»Anweisungen für den Fall meines Todes«

Ich reiste als Alexander Tellge nach Afghanistan. Das war der Name, der in meinem Dienstausweis stand. Es war ein neuer Dienstausweis, der reguläre, der meinen richtigen Namen enthielt, wurde in der Kompanie in einem Safe eingeschlossen. Ebenso mein Reisepass und der Personalausweis. Jeder von uns bekam einen Tarnnamen, um seine Identität im Einsatzland zu schützen. Das zweite Reisedokument, das uns legitimierte, war ein NATO-Marschbefehl. Auch darauf war der falsche Name vermerkt. Wir waren vier Mann, unser Trupp, der Gebirgstrupp. Die anderen Kräfte kamen später nach.

Vor der Abreise hatten wir eine Woche Urlaub erhalten, um Zeit mit der Familie verbringen zu können, mein Sohn war damals zweieinhalb. Außerdem wurde uns nahegelegt, ein Testament aufzusetzen und alles zu regeln für den Fall, dass man nicht lebend zurückkam. Dafür gab es ein Formular, das wir »Shit Map« nannten, vier Seiten – »Anweisungen für den Fall meines Todes«. Ein Punkt darauf: »Ich wünsche Erdbestattung/Feuerbestattung/Seebestattung …« Für die Art des Grabsteins konnte man auch eine Wahl treffen.

Unsere Ausrüstung wurde in Blechkisten verstaut, die mit Luftfolie ausgepolstert waren. Die Waffen kamen separat verpackt in den Waffentransportcontainer. Ein Bus brachte uns zum Flughafen nach Köln, zum militärischen Teil. Dort erwartete uns ein Oberstleutnant vom Einsatzführungskommando der Bundeswehr, das in Schwielowsee bei Potsdam saß. Genauer gesagt vom Kommando FOSK – Führung Operationen von Spezialkräften –, das dort kurz zuvor als Extra-Kommando installiert worden war, ausschließlich zuständig fürs KSK und die Spezialisierten Kräfte der Marine, wie sie damals hießen, hauptsächlich Kampfschwimmer und Minentaucher. Der Oberstleutnant erteilte uns den ersten Auftrag für unseren Einsatz: Bewaffnete Rückführung eines Mitarbeiters einer internationalen Nichtregierungsorganisation. Er gab uns die wichtigsten Koordinaten, wo der Mann steckte, ein Engländer. Während des Flugs sollten wir einen Plan ausarbeiten, wie wir die Aktion durchführen würden.

Wir flogen mit einem Airbus der Luftwaffe. Keine Transportmaschine, Sitze wie bei der Lufthansa. Unser Ziel war nicht Afghanistan, sondern Termiz, eine Stadt im Süden Usbekistans, nahe der Grenze. Dort befand sich der Strategische Lufttransportstützpunkt der Bundeswehr, über den ein Großteil der Truppentransporte nach Afghanistan abgewickelt wurden. Aus Sicherheitsgründen. Von da flogen die Einsatzkräfte mit C-160-Transalls oder CH- 53-Hubschraubern weiter, die zum Teil gepanzert und mit Raketenabwehrsystemen ausgestattet waren. Oder mit amerikanischen Hercules-C-130-Flugzeugen, insbesondere nach Faizabad, die Landebahn dort war für Transalls nicht geeignet.

Wir blieben zunächst in Termiz, am Flughafen. In einem separaten Bereich richteten wir behelfsmäßig unsere Planungszelle ein. Die taktische Ausrüstung und die Waffen kamen in einer anderen Maschine nach. Allerdings war keine Munition dabei. Die Nacht über konkretisierten wir unseren Plan, in Absprache mit den Piloten zweier CH-53, die uns bei dem Einsatz fliegen sollten. In so einen Hubschrauber passten bis zu 36 Mann. Theoretisch hätte also einer mehr als genügt, doch es flogen immer zwei – falls es zu Zwischenfällen kommen sollte.

