manche schafften nicht einmal die. Eine Runde auf der Hindernisbahn wurde bestimmt auch gefordert, die musste man ohnehin im Schlaf draufhaben. Sonst war noch ein Schwimm-Check dabei, 200 Meter in maximal sechs Minuten. Oder so ungefähr. Und man musste seine Fallschirmsprungtauglichkeit unter Beweis stellen, indem man einen kleinen Free Fall von einem 12 Meter hohen Sprungturm hinlegte. Ein bisschen wie Bungee-Jumping. Man war an einem Seil befestigt, sprang aber erst einmal ins Leere.
Dann der berühmte CAT-Test, bei dem man an einen Computer gesetzt wurde und viele schlaue Fragen beantworten sollte. Ob der damals schon adaptiv angelegt war, also dass bei einer richtig beantworteten Frage die nächste etwas schwieriger ausfiel und umgekehrt bei einer falsch beantworteten etwas leichter, erinnere ich nicht mehr. Abgefragt wurden verschiedene Themenbereiche: Rechenaufgaben, die man ohne Taschenrechner knacken musste, logisches Denken, Rechtschreibkenntnisse, Wortanalogien, Allgemeinwissen. Für die Antworten blieb nur eine bestimmte Zeit, sodass man nicht stundenlang herumrechnen oder nachdenken konnte. War nicht ohne, aber machbar, zumal je nach Themenbereich ein Drittel bis die Hälfte der Antworten falsch sein durften. Wer das nicht hinbekam, wurde aussortiert.
Mehr Zeit nahmen sich die Psychologen vom psychologischen Dienst des KSK, die bei Einzelgesprächen und Rollenspielen in der Gruppe in unser Inneres vorzudringen versuchten. Bei einem dieser Spielchen ging es um die Frage, wie man als stolzer Besitzer eines nagelneuen Autos reagierte, wenn ein Kumpel darum bitten würde, ihm das noch kratzer- und beulenfreie Prachtstück zu leihen. Für manche schien das eine schwierige Entscheidung zu sein. Ich brauchte vielleicht fünf Sekunden, dann drückte ich dem Psychologen, der den imaginären Kumpel mimte, den Autoschlüssel in die Hand. Er guckte ziemlich verdutzt, als hätte er noch nie jemanden erlebt, für den das kein großes Thema war.
In den ersten Testteil integriert war die sogenannte Kuschelwoche: Orientierungsmärsche und Leben im Felde. Dafür zogen wir auf den Standortübungsplatz oben auf dem Muckberg. Dort hatte sich jeder als Unterschlupf ein Schrägdach zu bauen, was nichts anderes war als eine mithilfe von Schnüren zwischen Bäumen aufgespannte Poncho-Plane, unter der man notdürftig vor Niederschlag geschützt war. Und die eine gewisse Tarnung ermöglichte. Ich glaube, ich hatte noch nicht erwähnt, dass das Ganze im Frühjahr stattfand. Es müsste März oder April gewesen sein. Das Wetter war jedenfalls verdammt aprilig.
Sie schickten uns täglich auf einen Marsch, in voller Gefechtsausrüstung, anders hätte es für Soldaten auch keinen Sinn gemacht. Marschieren und orientieren, das war die große Überschrift. Die weiteste Strecke und zugleich den Höhepunkt bildete ein Fünfzigkilometermarsch, angelegt als Orientierungsmarsch. Und als Einzelmarsch. Das heißt, jeder hatte die Distanz allein zu bewältigen, man durfte sich gegenseitig nicht unterstützen. Wir starteten mit Abstand und von verschiedenen Punkten, manchmal kreuzten sich die Wege. Man hatte eine bestimmte Anzahl an Stationen abzulaufen. An jeder bekam man einen Stempel, und am Ende hatte man es nur geschafft, wenn kein Stempel fehlte. Die Zeit, in der das Ziel spätestens erreicht sein musste, war vorgegeben. Dass uns zwischendurch niemand zu einer üppigen Beköstigung einlud, versteht sich von selbst. Die Trinkflasche mit Wasser musste genügen. Aber 50 Kilometer waren nun auch keine Strecke, die einen umgebracht hätte. Wenn ich mich richtig erinnere, ist kaum einer ausgeschieden, höchstens durch eine Verletzung. Kuschelwoche eben.
Danach wurde uns eine Woche Pause zugestanden, die man mit dem verbringen durfte, was einem am Sinnhaftesten erschien. Die meisten nahmen sich frei, machten Urlaub. Nur essen, trinken, schlafen. Ich auch. Wer bis dahin körperlich nicht fit war, hätte das in einer Woche ohnehin nicht ändern können. Eine gewisse Grundkondition sollte allerdings bei allen Kandidaten vorhanden gewesen sein. Zu den Zulassungsbedingungen gehörte, dass man vorher in seiner Stammeinheit den bundeswehrüblichen Fitnesstest absolviert und bestanden hatte, bestätigt vom Kompaniechef. Damals war das der PFT – Physical Fitness Test mit Pendellauf, Liegestütze, Standweitsprung, Sit-ups, Ergometer- und Cooper-Test. Bei diesem musste man versuchen, in 12 Minuten so viel Strecke wie möglich hinter sich zu lassen. Später wurde der PFT durch den BFT ersetzt, den Basis-Fitness-Test, der nicht unbedingt anspruchsvoller war.
