Der Stresstest

Da ich gerade beim Thema Schießen bin: Jeder Kommandosoldat musste einmal im Jahr den sogenannten Stresstest absolvieren. Ob der bereits während der Ausbildungsphase auf dem Programm stand, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Dafür habe ich ihn zu oft geschossen. Wenn es also nicht in meinem ersten Jahr war, dann auf jeden Fall ab dem darauffolgenden. Durchgeführt wurde er in Calw, im Schießausbildungszentrum. Darin gibt es einen größeren Raum mit einer 25-Meter-Bahn, etwa 15 Meter breit, 30 Meter lang und 3,5 Meter hoch. Während man auf normalen Schießbahnen nur geradeaus nach vorn schießen durfte, war dort ein Schusswinkel von 180 Grad möglich, also auch seitlich, in beide Richtungen, wenn die Aufgabe es erforderte. Die Wände und der Boden waren mit gummiartigen Matten verkleidet, die die Geschosse »fraßen«, damit es nicht zu Querschlägern kam. Die Geschosse durchdrangen die Matten und blieben in speziellen Auffanggittern hängen, die dahinter angebracht waren.

An der Front und auf beiden Seiten der Schießbahn konnten Schützenscheiben aufgefahren werden, die aus dem Regieraum gesteuert wurden. In der Hauptsache waren es stehende Ziele, wobei nur Kopf und Oberkörper dargestellt waren. Ihre Größe entsprach der von Menschen, meist Erwachsenen, Kinder waren aber auch darunter. Viele Abbildungen sahen relativ lebensecht aus. Und wie im richtigen Leben gab es die unterschiedlichsten Typen, den kräftigen Mann mit dunklen Locken, die blonde, zierliche Frau, die einen Blumenstrauß in der Hand hielt … so ziemlich alles, was man sich an optischen Varianten vorstellen konnte.

Für uns am wichtigsten war, ob die abgebildete Person etwas in der Hand hielt – und wenn ja, worum es sich dabei handelte. »Schaut auf die Hände!«, hieß es immer. Was man dort sah, entschied die Reaktion, ob man schoss oder nicht. Erkannte man eine Pistole, drückte man ab. Erkannte man ein Messer, drückte man ebenfalls ab. Genauso wenn man eine Handgranate ausmachte. War es dagegen ein Nudelholz, das man zu sehen bekam, ein Bügeleisen, ein Buch oder etwas anderes Harmloses, durfte man nicht schießen. Das Schwierige daran war, dass man für die Entscheidung, schießen oder nicht, nur wenige Sekunden Bedenkzeit hatte, sehr wenige, also im unteren einstelligen Bereich.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wir schossen niemals auf Kinder. Wenn Kinder auf den Scheiben abgebildet waren, dann als unbeteiligte Personen oder als Geiseln, also Opfer.

Noch schwieriger wurde es einem gemacht, wenn die Regie den Raum verdunkelte oder Effekte wie Nebel oder Stroboskopblitze einspielte, womöglich garniert mit allerlei Lärm: Detonationen, Schreie, dröhnende Motoren, bis zum Anschlag aufgedrehte Musik. Dann konzentriert zu bleiben und den einen Blick auf den fraglichen Gegenstand zu erhaschen, der Aufklärung brachte, ob eine Bedrohung vorlag oder nicht, das war schon eine Herausforderung. Aber gleichzeitig eine gute Vorbereitung auf die Realbedingungen, die uns bei einem echten Einsatz erwarten konnten. Man musste es nur oft genug machen. Bis man die Abläufe so verinnerlicht hatte, dass sie wie automatisch abliefen, ohne dass dafür eine zusätzliche Hirntätigkeit erforderlich war.

Nicht nur das Erkennen einer Bedrohungssituation, auch die Reaktion darauf – alles musste fließend ineinander übergehen. Man näherte sich mit seiner Waffe, nehmen wir das G36, in low ready position . Das heißt, man hielt es ungefähr auf Brusthöhe, sodass man drüberschauen konnte. Erkannte man ein potenzielles Ziel, wechselte man in die high ready position und blickte durchs Visier, den Daumen immer im Bereich der Sicherung, um diese im Bedarfsfall blitzschnell betätigen zu können. Der Abzugsfinger blieb gestreckt, außerhalb des Abzugsbügels. Bis man erkannte, ob die gesichtete Gestalt ein Feind war oder nicht.

Um die Bedrohung effektiv auszuschalten, war das Schießtraining darauf ausgerichtet, die letalen Zonen des Feinds zu treffen: Kopf, Brust und Bauch – wo die lebenswichtigen Organe sitzen. Oder den Beckenbereich, wenn das Ziel eine Schutzweste trug. Dort verlaufen auf beiden Seiten Oberschenkelarterien. Trifft man die, verblutet der oder die Getroffene innerhalb kurzer Zeit. Dagegen hätte es wenig Sinn gemacht, ein halbes Magazin auf die Schutzweste abzufeuern.