Am nächsten Tag ging es mit den Hubschraubern nach Faizabad weit oben im Nordosten Afghanistans, unser eigentliches Ziel. Dort, in der Hauptstadt der Provinz Badachschan, unterhielt die Bundeswehr seit 2004 ein Feldlager, als Standort eines Provincial Reconstruction Teams (PRT), das im Rahmen von ISAF, der Sicherheits- und Wiederaufbaumission der NATO, entsandt wurde. Der Flugplatz, auf dem wir landeten, stammte noch aus der Zeit, als die Sowjets in Afghanistan waren. Die Landebahn eine Rumpelpiste aus Beton-Schnellverlegeplatten, als Terminal diente eine schlichte Lehmbude nach Art des Lands. Das Bundeswehr-Feldlager hatten sie direkt nebenan aufgebaut. Als wir aus dem Hubschrauber stiegen, dachte ich: Landschaftlich ganz interessant, aber strategisch nicht unbedingt die beste Wahl. Faizabad liegt auf einer Höhe von etwa 1200 Metern. Rundherum erheben sich noch höhere Berge, die bis zu 2000 Meter in den Himmel ragen, sodass die Häuser in einem Talkessel stehen, entlang eines Flusses, der sich durch dieses Tal windet. Lager und Flugplatz lagen am Rand der Stadt, wo die Bebauung aufhörte, waren aber ebenfalls von Bergen umgeben. Von den Höhen boten wir Feinden ein gut einsehbares Ziel. Zu der Zeit galt die Region noch nicht als Taliban-Gebiet, trotzdem war das Lager bereits einige Male mit russischen Raketen beschossen worden. Der nächste Auftrag, um den wir uns kümmern sollten.

Aber noch standen wir auf dem Flugplatz. Der Zugführer des Sicherungszugs, der das Lager bewachte, eine Infanterieeinheit der Bundeswehr, hatte uns Essen und Getränke besorgt, was wir uns in der Lehmhütte schmecken ließen. Und er hatte aus dem Lager Munition für uns bringen lassen, die er von den Beständen seines Sicherungszugs abzweigte, damit wir aufmunitionieren und direkt zu unserem Einsatz starten konnten. Das Ziel: ein Kaff in den Bergen, etwa eine Dreiviertelstunde entfernt. Viel mehr Details hatten wir nicht. Die Beschaffenheit des Geländes? Fehlanzeige. Die Minensituation? Keine Erkenntnisse. Auch die beiden Piloten, Heeresflieger, waren noch nie dort gewesen.

Mit dem NGO-Mitarbeiter war ausgemacht worden, dass er sich zu einer festgelegten Zeit an einer bestimmten Stelle am Rand des Dorfs auf den Boden kniete und die Hände über dem Kopf verschränkte. Sozusagen als Erkennungscode. Wir hatten ein Foto von ihm bekommen, damit wir ihn sicher identifizieren konnten. So lief es dann auch. Er hockte am vereinbarten Platz. Der Hubschrauber ging runter, wir sind raus, nahmen die Sicherungspositionen ein. Dann hin zu dem jungen Mann, er war um die 30, PID durchgeführt, positive identification, also gecheckt, ob es sich tatsächlich um unsere Zielperson handelte … und zurück zum Hubschrauber. Nichts Aufregendes. Für ihn schien die Aktion trotzdem stressig gewesen sein – er zitterte am ganzen Leib und hatte sich in die Hose gemacht. Allerdings wussten wir auch nichts über die Hintergründe, warum er mit diesem Aufwand dort herausgeholt wurde.

Dann zurück nach Faizabad, diesmal in das Feldlager, wo wir ein Übergangszelt bezogen. Darin wurden die untergebracht, die frisch aus der Heimat kamen und warten mussten, bis ihre Vorgänger die eigentliche Unterkunft freimachten. Falls ich mich recht erinnere, waren wir die ersten Kommandokräfte, die in dem Lager eingesetzt wurden. Spezialkräfte bekamen normalerweise einen separaten Bereich, der extra abgesperrt wurde, somit zusätzlich gesichert war. Dort mussten wir den erst mal mit aufbauen.

