Nachdem wir nun den Kommandokräften angehörten, wurden wir den Kommandokompanien zum regulären Dienst zugeteilt. Vorher durfte man einen Wunsch äußern, zu welcher Kompanie, welchem Trupp und vor allem welcher Verbringungsart man wollte. Die Verbringungsart beschrieb, vereinfacht gesagt, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die Einsatzkräfte zum Einsatzort gelangten. Eingeteilt waren sie nach dem Transportweg: Land, Luft, Wasser und Gebirge. Über Land wurden die Kräfte mit Fahrzeugen verlegt. In der Luft mit Drehflüglern, also Hubschraubern, und Flugzeugen, hierzu zählte aber auch das Fallschirmspringen. Auf und im Wasser waren logischerweise Boote die Fortbewegungsmittel der Wahl, ergänzt durch eigenes Schwimmen und Tauchen. Im Gebirge war man hauptsächlich auf den Fußbus angewiesen, der in der Soldatensprache für die Verwendung des körpereigenen Bewegungsapparats stand. Je nach Jahreszeit und Geländebeschaffenheit zusätzlich ausgerüstet mit Ski, Schneetrittlingen oder Steigeisen. Oder motorisiert unterstützt durch Schneemobile wie Skidoos. Davon hatten wir welche in Calw, für die man später im Zuge der Klimazonenausbildung in Goose Bay in Kanada fit gemacht wurde. In meiner Anfangszeit gab es den Lehrgang dort noch nicht. Wir absolvierten die Skidoo-Ausbildung in der Wattener Lizum in Österreich.
Damals gab es vier Kommandokompanien – die 1., 2., 3. und 4. Anfangs hieß die 4. noch Fernspähkommandokompanie. Als das KSK 1996 gegründet wurde, waren es drei Kommandokompanien, inzwischen sind es meines Wissens sechs. Kommandokompanien sind die, die in Einsätze geschickt werden. Zusammen mit den Unterstützungskräften, zu denen die Versorgungskompanie, die Fernmeldekompanie, die Unterstützungskompanie und das Sanitätseinsatz-/Versorgungszentrum gehören. Darüber hinaus gibt es den Bereich Ausbildung, der – wer hätte es gedacht? – für die Ausbildung der Kommandokräfte zuständig ist, einschließlich des Potenzialfeststellungsverfahrens, aber auch für die der Führungskräfte. Und den Bereich Weiterentwicklung, gewissermaßen die Abteilung Zukunft. Hier wird geprüft, wie man Waffen, Technik und Ausrüstung weiter optimieren kann. In erster Linie für die eigenen Kräfte, wobei bestenfalls die gesamte Bundeswehr davon profitiert.
Ich kam, wie bereits erwähnt, in die 2. Kompanie. Jede Kompanie bestand aus zwei Zügen, einem Angriffszug und einem Scharfschützenzug. Etwa 20 Mann bildeten den Angriffszug, 10 bis 12 den Sniperzug. Hinzu kamen Unterstützungskräfte, die unter anderem das Logistische erledigten und alles, was mit Materialbeschaffung und Instanthaltung zu tun hatte. Einschließlich Kompaniechef, Kompanietruppführer, Spieß, Versorgungsdienstfeldwebel, Einsatzoffizier und Fernmelder gehörten rund 60 bis 70 Mann zu einer Kompanie.
Der Angriffszug setzte sich aus vier Trupps zusammen, einem amphibischen Trupp (Wasser), einem Landtrupp, einem Freifalltrupp (Luft) und einem Gebirgstrupp. Also ein Trupp je Verbringungsart. Als ausgebildeter Gebirgsjäger wurde ich dem Gebirgstrupp zugeteilt, was nur Sinn machte und auch meinem Wunsch entsprach. Jeder Trupp bestand aus vier bis fünf Mann, hatte einen Truppführer und einen Stellvertreter, alle waren Unteroffiziere mit Portepee. Der Begriff, er stammt aus dem Französischen, bezieht sich auf eine alte Tradition, einen Faustriemen, eine Art Schlaufe, am Degen zu tragen und bezeichnet hier die Dienstgrade von Feldwebel bis Oberstabsfeldwebel. In meinem Trupp kam ich als Sechster hinzu. Ich war Stabsunteroffizier, also Uffz. ohne Portepee, noch nicht Feldwebel. Was dann auch so ziemlich das Erste war, was geändert wurde – dazu komme ich gleich.