Geschossen wurde immer Einzelfeuer, mit der Pistole sowieso, aber auch mit der Langwaffe. Obwohl das G36 eine Kriegswaffe ist, also über Dauerfeuer verfügt, trainierten wir nie mit Dauerfeuer. Für unsere Zwecke war das absolut unnötig. Damit hätte man nicht präzise schießen können, außer vielleicht mit dem ersten Schuss.

Jetzt zum eigentlichen Stresstest, wie der ablief: Der Kandidat betrat den beschriebenen Raum, positionierte sich am Startpunkt. Er trug Einsatzuniform mit Plattenträger, dazu das G36 und die P8 Combat. Am Start setzte er sich die ABC-Maske auf, den Helm und einen Aktivgehörschutz, wir benutzten ein Modell von Peltor. Dann hörte er aus dem Regieraum die Anweisung: »Waffen fertig laden!« Dafür kniete er sich hin. Zuerst lud er die Pistole. In das erste Magazin kamen acht Patronen, in das zweite sechs. Das durfte man nicht durcheinanderbringen, sonst hätte es nicht zu den Anforderungen des Parcours gepasst. Bevor er die Pistole holsterte, also im Holster verstaute, zog er den Verschluss der P8 ein kleines Stück zurück, um zu kontrollieren, ob die Patrone ins Patronenlager befördert wurde. Dann kam das Gewehr dran. Ein Magazin mit 8 Schuss, eins mit 16. Beides waren 30er-Magazine. Demnach hätten alle Patronen in eins gepasst, aber auch hier ging es darum, die Magazine so zu bestücken, wie es der Ablauf des Parcours verlangte. Als Nächstes überprüfte er die Visiereinrichtung, ob die Helligkeit richtig eingestellt war. Benutzt wurde ein Reflexvisier, geeignet für Orts- und Häuserkampf. Nachdem auch das erledigt war, stand er auf und schaute sich dabei um. Man sollte immer alles im Blick behalten. Im Stehen überprüfte er noch einmal die Ausrüstung, ob alles saß und am richtigen Platz war.

Die im Regieraum hatten ihn die ganze Zeit im Blick. Schon ertönte über Lautsprecher die Frage: »Schütze fertig?«

Da durch die ABC-Maske seine Antwort schlecht zu verstehen gewesen wäre, hob er seine Hand, der Daumen zeigte nach oben. In der Regie wurde der Startknopf gedrückt, und es kam die Ansage: »Programm läuft.« Sekunden darauf ertönte ein Sirenensignal.

Ab da tickte die Zeit, der Kandidat musste starten. Ihm blieben eine Minute und 50 Sekunden, um den Parcours zu absolvieren. Er lief geradeaus nach vorn, etwa zehn Meter, bis zu einem Klebestreifen auf dem Boden. Während er noch auf dem Weg war, tauchten die ersten beiden Schützenscheiben an der Wand vor ihm auf. Abgebildet waren zwei Gestalten, die Waffen trugen, also eindeutig Feinde. Jedes Ziel sollte mit zwei Schuss aus dem G36 bekämpft werden, Anschlag stehend.

Sofort darauf eilte er nach links, wo eine Holzwand mit Sehschlitz aufgebaut war, die ihm Deckung bot. Durch den Schlitz beobachtete er, wann die nächsten Ziele auftauchten und wo. Es waren wieder zwei und wieder wurden pro Ziel zwei Schuss verlangt. Er schoss rechts an der Deckung vorbei, auch das war vorgegeben. Damit hatte er das erste Magazin geleert. Dann ging er hinter der Holzwand in Deckung, wechselte das Magazin, während er das Areal vor sich durch den Sehschlitz im Blick behielt. Kaum war er schussbereit, tauchten erneut zwei Ziele auf. Diesmal war links an der Deckung vorbeizuschießen. Nicht vergessen durfte er den kurzen Schulterblick. Auch wenn er wusste, dass er allein war, einstudiert wurde das Ganze für den Ernstfall und da konnte immer jemand von der eigenen Truppe hinter einem schießen.

Nun ging es nach links weiter – zu einer anderen Deckung, die wie die davor hoch genug war, um dahinter stehend Schutz zu finden. Jetzt tauchten Ziele an der Wand links von ihm auf. Er bekämpfte sie, indem er rechts an der Deckung vorbeischoss. Dann zwei Ziele vorn an der Wand, die er links an der Deckung vorbei eliminierte.

Nun eilte er ganz nach rechts bis zur Seitenwand, wo sich eine Türattrappe befand, die in den Raum hinein geöffnet werden konnte. Er wartete dahinter, bis eine Detonation zu hören war, was nur Sekunden dauerte. Daraufhin durchschritt er die Tür, bewegte sich in Richtung Frontseite, während an der Wand rechts von ihm mehrere Schützenscheiben auftauchten. Im Gehen musste er im Kopf filtern, welche davon zu bekämpfen waren. Diesmal bekam er auch Abbildungen präsentiert, die Unbewaffnete zeigten.

