Die Wahrheit war: Selbst die Worte des Kommandeurs waren nicht Gesetz, man konnte trotzdem noch aussortiert werden. Die Prüfungen waren längst nicht vorbei. Und auch das Beobachten ging weiter. Ich blieb offiziell Angehöriger meines Stammtruppenteils in Schneeberg, kam lediglich mit einer Kommandierung nach Calw. Zunächst für drei Monate, so lange ging der erste Teil der Basisausbildung. Später lief das anders, wobei die Ausbildungsinhalte, auf die es letztlich ankommt, im Großen und Ganzen gleich blieben, auch wenn ihnen mit der Zeit zum Teil andere Titel verpasst wurden. Ebenso das Prozedere an sich, dass man, um das und das zu werden, bestimmte Lehrgänge absolviert haben musste. Ein gutes Beispiel ist der Überlebenslehrgang, zu dem ich gleich komme. Bei uns hieß er noch schlicht und ergreifend Survivallehrgang. Heute läuft er unter SERE-Lehrgang oder SERE-Training, Englisch ausgesprochen, und orientiert sich an einem Ausbildungsprogramm, das ursprünglich von den US-Streitkräften entwickelt wurde. Die vier Buchstaben stehen für Survival, Evasion, Resistance und Escape – auf gut Deutsch also ein Überlebens-, Ausweich-, Widerstands- und Fluchttraining. Davon gibt es verschiedene Levels, angefangen bei der sogenannten Jedermannsbefähigung, worauf Level A, oder Alpha, ausgerichtet ist. Dieses Level gehört bei der Bundeswehr zur Einsatzland-unabhängigen Vorausbildung. Für Kommandosoldaten ist Level C, oder Charly, Pflichtprogramm, die höchste und anspruchsvollste Kategorie.
Zunächst beschäftigten wir uns in der Basisausbildung aber mit den infanteristischen Grundlagen. Waffen- und Geräteausbildung an allen Handwaffen. Pistole, Maschinengewehr, Panzerfaust und so weiter. Für jemanden wie mich, der von der Infanterie kam und das schon zweimal gründlich durchgekaut hatte, nicht unbedingt die spannendste Phase. Wenigstens bekam ich ein paar Waffen in die Hand, die ich aus der Praxis noch nicht kannte. Das G8 zum Beispiel, ein leichtes Maschinengewehr, Kaliber 7,62, das auch bei der Bundespolizei, von der GSG 9 und den Spezialisierten Einsatzkräften der Marine (heute: Kommando Spezialkräfte der Marine) verwendet wurde.
So ziemlich jeden Abend stand – wieder – ein Orientierungsmarsch auf dem Programm. Wir saßen im Unterrichtsraum, dann wurde die Route ausgegeben, immer eine andere. Jeder erhielt einen Zettel mit den Punkten, die angelaufen werden sollten. Und mit Aufgaben, die auf dem Weg zu erledigen waren, nichts Dramatisches. Dazu gab es Kompasszahlen, wir liefen die Strecken nach Marschkompass. Für bestimmte Abschnitte mussten vorher Wegskizzen gezeichnet werden, anhand derer man sich im Gelände orientierte. Dann ging es mit einem kleinen Bus, einem 20-Sitzer-Mercedes, irgendwohin in die Botanik, zum Ausgangspunkt. Das Ziel der Märsche war immer die Kaserne. Laufen musste man einzeln. Je mehr Märsche wir absolvierten, umso sicherer fühlte man sich im fremden Gelände. Das war auch der Sinn der Übung, dass man sich überall zurechtfand, ganz gleich, wo sie einen absetzten. Mit der Zeit entwickelte man einen geschulten Blick für die Natur, sodass man sich, was die Himmelsrichtung betraf, gut am Mondstand, an Sternen, am Moosbewuchs der Bäume oder an der Sonne, wenn die noch nicht untergegangen war, orientieren konnte. Je besser einem das gelang, umso schneller kam man voran. Am Ende waren wir so geübt darin, dass wir den größten Teil der Strecken im Laufschritt bewältigten. Auf einer Flucht sollte es natürlich schnell gehen.