Innerhalb eines Trupps besaß jeder eine zusätzliche Spezialisierung – als Kommando-Medic, Waffenexperte, Fernmelder oder Breacher. Dafür musste man an entsprechenden Lehrgängen teilnehmen und in der Folge Weiterbildungen mitmachen. Wobei wir so getrimmt wurden, dass jeder über Basiskenntnisse in allen vier Bereichen verfügte. Im Notfall musste ein ausgefallener Kamerad so weit ersetzt werden können, dass der Trupp auch dezimiert handlungsfähig blieb. Manche qualifizierten sich mit der Zeit für eine Doppelverwendung, ich zum Beispiel wurde wie geschildert Medic und Breacher.
Das mit den Basiskenntnissen galt genauso für die Verbringungsarten. Schließlich wusste niemand, was einen erwartete. Ein Einsatz konnte an Land beginnen, im Verlauf aber die Fortbewegung in der Luft oder im Wasser erforderlich machen. Oder es lief in einer anderen Reihenfolge. Die Ausbildung zum Fallschirmspringer mit verschiedenen Qualifizierungsstufen wie Military Freefall war schon Thema. Fallschirmspringen gehörte für alle Kommandosoldaten, unabhängig von ihrer speziellen Truppzugehörigkeit, zu den Grundbefähigungen – das KSK-ABC. Jeder von uns musste in der Lage sein, aus einem Luftfahrtzeug den Einsatzort zu erreichen, ob mit Fallschirm oder durch Abseilen.
Vergleichbares gab es bei den anderen Verbringungsarten. So absolvierten wir als Gebirgstrupp auch amphibische Ausbildungen, einmal zum Beispiel in Den Helder an der holländischen Nordsee. Dort trainierten wir, wie man vorging, um eine Geisel auf einem Schiff zu befreien. Tauchen mussten wir nicht, aber trotzdem ins eiskalte Wasser, mit Neoprenanzug natürlich. Der Auftrag lautete: das Schiff anschwimmen, aufentern, um es dann zu nehmen, in die eigene Gewalt zu bringen.
Was ich damit sagen will: Die Ausbildung war längst nicht zu Ende. Das ist sie für einen Kommandosoldaten nie.
In der KSK-Führung kam man bald darauf, dass es sinnvoller wäre, den Nachwuchs später in die Kompanien zu schicken, dafür länger auszubilden, um das Startniveau zu steigern. Mittlerweile liegt die Ausbildungszeit, bevor man als Kommandosoldat in eine Kompanie kommt, bei zwei Jahren, die Zeit für die einzelnen Blöcke des Potenzialfeststellungsverfahrens mit eingerechnet, inklusive des zehnwöchigen Vorbereitungsprogramms für die Höllenwoche. Und auch die Grundausbildung zu den vier Verbringungsarten wurde mit reingepackt. Der gemeinsame Abholpunkt, er wurde so auf ein höhere Stufe gehoben.
Für die Neuen, die wie ich noch nicht Feldwebel waren, begann das Kommandokompaniedasein nicht nur außerhalb der Kompanie, sondern auch außerhalb von Calw. Es ging zum Feldwebel-Lehrgang nach Pfullendorf, drei Monate. Solche Lehrgänge sind überall in der Bundeswehr Standard, um befähigt zu werden, eine Einheit zu führen. Mit dem Unterschied, dass unserer speziell auf Kommandosoldaten zugeschnitten war. Und auf Fernspähfeldwebel, die als Aufklärer für Spezialkräfte ausgebildet wurden. Schwerpunktmäßig ging es um Infanterismus, um Wald-, Orts- und Häuserkampf sowie um Spezialaufklärung (Objekte über einen längeren Zeitraum beobachten, Feindkräfte aufklären, ihre Bewegungen, ihre Bewaffnung und ihre Kommunikationsmittel). Im Grunde all das, was wir dann in Calw weiter perfektionierten – dort mit dem Schwerpunkt Geiselbefreiung, der komplette Ablauf, von der ersten Information über die Planungsphase bis zur Umsetzung am Einsatzort.