Außerdem hatten wir noch Hausaufgaben zu erledigen. Der Raketenbeschuss. Bisher waren die Raketen immer neben dem Lager eingeschlagen. Es wurden auch nicht jede Nacht welche abgefeuert. Aber hätte nur eine ins Ziel getroffen, hätte es wahrscheinlich mehrere Tote und Verletzte gegeben. Ganz abgesehen davon, dass wir jetzt auch selbst Zielscheiben abgaben.

Inzwischen hatten wir in Erfahrung gebracht, dass sich auf den Höhen rings um das Lager alte Stellungen befanden, die einst die Sowjets angelegt hatten. Also machten wir uns auf den Weg, die Lage dort oben zu erkunden. Wir hatten eine ungefähre Richtung lokalisiert, auch wie hoch wir mussten, konnten wir in etwa abschätzen. Und wir hatten einen afghanischen Local Guide dabei. Was wir jedoch nicht wussten: ob die Stellungen beziehungsweise die Zugänge dorthin gesichert waren, durch Schützenabwehrminen zum Beispiel.

Der Marsch dauerte Stunden. Ziemlich genau dort, wo wir es vermutet hatten, stießen wir tatsächlich auf ein Stellungssystem beziehungsweise auf die Überreste davon. Es war wie eine Zeitreise 20 Jahre zurück. In der Nähe des Dorfs, in dem ich aufwuchs, waren Einheiten der Sowjetarmee stationiert. Über die Sommermonate bezogen sie eine Art Außenlager in einer alten Sandgrube, in die sonst niemand reindurfte, das Gelände war abgesperrt. Wir Kinder waren natürlich neugierig, was die geheimnisvollen Besucher dort trieben. Von außen konnte man kaum etwas sehen, alles war mit Tarnnetzen abgespannt. Doch wenn die Truppe im Herbst wieder abrückte und niemand mehr da war, schlichen wir uns rein. Daran musste ich auf dem Berg denken. Die Laufgräben in der Sandgrube hatten ähnlich ausgesehen. Dort gab es eine Holzbaracke, mehr eine Bretterbude, vielleicht zehn Mann hatten darin schlafen können. Alle anderen müssen den Sommer über in den Stellungen gehaust haben, bei jedem Wetter, manche Grabenabschnitte waren überdacht. Wer weiß, dachte ich, vielleicht waren damals Soldaten darunter, die später hierhergeschickt wurden. Wo wir gerade standen, musste es noch unmenschlicher zugegangen sein, schon wegen der Temperaturen, im Sommer konnte es unerträglich heiß werden. Und auch hier stand nur eine einzige kleine Hütte, nicht aus Holz, aus Lehm. In dieser Hütte fanden wir schließlich, was wir gesucht hatten. Es war ein ganzer Stapel Raketen, 30 bis 40 Stück. Und dazu Munitionsgurte für Maschinengewehre. Als hätten die Sowjets erst vor Kurzem die Stellung aufgegeben, nur dass die Sachen schon halb verrottet waren.

Das Einfachste wäre gewesen, das Zeug an Ort und Stelle zu sprengen. Es kam aber der Befehl, alles ins Tal zu transportieren und dort auf einem regulären Sprengplatz zu vernichten. Deutsche Gründlichkeit. So entstand vermutlich der Begriff Raketenesel. Es waren nämlich Maulesel, die unseren Fund ins Tal schleppten, rechts ein paar Raketen, links ein paar Raketen. Aber das war nicht mehr unser Job, wir hatten unsere Mission erfüllt.