Um überhaupt als Bewerber fürs KSK in Betracht zu kommen, musste man von seiner Stammeinheit kommandiert werden. Ich kam vom Gebirgsjägerbataillon 571, das in Schneeberg/Sachsen stationiert war. Eine große Kaserne aus frühen DDR-Zeiten, die inzwischen längst nicht mehr als solche genutzt wird. Dass ich einmal Berufssoldat werden würde, war nicht unbedingt abzusehen, obwohl ich immer neugierig zuhörte, wenn mein Vater von seiner Zeit bei der NVA erzählte, der Nationalen Volksarmee. Oder meine beiden Großväter vom Krieg. Nach der Schule wurde ich erst einmal Isolierer. Nicht mein Traumberuf, einfach nur ein Beruf. Jedenfalls war ich nicht unglücklich, als eines Tages der Einberufungsbescheid im Briefkasten lag. Damals gab es noch die Wehrpflicht, man musste für 12 Monate einrücken. Oder verweigern. Aber sich zu drücken, war für mich keine Option. Endlich kam ich mal raus und erlebte ein bisschen Abenteuer. In der Grundausbildung wurden wir ordentlich rangenommen. Infanterie. Hartmannsdorfer Forst, zu der Zeit noch ein großer Standortübungsplatz, in traumhafter Natur. Und dann hat es mich ziemlich schnell erwischt: Die Kameradschaft, der Zusammenhalt, das gemeinsame Erlebnis – so was kannte ich nicht. Und erst das Schießen und mit Handgranaten zu werfen, keine Frage, das war was für einen jungen Burschen wie mich. Nach ein paar Monaten spielte ich mit dem Gedanken, in Schneeberg zu bleiben und Soldat auf Zeit zu werden. Insofern rannte unser Spieß offene Türen ein, als er gegen Ende meiner Dienstzeit mit der Frage kam, ob ich nicht vier Jahre verlängern wolle. Ich schlief eine Nacht darüber, hätte aber auch sofort unterschrieben. Ich war gern Soldat.
Also Unteroffiziersschule. Das Allgemeinmilitärische in Delitzsch, das liegt in Sachsen, in der Nähe von Leipzig. Die Spezialisierung an der Gebirgs- und Winterkampfschule in Mittenwald bei Garmisch-Partenkirchen – das Bergtechnische, Kampf im Hochgebirge. Eins anstrengend, das andere noch anstrengender. So anstrengend, dass ich mich manches Mal fragte, warum ich mir das antat. Obwohl es durchaus seinen Reiz hatte, bis an seine Grenzen getrieben zu werden. Erst später begriff ich, wie wichtig harte Ausbildung ist. Dass sie dazu beiträgt, auch dann stark zu sein, durchzuhalten, wenn es noch dicker kommt. Und gelassener mit Herausforderungen umzugehen. Wenn man weiß, dass man etwas kann, etwas wirklich beherrscht, sein Potenzial kennt, kann einen so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Das ist nicht nur beim Militär so.
An der Uffz.-Schule in Delitzsch war es auch, wo ich das erste Mal mit dem Thema KSK konfrontiert wurde. Einer der Ausbilder, absolut korrekt und körperlich leistungsfähig, fragte, ob ich nicht Lust hätte, zu der Spezialeinheit zu gehen, die sie da in Calw aufgestellt hätten. Körperlich hätte ich das Zeug dazu. Ich wusste von der Truppe, und dass die Jungs dort für geheime Operationen ausgebildet wurden. Allein die Frage und dass er mir das zutraute, waren das größte Lob. Aber ich hatte nicht einmal den Unteroffizier in der Tasche, also schob ich den Gedanken beiseite. Wieder in Schneeberg, bekam ich einen Zugführer, der das Eignungsfeststellungsverfahren in Calw mitgemacht, aber nicht bestanden hatte. Er lieferte Informationen aus erster Hand. Und die hörten sich an, als könnte es mir dort gefallen. Anders gesagt: Ich war angefixt. Die Vorstellung, eine spezielle Ausbildung zu bekommen, nicht nur das zu machen, was jeder machte, zu einer besonderen Truppe zu gehören, das reizte mich. Jetzt blieb der Gedanke in meinem Kopf. Einige Zeit später wollte es der Zufall, dass ein Oberfeldwebel zu uns versetzt wurde, der direkt vom KSK kam, dort einige Jahre gedient hatte. Ein Schwarzer mit afrikanischen Wurzeln. Er war in derselben Gegend aufgewachsen wie ich. Wir verstanden uns auf Anhieb. Von ihm erfuhr ich noch mehr über die geheimnisvolle Truppe, über die Ausbildung und zu welchen Einsätzen sie losgeschickt wurde. Er war mit dabei, als sie im Kosovo Kriegsverbrecher aufspürten und festsetzten. Details durfte er nicht verraten, trotzdem führten die Gespräche mit ihm dazu, dass aus dem abstrakten Gedanken in meinem Kopf, ich könnte es vielleicht versuchen, ein konkreter Plan entstand.
Zu der Zeit hatte ich selbst schon Auslandseinsätze absolviert, war im Zuge der KFOR-Friedensmission im Kosovo gewesen, in Mazedonien und Albanien. Allerdings waren das reine Stabilisierungseinsätze. Zum Beispiel die Sicherung eines Lagers. In Albanien war es ein Hafen. Solche Aufgaben mögen wichtig gewesen sein, und doch kamen sie mir als Soldat wie verlorene Zeit vor. Wir hatten nie gekämpft, niemanden befreit oder gerettet.