Ein Beispiel: Man erhielt einen Auftrag, in dem stand, dass eine Gruppe Terroristen im Land X und im Ort Y zwei deutsche Staatsbürger als Geiseln festhielt, um Lösegeld zu erpressen. Als Ziel formuliert wurde die Befreiung der Geiseln. Die Terroristen sollten nach Möglichkeit festgenommen werden. Dazu bekam man Kartenmaterial und Informationen zu den Gegebenheiten am Einsatzort. Wie sind die Einwohner Fremden gegenüber eingestellt? Musste man verdeckt vorgehen, um nicht aufzufallen? Wie, mit welchen Fortbewegungsmitteln und entlang welcher Strecke, konnte man zum Ziel gelangen? War der Weg dorthin gefährlich? Welche Wetterbedingungen erwarteten einen? Dazu Informationen, welche Kräfte für den Einsatz zur Verfügung standen und welche Mittel, die technische Ausrüstung, Drohnen und solche Sachen. Und natürlich alles, was über die Terroristen bekannt war – wie viele Leute da am Werk waren, über welche Waffen sie verfügten, welche Ausbildung sie hatten, vor allem in Hinblick auf taktisches Verhalten und den Umgang mit Waffen. Zusammengefasst: sämtliche Planungsgrößen. Was hatte man selbst, was der Feind und welche Rahmenbedingungen würde man am Einsatzort vorfinden.
Daraus resultierend startete man mit der Planung – und verteilte die Aufgaben. Einer wurde beauftragt, die Verbringung der Einsatzkräfte zum Zielort zu planen, welche Route man nehmen würde und welche Transportmittel dafür benötigt wurden. Und dazu eine Alternative, Plan B. Der Nächste bekam den Auftrag, die Infiltration zu planen, vom Drop-off Point, dem Absetzpunkt, ab da würde das Einsatzteam auf sich allein gestellt sein, bis zum Zielobjekt. Wie gelangte man zu Fuß am besten dorthin? Und auch hier die Frage nach einer Alternative, falls aus irgendwelchen Gründen ausgewichen werden musste. Wieder ein anderer befasste sich mit Action on Target, der Durchführung am Ziel. Wie verschaffte man sich Zugang zu dem Raum, in dem sich die Geiseln befanden, und wie sollte die Befreiung im Detail ablaufen? In der Regel plante derselbe auch den nächsten Schritt, die Exfiltration, also das Ausweichen, zusammen mit den Geiseln.
So eine Planung war ein fließender Prozess. Es kamen Leute hinzu, Informationen kamen hinzu, es musste umgedacht werden, manche Ansätze wurden nachjustiert, andere verworfen. Sobald jemand seine Planung fertig glaubte, wurden die einzelnen Schritte aufgeschrieben oder skizziert und an die Wand gebracht, damit alle im Team auf demselben Stand waren, sich daraus eventuell neue Ideen ergaben. Idealerweise wurde ein Sandkasten aufgebaut, ähnlich einer Eisenbahnplatte, um die Geländegegebenheiten nachzustellen, die geplanten Fahrzeuge, die Einsatzkräfte und so weiter – alles in Miniaturformat. Das half, sich den geplanten Einsatz besser vorzustellen. Und es half bestenfalls auch, Fehler zu erkennen, die einem während der Planungsphase unterliefen.