Alles, was wir in dieser Zeit lernten und trainierten, diente der Vorbereitung auf den erwähnten Survivallehrgang, dem Finale dieses Teils der Basisausbildung. Wie gesagt, das Auswahlverfahren lief weiter. Es konnte immer noch passieren, dass man doch nicht in den erlauchten Kreis der Kommandosoldaten aufgenommen wurde. Wie sagte einer der Ausbilder? »Eine Woche kann man sich verstellen, drei Monate nicht, da zeigt sich der wahre Charakter.«
Körperliche Ausdauer, mentale Zähigkeit, Schmerz- und Kältetoleranz, Teamfähigkeit – all das hatten wir, die noch im Rennen waren, in der Höllenwoche ausgiebig unter Beweis gestellt. Trotzdem wurde weiter beobachtet, ob man auch wirklich zu einer eingeschworenen Truppe wie dem KSK passte, charakterlich und überhaupt. Die Psychologen hatten dafür einen Kriterienkatalog ausgearbeitet, den wir natürlich nicht zu sehen bekamen. Wir wussten nur, dass sie und die Ausbilder weiter ein Auge auf uns hielten und man erst sicher dabei war, wenn der Survivallehrgang bestanden wurde. Andernfalls wäre man auf direktem Weg in seine alte Einheit zurückversetzt worden.
Für den Lehrgang, der auf drei Wochen angelegt war, ging es Richtung Bodensee, nach Pfullendorf, in die Staufer-Kaserne, die seinerzeit noch den Namen eines Reichswehr- und Wehrmachtsgenerals trug. In der Kaserne war – und ist – das Ausbildungszentrum Spezielle Operationen beheimatet, in dem Spezialkräfte wie das KSK und Spezialisierte Kräfte (deren Einsätze sind auf spezielle Aufträge ausgerichtet, zum Beispiel Personenschutzkommandos oder Spezialpioniere) geschult und trainiert werden, nicht nur aus der Bundeswehr, auch aus Armeen verschiedener NATO-Länder. Ein SpezOp-Hotspot könnte man sagen, dort bündelt sich internationales Fachwissen. Ein Schwerpunktthema der dortigen Ausbildung: Überleben und Verhalten bei Gefangennahme. Genau darum ging es auch bei dem, was uns erwartete.
Die erste Woche verbrachten wir größtenteils in Unterrichtsräumen. Viel Theorie. Leben im Felde. Wie man Behelfsunterkünfte baute, Feuerstellen anlegte, Fallen für Tiere bastelte und aufstellte oder mit einfachsten Hilfsmitteln Wasser gewann, gewissermaßen aus nichts. Und wie man das Viehzeug, das einem in die Falle ging – theoretisch, nur vorgestellt –, schlachtete und in eine Überlebensmahlzeit verwandelte. All solche Basics, die einer Landnudel wie mir seit Kindestagen vertraut waren, jedenfalls die meisten. Für diejenigen, die aus der Stadt kamen, wird das anders gewesen sein.
Etwas handwerklicher wurde es, als wir den Auftrag erhielten, uns für den bevorstehenden Überlebensmarsch einzukleiden. Und zwar so, dass wir im Gelände möglichst unsichtbar sein würden. Und ohne auf die eigene Uniform zurückzugreifen. Dafür stand uns ein großes Lumpenlager zur Verfügung, in dem sich Unmengen an Stoffresten, ausrangierten Gardinen, alten Decken und was sonst noch stapelten. Aus dem Zeug sollten wir uns selbst Kleidung nähen und auch einen Schlafsack – eben was man für den Notfall brauchte, wenn man nichts hatte, auch kein Dach über dem Kopf. Da manche der Stofffetzen nicht gerade die unauffälligste Farbe hatten, dachte ich, ich stelle es besonders schlau an und besorgte mir Farbspraydosen – Tarnfarben, Braun und Grün und Gelb. Und tatsächlich, meine Idee funktionierte, ich bekam ein brauchbares Camouflagemuster zustande. Nur dass meine Vogelscheuchenklamotten danach furchtbar stanken – auf die Schnelle hatte ich nur Lackfarbe auftreiben können.