Man konnte natürlich die Frage stellen, ob es Spezialkräfte wie uns für solche Einsätze brauchte. Andererseits wusste niemand, was einen außerhalb des Lagers erwartete. Offiziell wurde die Gefährdungslage als nicht sehr hoch eingeschätzt. Aber es konnte immer jemand hinter einer Kurve, einem Bergfelsen lauern, der uns nicht wohlgesinnt war, um es mal so auszudrücken. Wer auch immer die Raketen abgefeuert hatte, er wird nicht aus Spaß auf das Lager gezielt haben. Außerdem war abzusehen, dass das Engagement der Bundeswehr nicht nur vorübergehend sein würde. Man konnte es also auch als eine Art von Akklimatisierung betrachten, sich mit dem Einsatzort vertraut zu machen, mit der Natur, den Menschen, ihrer Kultur.

So gesehen war unser erster längerer Ausflug eine günstige Gelegenheit, die landestypischen Gegebenheiten besser kennenzulernen. Den Grund weiß ich nicht mehr, aber eines Tages wurden wir nach Kundus geschickt. Wir fuhren in einem kleinen Konvoi, vier Fahrzeuge, die üblichen Mercedes-Jeeps, G 250 Wolf, Diesel, Schaltgetriebe. Etwas umgebaut, damit man nach hinten sichern konnte. Die Entfernung nach Kundus betrug rund 250 Kilometer. Bei normalen Straßenverhältnissen keine lange Fahrt. Nur war das Wort Straße vollkommen unangebracht. Ein mittelprächtiger Feldweg in Deutschland hätte dort als Autobahn gegolten. Ich war als Fahrer eingeteilt. Die Navigation lief über Karte und Kompass. Wir hatten auch GPS dabei, nutzten das aber kaum. Man musste immer schauen, wo man weiterkam und ob grob die Richtung stimmte. Die Landschaft, durch die wir im Schneckentempo zuckelten, gezwungenermaßen, war das, was man unwirtlich nennt, aber in ihrer Kargheit schon wieder beeindruckend. Wir hatten Anfang Juni, die Piste war so trocken, dass wir durch eine einzige Staubwolke fuhren. Bei jedem Halt klopften wir unsere Klamotten aus. In vielen Gegenden schienen noch Minen zu liegen. Man sah ständig rot-weiß markierte Steine auf dem Boden. Die weiße Seite sollte die gute sein, die hatten sie geräumt, die rote betrat man besser nicht, wenn einem sein Leben lieb war. Gelangten wir an Brücken, schauten wir uns die erst mal an, bevor wir vorsichtig drüberrollten. Oft waren es einfachste Verlegebrücken, offenbar auch noch von den Sowjets, ohne Leitplanken oder Geländer. Einen Fahrfehler durfte man sich da nicht erlauben. Manche führten über eine Schlucht, die geschätzt 30, 40 Meter in die Tiefe ging. Am Ende brauchten wir 12 Stunden für die Strecke. Als wir Kundus erreichten und das Lager ansteuerten, dämmerte es bereits. Es war noch das alte Lager, das in der Stadt lag, eingerahmt von Mauern, direkt dahinter befanden sich Unterkünfte. Es wäre ein Leichtes gewesen, eine Granate über die Mauer zu werfen.

Wieder zurück in Faizabad zogen wir in den neu geschaffenen abgetrennten Bereich. Unser Trupp bekam ein Zelt, in dem genug Platz für unsere Ausrüstung war. Wie ich schon erwähnte: Wir lebten mit unseren Waffen, hatten sie 24/7 bei uns. Das Zelt teilten wir mit einem Sniperzug aus Calw, der inzwischen eingetroffen war. Die operativen Kräfte im Lager, zu denen wir gehörten, wurden in MOLTs eingeteilt – Mobile Observation and Liaison Teams. Ihr Auftrag: Aufklärung in der Fläche. Die Region, für die das Lager zuständig war, war in verschiedene Distrikte aufgeteilt. Die MOLTs sollten herausfinden, wie die Situation in den einzelnen Distrikten war, wer dort das Sagen hatte, wie die Menschen uns gegenüber eingestellt waren, ob man mit ihnen zusammenarbeiten konnte … also ein möglichst umfassendes Lagebild liefern. Anfangs betrieben wir die Aufklärung gemeinsam mit dänischen Soldaten, die ebenfalls im Lager stationiert waren. Zusammen waren wir acht bis zehn Fahrzeugbesatzungen. Später bildeten wir ein rein deutsches Team, ausgenommen unser Dolmetscher, das war ein Afghane, der in Dresden studiert hatte. Und wir bekamen AGFs, Aufklärungs- und Gefechtsfahrzeuge, die extra für das KSK entwickelt wurden und den Geländegegebenheiten weitaus besser entsprachen. Außerdem hatten sie eine ordentliche Bewaffnung an Bord und verfügten über genügend Stauraum für unsere Ausrüstung. Da wir im Schnitt 14 Tage unterwegs waren, mussten auch Feldbetten und solche Sachen mit.