In Calw machten wir das später genauso, indem wir in einer Halle den Ablauf, die einzelnen Schritte, durchexerzierten. Rockdrill nannte sich das. Ähnlich wie bei dem beschriebenen Sandkasten, nur auf einer größeren Fläche, etwa 20 mal 20 Meter, mit größeren Fahrzeugen und größeren Gebäuden, die aus Pappe gebastelt waren. So wurde die gesamte Planung einmal visualisiert. Oder auch zwei- oder dreimal. Bis man die Gewissheit hatte, dass es funktionieren konnte.
Zu solchen Planungen gehörte auch, sich im Bedarfsfall Kampfunterstützung organisieren zu können. Gedacht die Situation, man geriet in eine Gefechtshandlung und die eigenen Kräfte reichten nicht, um sich selbst freizukämpfen. Dann musste man wissen, wo die nächsten Unterstützungskräfte sein würden und wer anzufunken war, um sie schnellstmöglich in Marsch zu setzen. Im besten Fall handelte es sich um Luftunterstützung, die aktiviert werden konnte.
Und auch die Einsatzunterstützung galt es zu planen. Wenn man sich beispielsweise auf dem Wasser von A nach B bewegen musste, dann benötigte man nicht nur ein Boot, sondern auch jemanden, der es fahren konnte. Und derjenige sollte optimalerweise auch wissen, welche die beste Route war, mit welcher Geschwindigkeit sie gefahren werden konnte und mit welchen Waffen das Boot auszurüsten war.
Es gab zig Punkte, die man im Blick haben musste. Ganz wichtig (wobei alles wichtig war): die Planung einer Rettungskette. Damit beschäftigte sich immer der Kompanie-Medic, in Zusammenarbeit mit dem Kommandoarzt, der im Sanitätszentrum seinen Dienst verrichtete und der Kompanie bei Bedarf unterstellt wurde. Wir in unserer Kompanie hatten zusätzlich einen sogenannten 18 D – das war ein Medic, der die einjährige Special-Forces-Medical-Ausbildung bei der U. S. Army in Fort Bragg absolviert hatte, die als die weltweit umfangreichste und medizinisch professionellste gilt. Wer die besteht, besitzt fast die Qualifikation eines Arztes.
Bei der Planung dieser Rettungskette fing man bei der eigenen Ausrüstung an. Was hatten die Medics für die Erstversorgung dabei und welche Verletzungen konnten sie damit behandeln? Vor allem ging es aber darum, was geschehen musste, wenn jemand schwer verwundet wurde. Wo wären die nächsten Rettungsstellen, ob zivile oder militärische, wo Krankenhäuser? Welche Kapazitäten besaßen diese und worauf waren sie spezialisiert? In dem Fall musste über den Funker ein sogenannter 9-Liner an die Führungsstelle abgesetzt werden – der qualifizierte Notruf im Einsatz, der die wichtigsten Informationen beinhaltete. Dafür existierten Standards, die man als Medic im Schlaf aufsagen konnte: Übergabepunkt, Funkfrequenz und Rufzeichen des Melders, Anzahl der Patienten, sortiert nach Schweregrad der Verwundung, für die Behandlung erforderliche Spezialausrüstung, Sicherheitslage am Notfallort, wie war dieser gekennzeichnet … etc. pp. All diese Daten wurden dann wiederum an die Medical-Kontrollstelle weitergeleitet, damit diese Luftfahrzeuge zur Aufnahme der Verwundeten in Bewegung setzte.
Zu wissen, dass die Rettungskette stand, war im Einsatz auch in psychologischer Hinsicht von Bedeutung, selbst wenn kein Notfall eintrat. Das gab einem ein gutes Gefühl: Du bleibst hier nicht liegen, die holen dich raus. Als ich das erste Mal in Afghanistan war, gab es das so noch nicht. Später war es wie ein Gesetz: Kein Einsatz ohne definierte Rettungskette.