Abends, in der Regel um 20 Uhr, rückten wir wie gewohnt zu Orientierungsmärschen aus. Sonst hätte auch was gefehlt. Diesmal als Pärchen. Ich wurde mit einem Kameraden zusammengespannt, der Oberleutnant war. Als Stabsunteroffizier war ich auf der Hierarchieleiter weit entfernt von ihm, das ließ er mich auch ein bisschen spüren, aber sonst kamen wir gut klar.
Hierarchie ist wichtig beim Militär, keine Frage. Aber genauso wichtig sollte sein, dass man gemeinsam das Beste erreicht, im Team. Beim KSK hatte ich später einen Kompaniechef, für den war entscheidend, was jemand draufhatte und was er leistete. Er konnte auch Vorschläge von Untergebenen annehmen, wenn er sah, dass es die bessere Lösung war. Keiner von uns wäre deswegen auf die Idee gekommen, seine Autorität oder einen Befehl, den er erteilte, infrage zu stellen. So war es in Calw bei den meisten Offizieren. Natürlich gab es auch andere, aber das dürfte bei Vorgesetzten überall so sein.
Einmal führte uns die Route zu einem Rapsfeld. Wir liefen jetzt nicht über Truppenübungsplätze oder in irgendwelchen militärischen Bereichen, sondern durch freies Gelände, das für jeden zugänglich war. Der nächste Punkt, den wir anzusteuern hatten, lag in gerader Linie hinter diesem Rapsfeld, das bereits verblüht war. Aus unserer Perspektive erstreckte es sich bis zum Horizont – es lag auf einem Hügel. Der Oberleutnant wollte die kürzeste Strecke nehmen, geradewegs übers Feld. Normalerweise wäre das auch meine Wahl gewesen – nur eben nicht bei einem Rapsfeld, schon gar nicht bei einem verblühten.
Ich sagte: »Lass uns außenherum gehen.«
Er sagte: »Geradeaus ist viel kürzer.«
Ich sagte: »Das ist ein Rapsfeld.«
Er sagte: »Das sehe ich.«
Ich sagte: »Wenn du unbedingt willst, bitte, dann geh vor!«
Da sagte er nichts mehr, drehte sich um, stiefelte los. Ich blieb stehen, wartete am Rand. In der Gegend, wo ich aufwuchs, wurde viel Raps angebaut. Daher konnte ich mir ausrechnen, dass er kaum weiter als 10, 15 Schritte kommen würde. In diesem Stadium war der Raps wie eine Falle. Die unzähligen Pflanzenspitzen verhedderten sich dermaßen ineinander, dass man unweigerlich steckenblieb. Vielleicht waren es doppelt so viele Schritte, aber lange dauerte es nicht, bis er eine abrupte Kehrtwendung einlegte und zurückkam. Mit einem Gesicht … fröhliche Menschen sahen anders aus.
Bei diesen Märschen orientierten wir uns mit Kompassen, die wir vorher selbst gebastelt hatten. Darum ging es im Ernstfall: dass man aus einfachsten Gegenständen, die sich ohne großen Aufwand auftreiben ließen, die man bestenfalls irgendwo fand, nützliche Hilfsmittel kreierte. Für so einen Kompass hatten wir nicht mehr gebraucht als eine Rasierklinge, eine Stecknadel, einen kleinen Pappdeckel und den Stiftklöppel eines Kugelschreibers. Und einen Magneten, damit wurde die Rasierklinge magnetisch aufgeladen. Als zweites Orientierungsmittel standen uns Wegskizzen zur Verfügung, sogenannte Sketch Maps, auch die waren Eigenkreationen. Von solchen Wegskizzen mussten wir unendlich viele zeichnen, immer wieder, sodass wir es wahrscheinlich im Halbschlaf noch einigermaßen hingekriegt hätten. Als Vorlage bekam man eine Landkarte, einen Ausschnitt, den man dann nachzeichnen sollte, reduziert auf die wichtigsten Sachen, die einem draußen im Gelände die Orientierung ermöglichten: auffällige Punkte, die Länge bestimmter Streckenabschnitte, markante Gebäude, Straßen, Hochspannungsleitungen, Waldflächen, Flüsse oder Gewässer, alle denkbaren Geländegegebenheiten.