Jedenfalls fing ich an, intensiver zu trainieren. Ich hatte vorher schon regelmäßig Sport gemacht, jetzt steigerte ich das Pensum. Einer unserer Zugführer hatte auch die Idee, sich in Calw zu bewerben. Wir waren nicht best buddies , irgendwie standen die unterschiedlichen Dienstgradebenen zwischen uns, er war Leutnant. Aber wir hatten ein gutes Verhältnis, motivierten uns gegenseitig. Ich ging jeden Abend laufen, mindestens eine Stunde, und danach in die Sporthalle, um an meiner Kraftausdauer zu arbeiten. Marschieren hätte ich auch trainieren sollen, aber Märsche standen ohnehin auf dem Programm, für alle. 30 Kilometer waren die übliche Distanz, 50 kamen auch mal vor. Immer in Felduniform und Stiefeln, mit Rucksack, die standardmäßigen 20 Kilo. Deshalb vernachlässigte ich diesen Punkt, konzentrierte mich stärker auf das andere. Sport weckte schon als Kind meinen Ehrgeiz, solange kein Turnen verlangt wurde. Nun hatte ich noch dazu ein klares Ziel. Beim Laufen kamen mir Bilder in den Kopf, wie es sein würde, wenn ich es schaffte. Ich sah mich mit einem Team im Hubschrauber irgendwohin fliegen … und wie wir uns aus der Höhe abseilten, um Geiseln zu befreien. Das Besondere schaffen, Menschen retten, dem Land dienen, als richtiger Soldat – das war es, was mich einen Kilometer nach dem anderen laufen ließ, jeden einzelnen Tag.
Wer also den ersten Teil des Eignungsfeststellungsverfahrens bestanden hatte, durfte nach der einwöchigen Pause zum zweiten Teil auflaufen – der sogenannten Höllenwoche. Womit ich wieder auf dem Platz vor dem Ausbildungs- und Versuchszentrum in der Kaserne in Calw wäre, wo wir halb nackt zusehen durften, wie unsere Kleidung und Ausrüstung einer genauen Kontrolle unterzogen wurden. Bevor es von dort auf die Reise ging, gab es eine letzte Belehrung, mit der wir an die wichtigsten Regeln erinnert wurden. Die allerwichtigste war, mit meinen Worten: Wer bescheißt, fliegt! Ansonsten ging es darum, dass wir jederzeit beobachtet und beurteilt würden. Dass permanent Ärzte und Sanitäter in unserer Nähe seien, die bei kritischen Situationen sofort eingreifen würden. Aber auch, was zu tun war, falls einer das Handtuch werfen wollte. Dafür hatte jeder eine Karte bekommen. Wer die einsetzte, also aufgab, wäre raus aus dem Spiel. Träfe einer der Ärzte die Entscheidung, man müsse aufhören, aus medizinischen Gründen, könne man zu einem späteren Zeitpunkt erneut antreten. Würde man jedoch selbst beschließen, nicht mehr weiterzumachen, also die Karte abgeben, bekäme man keine zweite Chance. Das waren, im Groben, die Rahmenbedingungen, sie gelten heute noch.
Dann verfrachteten sie uns in olivgrüne Bundeswehrbusse, jeweils 40 Mann in einen. Die Fahrt ging zum Truppenübungsplatz Baumholder in der Nähe von Idar-Oberstein, rund 200 Kilometer Strecke. Normalerweise wäre das Ziel näher gewesen, quasi um die Ecke, irgendwo im Schwarzwald. Und nicht auf militärischem Grund. Doch damals fing es bei uns gerade mit der Rinderseuche BSE an, die ersten eigenen Fälle waren nachgewiesen worden. Deswegen sollten wir uns nicht durchs freie Gelände schlagen.
Es war noch hell, als wir Baumholder erreichten. Und es ging direkt los. Aus den 80 Teilnehmern wurden acht Zehnergruppen gebildet (insgesamt gab es in dem Jahr 160 Bewerber, die in zwei Durchgänge zu jeweils 80 Mann aufgeteilt wurden). Vielleicht waren die Gruppen auch vorher schon festgelegt worden, so was vergisst man. Jede bekam zwei Ausbilder zur Seite gestellt, die sie begleiteten, als Beobachter. Und eine alte Munitionskiste aus Holz, die sich leider nicht allein fortbewegte, sondern getragen werden musste. In der Kiste befand sich ein Funkgerät ähnlich musealen Alters. Die ganze Fracht wog zusammen ungefähr 20 Kilo. Durch das dauernde Rucksackschleppen konnte man das ganz gut schätzen. 20 Kilo klingen an sich nicht so unfassbar viel, aber die kamen jetzt noch obendrauf. Wir suchten uns einen Holzstamm, 10, 15 Zentimeter im Durchmesser, um die Kiste daran »aufzufädeln«, damit zwei sich das Gewicht beim Tragen teilen konnten.
Noch bevor wir uns in Bewegung setzten, versuchte einer der Ausbilder, uns den Schneid abzukaufen, indem er etwa sagte: »Überlegt es euch noch mal! Wer will, kann hier schon seine Karte ziehen. Ist kein Problem, dann braucht er sich den Rest nicht anzutun.«
Woraufhin einer aus unserer Gruppe lostönte, der Ausbilder könne gern alle unsere Karten einsammeln und verbrennen, von uns würde niemand aufgeben. Vielleicht wollte er ein wenig Eindruck schinden oder einfach nur zeigen, dass er fest entschlossen war, die Ziellinie zu erreichen. Oder es war seine Art, sich selbst Mut zu machen.
Solche und ähnliche Sprüche hörten wir unterwegs noch öfter von unseren Begleitern, sie waren Teil des Programms. Kleine Psychotricks, um zu sehen, ob wir uns davon im Kopf mürbe machen ließen.