Zu guter Letzt musste man auch all das durchspielen, was nicht unter die anderen Punkte fiel, aber dennoch eintreten konnte – die Eventualitäten-Planung. Jemand brach sich beim Fußmarsch das Bein, oder eins der eingesetzten Luftfahrtzeuge fing sich einen Treffer ein und musste kehrtmachen – konnte man dann die Mission fortführen oder wäre sie abzubrechen? Oder: Um in den Geiselraum zu gelangen, sollte die Tür gesprengt werden, doch dann merkte man plötzlich, dass die berechnete Sprengmittelmenge nicht ausreichte – was dann?
Noch einmal eine Extrakategorie stellte dabei die Annahme dar, dass trotz sorgfältigster Planung alles schiefging – das Worst-Case-Szenario. Die Operation scheiterte auf der ganzen Linie, es blieb als einzige Option, eine flotte Kehrtwendung hinzulegen, auszuweichen und sich zu den eigenen Kräften durchzuschlagen, als Trupp oder als Einzelkämpfer, auch das konnte eintreten. Dann musste ein Sammelpunkt definiert sein. Und es musste ein Zeitfenster stehen, wie lange die anderen dort warteten, bevor sie zum nächsten Sammelpunkt auswichen. Und wo wiederum dieser sich befand. Und wie lange sie dann dort ausharren würden. Bis hin zu einem vereinbarten Aufnahmepunkt, der von Hubschraubern angeflogen würde, um die ausgewichenen Kräfte einzusammeln … und das ist jetzt nur grob dargestellt, da gehörten noch unzählige Details mehr dazu.
Hatte man alles zusammen, wurden die Sachen an der Wand befestigt, falls sie dort nicht schon während des Planungsprozesses gelandet waren, und dem Kommandeur präsentiert. Dabei waren sämtliche Personen anwesend, die sich an der Planung beteiligt hatten, und natürlich die, die den Einsatz durchführen sollten. Konnte man den Kommandeur mit seiner Arbeit überzeugen, in der Regel gab es noch Rückfragen, kontaktierte er die übergeordnete Führung. In einem echten Fall wären dies das Verteidigungsministerium und der Bundeskanzler, der dann die Freigabe für die Operation erteilen würde – oder auch nicht. Wir simulierten diesen Schritt nur.
Parallel zum Planungsprozess wurde in einem gesonderten Raum die Ausrüstung zusammengestellt – Waffen und Munition, Verpflegung, Wasser, Batterien … alles, was man brauchte, für den eigentlichen Plan und für die Alternativen. Der Breacher bereitete die Sprengladung vor, mit deren Hilfe wir uns Zugang zum Zielobjekt verschaffen wollten. Und der Scharfschütze musste eine Waffe auswählen, die zur erwarteten Schussentfernung passte. Wie gesagt, meistens kam der Kommandeur mit Nachfragen. Es konnte auch sein, dass er einzelne Punkte der Planung überarbeitet haben wollte. Stand dann aber alles und gab es grünes Licht von der Führung, blieb nicht viel Zeit, es ging zügig an die Umsetzung – als Übung im Gelände. So wie wir es ausgearbeitet hatten, plus einiger Überraschungen, die sich die Ausbilder einfallen ließen. Wie es bei einem richtigen Einsatz eben auch passieren konnte. Einmal liefen wir nach dem eigentlichen Einsatz am Zielobjekt, einer Holzhütte irgendwo in der Botanik, zum ausgemachten Aufnahmepunkt zurück. Als wir dort ankamen, war der – gedacht – von feindlichen Kräften besetzt, die uns angriffen, sodass wir uns erst in Sicherheit bringen mussten, um dann einen anderen Punkt, den wir als Ausweichvariante geplant hatten, anzusteuern.
Jedenfalls übten wir das alles in den drei Monaten wieder und wieder, bis man nachts davon träumte. Oder positiv gesehen: bis einem die Abläufe in Fleisch und Blut übergingen. Je öfter wir es machten, umso schneller kamen wir voran. Und man selbst fühlte sich bald auch sicherer bei dem, was man tat. Ein schlauer Mensch hat mal herausgefunden, dass man 10 000 Stunden investieren müsse, um in einem Fach Meister zu werden.