Wieder pro Scheibe zwei Schuss. Damit waren die Patronen fürs G36 verschossen. Also Wechseldrill von Lang- auf Kurzwaffe. Während des Laufens. Schon tauchten die nächsten Scheiben auf, vorn an der Wand. Eine der Scheiben war eine Tango-Golf-Scheibe. Tango stand für Täter, Golf für Geisel – nach dem NATO-Alphabet, das weltweit für die militärische Funkkommunikation verwendet wird. Darin ist Tango das Buchstabierwort für T und Golf das für G. Auf der Scheibe waren also ein Bewaffneter und ein Unbewaffneter zu sehen. Das musste man bemerken. Nur auf Tango durfte geschossen werden. Hätte man Golf getroffen, die abgebildete Geisel, wäre der Stresstest zu Ende gewesen – nicht bestanden. Deshalb nahm man sich etwas mehr Zeit, blieb kurz stehen, zielte genauer. Sonst war man ständig in Bewegung und blieb es nach der Station auch.

Ich setze den Fall voraus, dass der Kandidat es richtig machte. Was meistens so war, bei mir fast immer. Somit ging es weiter. Er lief weiter. Die nächsten Scheiben, zwischendurch Magazinwechsel, nun auch bei der Pistole, was im Laufen erledigt wurde, dann wieder Scheiben. Die Abstände waren auf der gesamten Route eng getaktet, wie man sich bei der Zeitvorgabe denken kann. Reagierte man nicht zügig genug, drehten sich die Scheiben wieder weg. Das bedeutete nicht das Aus, aber es gab einen Punkt Abzug – je Scheibe, auf der keine Treffer platziert wurden. Insgesamt waren genauso viele Ziele zu bekämpfen wie der Schütze Patronen zur Verfügung hatte, gerechnet mit zwei pro Ziel. Plus der fünf Schuss, die er für die letzte Station benötigte. Die Aufgabe beim Finale: Präzisionsschießen auf eine Zehner-Ringscheibe. Das machte man im Stand, hatte aber trotzdem die Zeit im Nacken. War man schnell genug, ertönte die Schlusssirene erst nach dem letzten Schuss. Ertönte sie vorher, musste man abbrechen. Das konnte einem auch an einer früheren Station passieren, falls schon da die Zeit rum war.

Hinterher erfolgte direkt die Auswertung. Nur wenn man bei den Schützenscheiben den letalen Bereich getroffen hatte, gab es die volle Punktzahl. Am Ende wurde alles zusammengerechnet. Um zu bestehen, musste man mindestens 157 Punkte erreichen. Maximal möglich waren 210. Das schaffte kaum jemand. Dafür hätte man sich nicht nur bei den Schützenscheiben keinen Fehltreffer erlauben dürfen, sondern auch alle fünf Schuss auf die Ringscheibe sauber in der Zehn platzieren müssen. Ich lag meistens im Bereich um 180. Die Hauptsache aber war, man bestand. Wenn nicht, konnte der Test am selben Tag wiederholt werden, und auch später noch mal. Schaffte man es trotzdem nicht, war Schießtraining angesagt. Führte selbst das nicht zum Erfolg, was in den Jahren, die ich dabei war, eher die Ausnahme darstellte, verlor man die Kommandozulage von zuletzt 1125 Euro brutto (anfangs waren es rund 300 Euro) und wurde nicht mehr in den Einsatz geschickt.

Diese Zulage wurde einem auch aberkannt, wenn man den Sportleistungscheck nicht bestand, ebenfalls ein jährlicher Pflichttermin. Durchgeführt wurde er an der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf. Dort trifft man das fähigste Fachpersonal, das man sich vorstellen kann. Ich war jedes Mal schwer beeindruckt. Der Test bestand aus zwei Komponenten. Man musste sein sportliches Leistungsvermögen nachweisen, unter anderem bei einem Sprinttest, und man wurde gesundheitlich durchgecheckt. So gab es einen Stufenlaufbandtest. Die Anfangsgeschwindigkeit betrug 8 km/h, die lief man 3 Minuten. Dann 30 Sekunden Pause. Dabei wurde eine kleine Menge Blut abgenommen, um den Laktatwert zu ermitteln. Danach ging es mit 10 km/h weiter. Wieder 3 Minuten. Anschließend erneut eine Pause und die Laktatwertbestimmung. Immer in diesem Rhythmus, wobei die Geschwindigkeit jedes Mal um 2 km/h gesteigert wurde, bis 14 km/h erreicht waren. Passte der Laktatwert, hatte man bestanden. Falls nicht, lief man noch 3 Minuten bei 16 km/h, dann bekam man trotzdem sein Häkchen.

An einer anderen Station wurden die Isokinetikwerte der Bauch- und Rückenmuskulatur bestimmt, die für die Stabilisierung der Wirbelsäule wichtig waren. Lagen alle Testergebnisse vor, wurden Trainingsempfehlungen gegeben. Wenn man wollte, konnte man sich individuelle Trainingspläne erstellen lassen, um gezielt Schwachstellen anzugehen. Schaffte man irgendwelche Übungen nicht – in der vorgegebenen Zeit oder mit den vorgegebenen Werten –, waren sowieso zusätzliche Trainingseinheiten angeraten, weil man sonst, wie gesagt, die Kommandozulage verloren hätte.