Wir liefen in Zweierreihe los, die beiden mit der Kiste samt Funkgerät vorneweg. Einer von uns musste die Gruppe führen. Der Auserwählte war dafür zuständig, dass wir den richtigen Weg fanden und keinen der Checkpoints ausließen, die wir nacheinander anzulaufen hatten. Außerdem musste er darauf achten, dass alle in der Gruppe zurechtkamen, Stichwort Fürsorgepflicht. Und es war sein Job, den Wechsel bei der Kistenschlepperei zu organisieren – hundert Doppelschritte, dann waren die nächsten an der Reihe. Die zwei, die sie vorher getragen hatten, wechselten ans Ende unserer kleinen Marschformation, sodass die Lastenschlepper immer an der Spitze liefen.
Auch der Gruppenführerposten wurde nach einer gewissen Zeit umbesetzt, damit jeder drankam und vom Begleitpersonal in dieser Rolle begutachtet werden konnte. Das wurde separat bewertet. Zum Beispiel, ob jemand nur Kommandos gab oder sich auch selbst mit einbrachte. Führen durch Vorbild, heißt es bei der Bundeswehr. Was ich von meiner Gruppe erwartete, sollte ich selbst auch bringen, idealerweise mehr.
Das Stück bis zum ersten Checkpoint verlief ohne besondere Vorkommnisse, eher unspektakulär. Noch waren die Kräfte frisch. Man setzte einen Schritt vor den anderen. Wie weit die Strecke war? Das blendete ich aus, von Anfang an. Vielleicht waren es nur 500 Meter, vielleicht 2000. Es war Montag, und wir wussten, dass es erst am Freitag ein Ende haben würde. Bis dahin durchhalten, das war das Einzige, worauf es ankam. Warum sollte ich mich damit verrückt machen, dass insgesamt 200 Kilometer vor uns lagen? Fußkilometer. Das hatten sie uns gesagt, und so wird es auch gewesen sein. Nur: Ständig daran zu denken, hätte mich nicht stärker gemacht. Wenn überhaupt, dann wollte ich die Tage abhaken, nicht die Kilometer. Ob die anderen auf die gleiche Weise herangingen, weiß ich nicht. Wir waren als Gruppe unterwegs, sprachen miteinander, halfen uns gegenseitig, aber durchhalten musste man letzten Endes ganz allein.
Unser vorlauter Kamerad, der am Anfang seine und unsere Karten verbrennen lassen wollte, fing bereits auf dem ersten Stück an, unrund zu laufen. Als ich das merkte, fragte ich ihn, was los sei. Es ginge ihm nicht gut, meinte er, aber er würde das schon packen. Überzeugend klang das nicht. Er schleppte sich bis zum zweiten Checkpoint, nahm auch den dritten Abschnitt in Angriff, brach dann aber völlig ein. Damit er es überhaupt bis zur Station schaffte, mussten wir seinen Rucksack für ihn tragen. Das wurde aber nur erlaubt, weil klar war, dass er aufgeben würde – was er dann auch tat, sichtlich enttäuscht von sich und der Welt. So endeten Träume.
Für einen Abgang, der offenbar weniger deprimiert wirken sollte, entschied sich ein anderer aus unserer Gruppe. Von ihm wusste ich, dass er eine absolute Sportskanone war, erfahrener Triathlet, trainiert bis in den letzten Muskel. Wie gesagt, um die Kilometer kümmerte ich mich nicht, aber allzu weit waren wir noch nicht gekommen, als er auf einmal verkündete, er höre jetzt auf, das sei ihm alles zu lasch. Sehr glaubwürdig nach der kurzen Strecke. Auf jeden Fall fiel dadurch ein Pärchen fürs Kistenschleppen weg, wir anderen mussten einmal öfter ran.
Wir liefen und liefen … und liefen und liefen. Stupides Marschieren, kaum Abwechslung. Und wieder nur der Inhalt der Trinkflasche als Marschverpflegung. Immerhin konnten wir sie an jedem Checkpoint neu auffüllen. Zu essen gab es erst einmal nichts. Inzwischen war es längst dunkel. Oder schon wieder hell? Kein großer Unterschied, im Wald noch weniger. So oder so war es kalt. Und nass war es und windig, räudiges Aprilwetter, wie man es kaum übler erwischen konnte. Schlaf wollten sie uns so richtig auch keinen gönnen, höchstens zwischendurch kurz ein Stündchen, im Sitzen, die Rücken aneinandergelehnt, um sich nicht den Arsch abzufrieren – oder wie es militärisch korrekt hieß: um den Wärmeerhalt durchzuführen.
Bald kamen Stationen, an denen wir bestimmte Aufgaben zu bewältigen hatten. An einer der ersten, wir erreichten gerade eine Lichtung hinter einem Waldstück, warteten sie mit einem dieser typischen Bundeswehrschlauchboote auf uns. Da passten zehn Mann rein. Wir sollten aber nicht übers Wasser paddeln – zumindest noch nicht, da war auch keins –, sondern unsere Rucksäcke reinpacken und das Schlauchboot tragen. Beziehungsweise balancieren, was nicht so einfach war. Einmal wegen des Gewichts. Das Ding war verdammt schwer. Und dann noch die Rucksäcke dazu. Zum anderen, weil wir unterschiedlich groß waren. Griffe hatte das Boot keine, nur ein Seil um den oberen Rand herum. Um die Sache noch schwieriger zu gestalten, durften wir es auf dem Weg nicht absetzen. Andernfalls hätten wir zum Ausgangspunkt zurückgemusst. Es dauerte aber auch so eine gefühlte Ewigkeit, bis wir den kleinen Teich erreichten, den sie uns als Ziel vorgegeben hatten. Dort sollten wir dann doch noch eine kurze Bootsfahrt unternehmen, um zum anderen Ufer überzusetzen.