Gleichermaßen wiederholungsintensiv betrieben wir das Thema Raumkampf. Das hatte nichts mehr mit dem Feldwebel-Lehrgang zu tun, der war dann zu Ende. Raumkampf immer im Zusammenhang mit der Aufgabe einer Geiselbefreiung oder der Überwältigung von Terroristen. Und meistens in Verbindung mit Schießtraining. Für diese Kombination war das Schießausbildungszentrum in Calw geradezu perfekt geeignet. Dort hatte man die passenden Räumlichkeiten für die verschiedenen Ausbildungsinhalte unter einem Dach. Wir trainierten stationsweise, meist im Trupp, vier oder fünf Mann, wie bei einer echten Einsatzsituation. Der Raum und ich. Der Folgeraum und ich. Das Treppenhaus, rund und eckig. Und der Flur. Und Türen, welche, die rechts angeschlagen waren. Und welche, die links angeschlagen waren. Und die verschiedenen Öffnungsverfahren, aufhebeln, sprengen und so weiter. Und wann welche Funksprüche abzusetzen waren … all diese Abläufe. Mit Tätern, mit Geiseln, mit Unbeteiligten. Mit Geiseln, die unversehrt waren. Mit verletzten Geiseln, die medizinische Versorgung benötigten.
Und dazu immer wieder Schießtraining. Entweder in dem großen Raum, in dem die Stresstests durchgeführt wurden, in einem der anderen Räume oder im Schießkino. Dort gab es eine große Leinwand, auf der über einen Projektor die verschiedensten Übungsszenarien abgespielt wurden, auf die man reagieren musste. Die Leinwand war eine klassische Geschosswand, mit solchen Gummimatten, die die Patronen »schluckten« wie im Stresstest-Raum. Per Lasertechnik wurde registriert, ob man ein Ziel traf oder wo der Schuss landete.
Zum Beispiel wurde eine Gestalt auf einem Schrottplatz gezeigt, die plötzlich ihren Arm bewegte. In Sekundenschnelle musste man dann erkennen, ob die Gestalt eine Waffe zog oder nur grüßte, und entweder schießen oder nicht. Oder auf der Leinwand bewegte sich ein Ball, den man treffen sollte. Oder es erschien eine Rechenaufgabe, Kästchen mit Zahlen und der Rechenart. Und dazu andere Kästchen mit verschiedenen Ergebnissen. Dann hatte man blitzschnell die Aufgabe auszurechnen und das Kästchen mit dem richtigen Ergebnis ins Visier zu nehmen. Und schon erschien die nächste Aufgabe. Oder es wurde ein Blick auf idyllische Natur gezeigt oder auf ein Gebäude und dann tauchte plötzlich eine Schützenscheibe auf, Tango-Golf-Konstellation, also Täter und Geisel. Oder eine, auf der ein Unbeteiligter zu sehen war, oder ein Täter allein, sodass man in kürzester Zeit die Situation erfassen und wieder die Entscheidung treffen musste, schieße ich oder schieße ich nicht. Und wenn schießen angeraten war, sollte man natürlich auch treffen. Man musste also die ganze Zeit, jede einzelne Sekunde, hochkonzentriert sein – und extrem reaktionsschnell.
Auch hier brauchte es viele Stunden Übung und unzählige Wiederholungen, um ein Level zu erreichen, das einen für Einsätze qualifizierte und einem selbst Sicherheit gab. Und noch mal viele Stunden und Wiederholungen, um dieses Level zu halten oder eine noch höhere Stufe zu erklimmen. Nur so konnte man als Kommandosoldat seinem Auftrag gerecht werden. Selbst als ich später ins PLEX-Team wechselte, diesen Teil der Ausbildung für unsere Kompanie übernahm und die Übungen leitete, trainierte ich so oft es ging mit. Um mich fit zu halten, aber auch, um bereit zu sein für einen Einsatz, falls es die Lage erforderte.