Um das Leben in der Kaserne in Calw rankt sich so mancher Mythos. Die Medien strapazieren gern die Formulierung von der geheimnisumwobenen Eliteeinheit. Tatsächlich werden die Einsätze des Kommandos seit jeher streng geheim gehalten, selbst wenn es sich nicht um Kampfeinsätze, sondern Ausbildungsmissionen handelt – die stillen Profis. Und Geheimnisse lassen nun einmal die Fantasie blühen, das liegt in der Natur des Menschen. Wenn man etwas nicht weiß, stellt man sich unter Umständen die wildesten Geschichten vor. Damit will ich nicht sagen, dass wir Kommandosoldaten die Langeweile auf einem Tablett vor uns hertrugen. Ganz und gar nicht. Aber es war auch nicht so, dass wir 12 Monate im Jahr von einem spektakulären Einsatz zum nächsten hetzten und uns jede Woche an einem anderen Ort unseres Planeten aufhielten. Die Realität lag dazwischen. Für eine Kommandokompanie teilte sich das Jahr grob in zwei Abschnitte: sechs Monate Einsatz samt Vor- und Nachbereitung und sechs Monate Ausbildung, wozu Lehrgänge, Übungen, Weiterbildungen und solche Auffrischungen wie für den Combat First Responder gehörten. Da Ausbildungsmaßnahmen nicht selten woanders stattfanden (am weitesten entfernt die Freefall-Lehrgänge in Arizona und die Klimazonentrainings im hohen Norden Kanadas sowie im Dschungel von Belize), war man auch dann gut unterwegs, aber nicht ständig. Während der Zeit jedoch, die man in Calw verbrachte, waren die Tage geregelt wie in einer Behörde: Dienst von 7 bis 16:30 Uhr. Danach fuhren die Heimschläfer nach Hause oder man verabredete sich zum Sport. Oder der Schützenverein traf sich zum Training im Schießausbildungszentrum. Der normale Alltag von Soldaten in Friedenszeiten.
Da ich gerade bei dem Mythos war, der das Kommando in Calw umgibt, von wegen geheimnisvolle, verschworene Truppe: Wir im Gebirgstrupp waren damals tatsächlich wie eine kleine Familie. Man brauchte sich nur anzugucken und wusste, was der andere wollte. So etwas bekommt man bis zu einem gewissen Grad durch Training hin, indem man die Abläufe im Team perfekt einstudiert. Noch eine Stufe anders ist es, wenn man sich auch menschlich versteht. Und hier kommt Kameradschaft ins Spiel. Vertrauen, Zusammenhalt, gegenseitiger Respekt, für den anderen einstehen – in guten wie in schlechten Zeiten … nein, im Ernst, diese Kameradschaft machte uns aus und war zugleich ein Teil unserer Motivation. Im Team und für das Team gut sein. Und besser werden, jeder Einzelne, damit das Team davon profitierte. So in etwa kann man sich das vorstellen.
Insofern stimmte das mit dem Mythos – in diesem Punkt, für unseren Trupp, zu anderen kann ich nichts sagen. Ich gehe aber davon aus, dass es dort ähnlich war. Ohne Kameradschaft und einen gewissen Korpsgeist, dieses besondere Wir-Gefühl, stelle ich mir das im Einsatz schwierig vor. Und auch sonst. In einem Trupp ist jeder auf jeden angewiesen, man muss sich zu hundert Prozent aufeinander verlassen – und verlassen können, wie sollte es anders funktionieren? Wir wurden dafür ausgebildet, unserem Land zu dienen und unser Leben für dieses Land zu riskieren. Das sind große Worte, die fast schon heroisch klingen. Auf den Alltag übertragen, fing das beim Nebenmann an, mit dem man trainierte und mit dem man in einen Einsatz zog.
Darüber hinausgeschaut, stellte es sich etwas anders dar. Gewöhnlicher, wie es wahrscheinlich überall anzutreffen ist. Mit einigen war man gut befreundet, auch außerdienstlich, mit anderen kam man aus, in der Regel auch gut, ohne dass man nach der Dienstzeit etwas mit ihnen zu tun hatte, und dann gab es noch welche, denen man aus dem Weg ging – diese Kategorie Mitmensch war natürlich ebenfalls vertreten. Manche führten Buch über die Fehler der anderen. Nicht etwa, weil sie sonst nichts zu tun gehabt hätten, sie munitionierten sich damit, um demjenigen bei Gelegenheit zu schaden. Oder sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, zum Beispiel wenn Beurteilungen anstanden. Manche schreckten nicht einmal vor Erpressung zurück. Nicht zu vergessen die Schleimer. Bei uns hießen sie Brownies – weil sie ihrem Vorgesetzten in den Allerwertesten krochen. Aber auch solche Zeitgenossen trifft man vermutlich überall an.
Wie allgemein bekannt sein dürfte, war der Initialimpuls für die Gründung des KSK, eine kleine schlagkräftige Truppe mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und ausgestattet mit modernster Technik aufzubauen, um deutsche Staatsbürger, die irgendwo auf der Welt als Geiseln genommen wurden, zu befreien. Ursprünglich nach dem Vorbild des britischen Special Air Service (SAS) dann stärker orientiert an den U. S. Navy SEALs. Was – verständlicherweise – bisher nicht in den Vordergrund gerückt wurde: Noch nie in all den Jahren führte das KSK eine solche Geiselbefreiung durch. Zwar gab es mehrere Male einen konkreten Auftrag, eine solche Befreiung vorzubereiten, zu planen, wie man es am besten anstellen könnte, doch in keinem dieser Fälle kam es zur Umsetzung der in Calw entworfenen Einsatzstrategien. Einmal, ich kam gerade von einem Lehrgang zurück, sollten wir nach Ägypten. Dort war eine Reisegruppe, zu der fünf Deutsche gehörten, entführt worden. Doch bevor wir aktiv werden konnten, kamen die Touristen, die ins sudanesische Grenzgebiet verschleppt worden waren, wieder frei, nach zehn Tagen oder so. Angeblich hatten einheimische Sicherheitskräfte einige der Entführer getötet, woraufhin die übrig gebliebenen die Geiseln laufen ließen. Eine andere Version besagte, es sei Lösegeld im Spiel gewesen. Wie es hieß, hatten die Kidnapper 15 Millionen Dollar gefordert.