Einige Kilometer weiter war es ein großer Traktorreifen, der einen Hügel hinaufgerollt werden sollte. Und später ein gewaltiger Baumstamm, den es im Team von A nach B zu schleppen galt, auch dieser Weg führte recht steil nach oben. Unsere Rucksäcke blieben im Unterschied zur Aufgabe mit dem Schlauchboot am Mann. Nicht zu vergessen die Waffen. Und die Munitionskiste mit dem Funkgerät war auch noch da. Als zusätzliches Gepäck, für den Kopf, gaben sie uns am Start eine Rechenaufgabe, die wir bis oben gelöst haben mussten, sodass neben der Muskelkraft auch das Hirn gefordert war.
Ob Schlauchboot, Reifen oder Baumstamm, bei all diesen Prüfungen wurde jeder von uns genau unter die Lupe genommen. War er teamfähig? Hielt er sich zurück oder brachte er sich voll mit ein? Ging er vielleicht sogar voran und motivierte die anderen auf diese Weise? Manche versuchten sich bei solchen Übungen zu schonen. Andere hängten sich doppelt rein, was jedoch nicht zwangsläufig bedeuten musste, dass sie es fürs Team taten. Es konnte auch sein, dass jemand damit nur selbst glänzen, sich in den Vordergrund rücken wollte. All das versuchten die Psychologen und Ausbilder aus dem herauszufiltern, was sich vor ihren Augen abspielte. Das Ergebnis ihrer Beobachtungen erfuhr man nicht sofort. Manche schafften den Marsch, wurden hinterher aber trotzdem aussortiert, weil die Psychologen sie nicht für teamfähig hielten.
Ein Verwundetentransport durfte bei dem Marsch natürlich nicht fehlen. Statt einer verletzten Person lagen Sandsäcke auf der Trage, die vom Gewicht her zwei Personen hätten sein können. Auf diesem Abschnitt schwächelte der Nächste. Abwechselnd übernahmen die anderen seinen Rucksack, womit klar war, dass wir wieder einen Mitstreiter verlieren würden. Dabei wäre ich selbst ein Kandidat für die Trage gewesen. Durch die permanente Zusatzbelastung waren meine Füße – und nicht nur meine – inzwischen voller Blasen. Auch das kontrollierten die Ausbilder. Sie ließen sich die frisch erworbene Luftbereifung vorführen. Man musste also seine Stiefel ausziehen, obwohl es das Letzte war, was man wollte – weil es hinterher nur noch schlimmer wehtat. Immerhin bekamen wir Pflaster und Fußpulver, um uns notdürftig zu verarzten. Das fiel auch nicht unter unerlaubte Erleichterung. Bei einem echten Einsatz hätte jeder so was dabei.
Für die Reihenfolge, wann wir welche Station anliefen, kann ich mich nicht verbürgen. Man marschierte stoisch vor sich hin und wusste nie, was einen als Nächstes erwartete. Tagsüber und genauso nachts. Aus meiner Sicht war das gut so. Sonst hätte man sich vorher schon Gedanken gemacht und im Kopf alle möglichen Szenarien durchgespielt, was einem nur unnötig Kraft geraubt hätte.
Irgendwann hieß die Einlage, die zu absolvieren war, Eilmarsch. An der Station begrüßte uns ein Oberstabsfeldwebel, der später einer meiner Ausbilder wurde. Ein absolut korrekter Typ, objektiv im Urteil, behandelte jeden gleich. Und ein Wissen hatte er – gigantisch, man war immer wieder beeindruckt. Das wusste ich an dem Tag natürlich noch nicht. Genauso wenig, dass er früher Leistungssportler war, Geher. Als er uns erklärte, wie der Eilmarsch ablaufen sollte, dass er die Spitze übernehmen würde, um das Tempo vorzugeben, dachte ich: Okay, ein alter Mann, das wird schon nicht so heftig werden.
Dann stiefelten wir los. Es war dunkel. Der Oberstabsfeldwebel machte lange Schritte, er war groß – solche Geherschritte, die etwas merkwürdig aussehen, weil das Knie des vorderen Fußes beim Aufsetzen durchgestreckt wird, so läuft sonst keiner. Kann sein, dass mir ein Schmunzeln im Gesicht stand, als ich das sah. Wenn es so war, dann ist mir das Schmunzeln garantiert schnell vergangen. Er legte ein Tempo vor, dass ich mich nach wenigen Schritten schon fragte, wie ich das durchhalten sollte.
Meine Füße brannten, ich war hungrig und völlig übermüdet … in dieser Verfassung konnte man nur den Kopf abschalten, das Gehirn ausknipsen. An nichts denken, einfach nur laufen. Entweder man schafft es, oder man fällt um. Aber nicht mal diesen Gedanken erlaubte ich mir.
Irgendwie schaffte ich es, an unserem Vorgeher dranzubleiben. Dagegen hatte einer meiner Mitstreiter mächtig Mühe. Am Ende der Gruppe lief ein anderer Ausbilder mit einem roten Licht. Die Schlusslaterne. Hinter dieses Licht durfte man nicht zurückfallen, sonst wurde man vom Spielfeld genommen. Bevor es bei unserem Kameraden kritisch wurde, hakten wir ihn unter und zwangen ihm unser Tempo auf, was nur gut gemeint war. Zu dem Zeitpunkt hatte sich unsere Gruppe bereits stark dezimiert. Und es drohte ein weiterer auszufallen, ein Oberleutnant, dem durch das Tragen von Rucksack, Munitionskiste und Gewehr die Arme eingeschlafen waren. Er konnte mit seinen Händen nichts mehr machen, nicht einmal das Gewehr greifen, das mussten wir ihm umhängen. Aber er hatte Biss und bewies unglaublichen Willen, lief weiter.