Dann die vorletzte Woche. Unsere Truppe saß gerade wieder in einem Unterrichtsraum, als es auf einmal hieß, wir rücken ab – sofort! So wie wir waren, im Feldanzug, oder auch Flecktarn genannt, was man als Soldat im normalen Innendienst trug. Ein Bus stand schon bereit. Bevor wir losfuhren, mussten wir die altbekannten Staubschutzbrillen aufsetzen, die auch diesmal mit schwarzem Tape beklebt waren, sodass man nichts mehr sah. Lange waren wir nicht unterwegs, vielleicht zehn Minuten. Die Fahrt ging nach Mottschieß, auf das Gelände des ehemaligen Munitionslagers gleichen Namens, das etwas außerhalb der winzigen Ortschaft lag, mitten im Wald. Neben der Munition für die Staufer-Kaserne waren dort während des Kalten Kriegs nukleare Sprengköpfe der US-Streitkräfte gelagert worden. Darum wurde immer ein Geheimnis gemacht, aber es war so.
Sie führten uns in einen der alten Atombunker. Dort wieder das gleiche Prozedere wie in der Höllenwoche: an der Wand stehen, vor der Wand knien. Und die Klappe halten, keinen Mucks wollten sie hören. Auch diesmal acht Stunden. Mit dem Unterschied, dass wir körperlich in einer deutlich besseren Verfassung waren. Und dass andere Temperaturen herrschten. Mittlerweile war Sommer, Frühsommer auf jeden Fall.
Die ganze Aktion sollte bedeuten, dass wir überfallen und gefangen genommen worden waren. Methodisch nicht die allerbeste Inszenierung, so aus dem Unterrichtsraum heraus, aber damit konnten wir uns zusammenreimen, was als Nächstes kommen würde. Die Grundannahme eines solchen Überlebenslehrgangs bestand darin, dass man aus der Gefangenschaft freikam, sich durch fremdes Gelände – gedacht in einem fremden Land – auf die Flucht begab und es einem schließlich irgendwie gelang, sich bis zu den eigenen Truppen durchzuschlagen.
Der Überraschungseffekt gelang trotzdem. Niemand konnte acht Stunden dauerkonzentriert bleiben. Auf einmal rummste und knallte es höllisch laut, Schüsse fielen und wildes, tumultartiges Geschrei war zu hören. Noch sahen wir nichts. Dann sollten wir die Brillen abnehmen, der Moment der Befreiung. Um uns herum standen verkleidete Soldaten, bewaffnet mit Gewehren. Das sollten Separatisten sein, die uns freigekämpft hatten. Auf dem Boden lagen andere Soldaten und spielten Leichen – die überwältigten Feinde. Unsere Befreier brachten uns irgendwohin an einen Fluss, das musste die Donau sein. Oder ein Nebenarm. Wir liefen am Ufer entlang. Es war dunkel. Mondlicht spiegelte sich auf dem Wasser. Unter anderen Umständen hätte man den Anblick als romantisch empfunden. Uns war nicht danach, wobei dieser Abschnitt der Flucht auch einen lustigen Moment bereithielt. Zu unserem Team gehörte ein Offizier, der beim Marschieren immer einschlief. Schon in der Basisausbildung war er des Öfteren als Schlafwandler umhergetapert und dabei etliche Male auf den Rucksack seines Vordermanns aufgelaufen. Als wir dort am Ufer entlangmarschierten, musste er wieder eingenickt sein. Ehe wir mitbekamen, dass er gerade dabei war, den gemeinsamen Kurs zu verlassen, klatschte er auch schon ins Wasser.
Ein Stück weiter mussten wir es ihm nachtun, nur etwas kontrollierter. Wir zogen vorher unsere Klamotten aus, vor allem die Schuhe sollten möglichst nicht nass werden. An der Stelle war ein Seil über den Fluss gespannt. Daran hielten wir uns fest, während wir durchs Wasser wateten und dabei versuchten, das Päckchen mit den Schuhen und der Kleidung hoch genug zu halten, damit es trocken blieb. Der Untergrund war schlickig, die Strömung nicht ohne, man sah kaum etwas, aber wir schafften es sicher zum anderen Ufer hinüber.