Im Zuge seiner Aufstellung wurden dem KSK aber noch weitere Kernaufträge zugedacht, für die Kommandokräfte dann tatsächlich im Einsatz waren. Ein Punkt betraf die Gefangennahme von Terroristen und Kriegsverbrechern, Letzteres vor allem im ehemaligen Jugoslawien, das war vor meiner Zeit. Was Terroristen anging, konzentrierten sich die Aktionen im Wesentlichen auf Afghanistan. Dort wurden über die Jahre mehrere Talibanführer geschnappt, wobei unsere Kräfte dabei selten allein agierten und meist nur eine Beobachter- oder Sicherungsrolle innehatten. Andere Kernaufträge bezogen sich auf die Bekämpfung von sogenannten Hochwertzielen des Gegners, von Zielen also, die für den Gegner von strategischer und operativer Bedeutung sind, so etwas wie Kommandozentralen, Waffendepots oder wichtige Logistikeinrichtungen. Und auf die Gewinnung von Schlüsselinformationen für die eigene Führungsebene. Damit wurden wir zum Beispiel bei meinem ersten Einsatz in Afghanistan betraut, wovon ich noch berichten werde.
Wenn man es genau nimmt, ist ein Konstrukt wie das KSK darauf ausgerichtet, unendlich viel Energie und Zeit und nicht zuletzt eine Menge Geld darauf zu verwenden, eine schlagkräftige Truppe von Soldaten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten auszubilden und für Einsätze bereitzuhalten, von denen niemand sicher weiß, dass es sie geben wird. Über die Jahre flammte immer wieder die Diskussion auf, ob wir als hoch spezialisierte Kräfte nicht unter unseren Möglichkeiten eingesetzt wurden – hier auch wieder das Beispiel Afghanistan. Nicht generell, aber bei manchen Operationen. Jeder Kommandosoldat, der an solchen Einsätzen teilnahm, wird darauf seine eigene Antwort haben. Aus meiner Sicht war unser Trupp an einigen Einsätzen beteiligt, die weniger qualifizierte Soldaten ebenso gut hätten bewältigen können, besonders in der Anfangszeit. Das soll nicht heißen, dass ich die Sinnhaftigkeit des KSK anzweifle oder das jemals tat, überhaupt nicht. Eher konnte man über das Engagement in Afghanistan diskutieren, nicht speziell das des KSK oder der Bundeswehr, sondern allgemein des Westens. Als ich dort eingesetzt war, stellte ich es nicht infrage – heute sage ich: Wir hatten dort niemals etwas verloren. So gern manche Politiker sich das offenbar einreden, man kann die westliche Demokratie nicht in jedes Land tragen. Tief in der eigenen Geschichte und Religion verwurzelte Kulturen lassen sich nicht im Handumdrehen umkrempeln. Wie man gesehen hat, nicht einmal innerhalb von 20 Jahren.
Aber das ist an der Stelle nicht der Punkt. Mir geht es um die Einstellung, die man als Kommandosoldat mitbringen musste. Die Bereitschaft, Abläufe und Trainings tausendmal und noch öfter zu wiederholen, wieder und wieder seine Grenzen auszuloten, besser zu werden in dem, was man machte, um noch schwierigere Herausforderungen zu bewältigen – auch wenn man es vielleicht nie in einem Einsatz anwenden würde. Und ohne dafür jemals wirklich Dank oder Anerkennung zu bekommen. Außer vielleicht vom Kommandeur, aber wer das zu meiner Zeit auch war, sie hatten alle die gleichen Texte, die sie immer abspulten … Dank auch an die Familie und so weiter und so fort. Was sollte man damit anfangen? Von der Politik oder der Öffentlichkeit, den Medien, hatte man ebenfalls nichts zu erwarten. Wenn es Berichte gab, dann waren es meist Negativgeschichten. Ich erinnere mich überhaupt nur an eine Geschichte, wo wir als KSK mal lobend erwähnt wurden – 2016 war das, nach dem Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Scharif. Dort war eine andere Kompanie von uns im Einsatz, nachdem die Attentäter die Flucht ergriffen hatten, was zu dem Zeitpunkt allerdings niemand wissen konnte. Vor einiger Zeit schrieb eine Zeitung, die über das KSK berichtete – ich glaube, es war Die Zeit –, in Deutschland Elitesoldat zu sein, sei gut und schlecht zugleich. Man überlebe diesen Job vermutlich nirgendwo mit höherer Wahrscheinlichkeit, sei bestens ausgebildet und ausgerüstet, müsse aber nicht wirklich kämpfen. Genau das sei aber auch der Grund, weshalb der Job vermutlich nirgendwo so frustrierend sei – eben weil man bestens ausgebildet und ausgerüstet sei, aber trotzdem kaum kämpfe. Das beschreibt ganz gut, dass man schon eine große Portion Motivation mitbringen musste.