Als wir den nächsten Checkpoint erreichten, waren noch vier von uns im Rennen. Vier Mann und eine Munitionskiste, die sich mittlerweile doppelt und dreifach so schwer anfühlte. Zu meiner Überraschung zückten an der Station zwei aus unserer Minigruppe ihre Karte. Damit blieb nur noch ein Duo übrig. Und nicht einmal die Hälfte der Strecke war geschafft.
Die anderen Gruppen waren bis zu der Stelle ähnlich stark geschrumpft. Die Restkräfte fanden sich an einem Sammelpunkt ein. Dort wurden neue Teams zusammengestellt. Ab da waren nur noch ganze zwei im Rennen – pro Team acht Mann. Vielleicht auch zehn, aber nicht mehr. Jedes Team bekam wieder zwei Ausbilder als Observer zugeteilt. Falls der Eindruck entstanden sein sollte, diese hätten die gleiche Wegstrecke absolviert wie wir, dann ist das falsch. Die Jungs hatten eindeutig den besseren Job. Sie wechselten sich gegenseitig ab, sodass sie ausreichend Schlaf bekamen und immer frisch und ausgeruht zu den Gruppen stießen.
Uns dagegen muteten sie maximalen Schlafentzug zu. Eine kurze Ruhephase früh am Morgen musste an den meisten Tagen genügen. Und mit Lebensmitteln wurden wir auch nicht verwöhnt. Ich erinnere mich an eine einzige längere Pause, in der es für jeden einen Verpflegungsbeutel gab, zwei Scheiben Brot, Butter, Wurst, Käse, Marmelade. Und Panzerkekse. Der klassische Gruß aus der Bundeswehrküche, verpackt in einer weißen Plastiktüte. Das Brot stopfte ich mir ohne alles rein, als wären nur fünf Sekunden Zeit geblieben, bevor es sich in Luft aufgelöst hätte. Früher schmierte mein Vater mir immer dick Butter aufs Brot. Er meinte es gut, aber ich mochte das nicht. Daran musste ich denken, als ich in dieser Pause in meinem Schlafsack lag, irgendwo im Wald, unter einem Schrägdach, das sich jeder hatte basteln müssen. Ich nahm das kleine Stück Butter, wickelte es aus dem Papier und lutschte genüsslich daran, als hätte ich das leckerste Eis in der Hand. Dabei hatte sich nicht etwa mein Geschmack geändert, ich dachte einfach nur: Butter ist Fett und Fett ist Energie. Und genau die brauchte ich jetzt, um das hier durchzustehen.
Irgendwann hatte jeder einen Tiefpunkt, mindestens einen. Bei mir kam er in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Schwer zu beschreiben. Der Körper ist ausgelaugt, die Müdigkeit macht einen benommen, die Beine bewegen sich mechanisch. Man läuft wie durch einen Tunnel, lässt alles über sich ergehen, als könnte einem nichts auf der Welt etwas anhaben. Das funktioniert aber nur, solange man es schafft, nicht nachzudenken. Überhaupt nicht zu denken. Sonst schleichen sich Gedanken ins Hirn, die von jetzt auf gleich alles infrage stellen. Dabei genügt ein einziger solcher Gedanke, ein einziger Zweifel: Warum mache ich das eigentlich? In der Verfassung, in der man sich befindet, kann das schnell das Aus bedeuten. Man lässt den nächsten Gedanken zu, den nächsten Zweifel, und dann noch einen.
Das ist der Moment, in dem man seine Grenze erreicht. Als würde man vor einer tiefen Schlucht ankommen oder am Ufer eines breiten Flusses. In Gedanken ist man bereits auf der anderen Seite, im gelobten Land, das einem wie das Paradies erscheint. Keinen Schritt mehr gehen, die Füße hochlegen, die Kälte nicht mehr spüren, warten, dass die Schmerzen aufhören …
Ab da zählt nur noch eins: der Wille.
Entweder man geht in sein normales Leben zurück oder es steckt etwas in einem drin, das einen weitertreibt. Die Entschlossenheit, es wirklich zu wollen. Die kann man sich nicht antrainieren, die hat man oder man hat sie nicht. Das merkt man auch erst, wenn man an der Schwelle angekommen ist. Und wenn man sie denn hat, diese Entschlossenheit, diesen Willen, dann stellt man plötzlich fest, dass der Körper, der eigentlich völlig im Eimer ist, überraschenderweise doch noch funktioniert, irgendwie, ohne dass man selbst begreift, wie es möglich ist, dass die Beine einfach weitermarschieren.
Ich schlief beim Laufen ein, aber ich marschierte weiter. Im Hellen wie im Dunkeln, durch Waldstücke, über Wiesen, Anhöhen hinauf und wieder hinunter.
Nach der einen etwas längeren Pause gab es nur noch Wasser. Wie im schlimmsten Ernstfall. Kein Essen und keinen richtigen Schlaf, immer nur kurze Ruhephasen, eine Stunde, höchstens zwei, wie gehabt. Vom damaligen KSK-Kommandeur ist die Einschätzung überliefert, die Höllenwoche sei das Härteste, was man Menschen in einer Demokratie zumuten dürfe.
Aber noch waren wir nicht am Ziel. Ich glaube, es war der vierte Tag, als wir zu einem Hügel kamen, auf dem zwei oder drei Betonbunker standen. Die gute Nachricht war, dass wir dort unsere Rucksäcke absetzen durften. Allerdings mussten wir auch unsere Ausrüstung abgeben, alles, einschließlich der Waffen – denn jetzt waren wir Gefangene. Mit zugetapten Staubschutzbrillen wurde uns die Sicht genommen und gleichzeitig das Zeitgefühl, ob Tag oder Nacht war. Deswegen kann ich nicht beschreiben, wie es in dem Bunker aussah und ob unsere Gruppe allein im Raum war. Es durfte kein Wort gesprochen werden. Erst mussten wir stehen, die Beine über Kreuz, die Arme ausgestreckt nach oben mit den Händen an der Wand. Später sollten wir uns vor der Wand auf den Boden knien, die Hände auf dem Kopf, übereinander, die Finger nicht verschränkt, das hätte es leichter gemacht, sie oben zu behalten. Und ich rede bei beiden Varianten nicht von ein oder zwei Stunden – insgesamt waren es acht, die wir in diesen Positionen verharren mussten. Sobald einem die Arme schwer wurden und ein Stück nach unten rutschten, was automatisch passierte, kam sofort jemand, der sie ziemlich rüde wieder nach oben drückte.
Das Schlimmste aber war die Kälte. In solchen Bunkern war es immer kalt, im Winter ganz besonders. Und wir hatten winterliche Temperaturen. Als ich zwischendurch pinkeln musste und kurz rausgeführt wurde, war die Gegend leicht angezuckert. Es musste in der Zwischenzeit geschneit haben. Hinzu kam, dass unsere Körper vom Schlafentzug, den Strapazen des Marsches und der überaus sparsamen Verpflegung ausgezehrt waren, wodurch wir noch mehr froren. Keiner hatte mehr Kohlen im Kessel. Das bisschen Energie, das der Organismus durch das Verbrennen von Fettreserven produzierte, brauchte er, um andere Funktionen am Laufen zu halten, die Atmung zum Beispiel.
Diesmal schaltete ich den Kopf nicht aus. Ich wechselte das Programm, flüchtete mich in eine andere Welt, in die Vergangenheit, um die Gegenwart auszublenden, nicht an die Schmerzen oder ans Aufgeben zu denken. Man könnte auch sagen: Ich verdrängte die Dämonen, indem ich schöne Erinnerungen aus dem Gedächtnis fischte – meine Kindergartenzeit, das erste Mal Moped fahren, die Spaziergänge mit Großvater, unsere Familie im Urlaub, Oma und Opa auf ihrem Bauernhof, die erste Liebe.
Kopfkino. In Langversion. Je detaillierter, umso besser, weil dadurch die Zeit verflog.
Und so sah ich mich auf einmal mit einem Nachbarsjungen von früher – etwa in meinem Alter, wir waren damals sechs oder sieben Jahre alt – zum Dorfrand laufen, wo sich jenseits der Straße ein Maisfeld erstreckte. Wir bahnten uns einen Pfad zwischen den Pflanzen, die uns überragten, gingen tiefer hinein, bis die Straße nicht mehr zu sehen war. An einer Stelle, die uns als Versteck perfekt schien, bogen wir einige Pflanzen, bis sie brachen, und setzten uns auf ihr Grün. Unterwegs hatten wir Maiskolben geerntet, die wir nun aus ihren Blättern schälten, um die frischen Maiskörner abzuknabbern. Gerade als wir zubeißen wollten, war plötzlich ein Rascheln zu hören, als wäre ein Tier in der Nähe, das zwischen den Pflanzen entlangtrottete. Und gleich darauf ein Grunzen wie von einem Wildschwein. Das Rascheln blieb, das Grunzen auch, beides schien näherzukommen. Wir sahen uns erschrocken an, saßen kerzengerade, uns stockte der Atem. Als Dorfkinder hatten wir schon einige Wildscheine gesehen, in unserer Gegend waren manchmal ganzen Rotten unterwegs. Wir wussten, dass sie sich mit Vorliebe in Maisfeldern tummelten, wo sie nicht gejagt wurden, in Ruhe ihren Nachwuchs kriegen konnten. Und wir wussten auch, dass Sauen, die ihre Frischlinge beschützten, besonders aggressiv auf Störenfriede reagierten. Vor lauter Angst hätten wir uns beinahe in die Hosen gemacht.
Eine Weile saßen wir so, trauten kaum, uns zu rühren, lauschten. Dann schienen sich die Geräusche zu entfernen, wurden leiser. Als wir nichts mehr hörten, rappelten wir uns auf und schlichen langsam vom Feld, so leise wie möglich, damit sich die Grunzviecher nicht belästigt fühlten.
Ich grinste in dem Bunker unter der zugeklebten Brille vor mich hin, so anstrengend das Stehen mit erhobenen Händen auch war. Die nächste Szene in meiner Erinnerung spielte in dem Moment, als wir den Feldrand erreichten und unsere Köpfe zwischen den letzten Pflanzen hervorstreckten – wie zwei Ganoven auf der Flucht, die sehen wollten, ob die Luft rein war. Blick nach rechts, Blick nach links … Polizisten standen da keine. Nur ein Junge aus dem Dorf, ein paar Jahre älter als wir. Er hielt sich den Bauch und lachte sich scheckig über die zwei verängstigten Hasen, die da aus dem Mais geschlichen kamen. Das vermeintliche Wildschein, das war er gewesen. Er hatte uns ins Feld flitzen sehen und wollte uns erschrecken.
So verging Stunde um Stunde. Ich hatte dieses Sichdavondenken nicht geübt, aber ich merkte, dass es funktionierte. Je tiefer ich in meiner Erinnerungskiste kramte, je weniger das Vergangene mit dem Jetzt zu tun hatte und je genauer ich mich erinnerte, an viele kleine Details – umso besser. Selbst die Kälte war so zu ertragen. Und irgendwann hatten wir es überstanden.
Den krönenden Abschluss bildete ein Einzelmarsch, 30 Kilometer, wieder in voller Montur, mit Waffe, Rucksack und allem. Jetzt war man auf sich allein gestellt. Die Zeit bis zum Ziel wurde vorgegeben. Wie viel das war, weiß ich nicht mehr, aber sie war so bemessen, dass man an eine Pause gar nicht zu denken brauchte. Nach all den 30-Kilometer-Märschen, die ich in Schneeberg runtergerissen hatte, konnte ich das ziemlich genau einschätzen: Pinkelpause – ja, auch zwei. Ins Gras setzen und die Füßen von sich strecken – definitiv nein.
Wir starteten nacheinander, jeweils mit fünf Minuten Abstand. Meine Füße brannten, als würde ich barfuß über Scherben laufen. Aber im Kopf war nur der eine Gedanke: 30 Kilometer noch, dann hast du’s geschafft!
Ich würde nicht behaupten, dass es ein Klacks war. Uns steckten fast fünf Tage voller Torturen in den Knochen und rund 170 Kilometer. Aber jetzt aufgeben, das kam überhaupt nicht in Frage. Und wenn die Füße noch so schmerzten und der Magen noch so knurrte. 30 Kilometer! Und bald würden es bloß noch 25 sein! Dann 20 … 10 … 5.
Einmal wurde ich noch gestoppt. Ich war zu schnell losmarschiert, hatte meinen Vordermann eingeholt. Wir liefen ein Stück zusammen, aber das war verboten. Sofort kam einer der Ausbilder im Auto angerauscht. Ich solle stehen bleiben und warten, bis wieder fünf Minuten Abstand zwischen uns lagen. In der Situation so ziemlich die schlimmste Strafe. Fünf Minuten können sich unendlich lang anfühlen. Danach taten meine Füße noch mehr weh. Und meine Beine … als wären die Kniegelenke in der kurzen Zeit eingerostet. Als ich weiterdurfte, stakste ich los wie ein Marsmännchen, brauchte eine ganze Weile, um wieder in den Rhythmus zu finden, die Schmerzen zu verdrängen.
Und dann war ich im Ziel.
Kurz darauf fanden wir uns in einer Kaserne wieder, ganz in der Nähe, noch auf dem Truppenübungsplatz. Eine richtige Kaserne war es eigentlich nicht, eher eine Fahrschule mit Unterkünften, aber von der Bundeswehr. Dort machte ich später meinen Führerschein für Kettenfahrzeuge, speziell fürs Hägglunds, ein Transportfahrzeug, das selbst schwierigstes Gelände bewältigt. Davon gab es auch leicht gepanzerte Versionen. Ob Eis, Schnee, Sumpf, Wüste oder Hochgebirge – alles kein Problem für diese Geräte. Es machte auch richtig Spaß, damit durchs Gelände zu cruisen.
Von den insgesamt 160 Mann am Anfang (beide Durchgänge) kamen, glaube ich, 15 ins Ziel. Knapp zehn Prozent, wie gesagt, damals der übliche Schnitt. Es gab aber auch Eignungs- beziehungsweise Potenzialfeststellungsverfahren, die nur ein oder zwei durchstanden. Oder auch mal gar keiner.
Zu den Ersten, die uns in dieser Minikaserne empfingen, gehörte der Ausbilder mit dem flotten Geherschritt. Wir kamen da wahrscheinlich an wie die letzten Krieger aus der Schlacht. Schon irgendwie stolz, vor allem aber erschöpft, abgekämpft – und in dem sicheren Glauben, dass die Strecke keinen Meter länger hätte sein dürfen, wir nun wirklich alle unsere Körner verschossen hatten. Der Geher, der uns in eins der Gebäude führte, war da anderer Meinung: »Sie glauben, dass Sie fertig sind? Dann täuschen Sie sich. Sie haben gerade mal 60, 70 Prozent ihres Vermögens ausgeschöpft.«
In dem Gebäude mussten wir auf dem Flur warten. Der damalige KSK-Kommandeur höchstpersönlich gab sich die Ehre. Nicht auf dem Flur, sondern in einem der Büros, die davon abgingen. Einer nach dem anderen wurde zum Auswertungsgespräch hineinzitiert, einzeln. Drinnen mussten sich zwei von uns anhören, dass sie es zwar körperlich geschafft hatten, aber trotzdem raus waren. Der Kommandeur hatte einen Ruf wie Donnerhall. Klare Worte ohne Schmus drumherum. Und keins zu viel. Ein Militär der alten Schule. Ohne Umschweife sagte er, sie seien nicht teamfähig. Und das war’s. Ich glaube, damit konnte man Menschen zerstören, brechen. Heute würde so ein Gespräch vermutlich eine Spur diplomatischer abgehandelt.
Irgendwann war ich an der Reihe. Ich ging rein, machte brav mein Männchen. Viel zu hören bekam auch ich nicht. Aber was ich zu hören bekam, ging runter wie Öl: »Herr Schaaf – geschafft! Herzlich willkommen bei der Crème de la Crème des deutschen Heeres. Herzlich willkommen beim Kommando Spezialkräfte!«