Man konnte stundenlang durch die Gegend fahren, ohne dass man einer Menschenseele begegnete. Das musste aber nicht bedeuten, dass dort niemand war. Oder dass uns niemand sah. Wenn wir dann nämlich in einen Ort kamen und den Stammesfürsten aufsuchten, schien der selten überrascht, dass Besuch in der Tür stand. Einer erzählte uns, er wüsste seit Stunden, dass wir uns seinem Dorf näherten. Des Rätsels Lösung: Auf den Bergen, von denen man die Zufahrtsstrecke weithin einsehen konnte, saßen seine Leute, ausgestattet mit Fernglas und Satellitentelefon. In anderen Orten war es ähnlich.

Selbst wenn wir nicht willkommen waren, wurden wir willkommen geheißen. Das Gastrecht war dort heilig. Es beinhaltete freundliche Worte, aber ebenso die Verpflichtung, seine Gäste zu verpflegen. In manchen Dörfern wurde schnell ein Schaf geschlachtet, über einem Feuer gebrutzelt und das Fleisch am Spieß mit Fladenbrot gereicht. Trotz solcher großzügigen Gesten wussten wir allerdings nie, was unser Gegenüber wirklich dachte. Um an brauchbare Informationen zu gelangen, musste man anders vorgehen. Manchmal entwickelte sich ein solcher Besuch zu einem kleinen Volksfest – was wir beabsichtigten. Ein Hahnenkampf wurde angesetzt, oder die Einheimischen und wir verabredeten ein Vergleichsschießen, sie mit ihren Waffen, wir mit unseren. Dann holte fast jeder von denen stolz eine Kalaschnikow aus seiner Hütte. Damit brachten wir gleich zwei Dinge in Erfahrung: über welche Bewaffnung sie verfügten und wie gut sie damit umgehen konnten. Oder man gab kurz seine eigene Waffe aus der Hand, dann kamen sofort alle angerannt. Je ungezwungener die Stimmung wurde, umso größer war die Chance, mehr über unsere Gastgeber zu erfahren. Idealerweise war die Stimmung irgendwann so gut, dass man sich zu gemeinsamen Fotos mit dem Stammesfürsten aufstellte.

Meist blieben wir ein, zwei Tage, bevor wir zum nächsten Ort weiterfuhren oder zum Lager zurück. Für die Nächte hatten wir die Feldbetten dabei. Oder wir schliefen auf Isomatten, immer unter freiem Himmel. Selbst wenn uns eine Lehmhütte für die Übernachtung angeboten wurde, blieben wir bei unseren Fahrzeugen und hielten abwechselnd Wache. Nur so konnten wir sicherstellen, dass ihnen niemand zu nahe kam, irgendetwas manipulierte oder einen undefinierbaren Gegenstand hinterließ, der bei der nächsten Erschütterung alles in die Luft fliegen ließ. Damit musste man immer rechnen, auch wenn wir offiziell im Friedenseinsatz waren.

Mit der Zeit konzentrierte sich die Raumaufklärung immer stärker auf die Frage, über welche Waffen und militärischen Fähigkeiten die einzelnen Gruppierungen in der Region verfügten. Ob man sie nun Warlord, Stammesführer oder anders nannte, jede dieser Figuren scharte eine gewisse Anhängerschaft um sich, um ihre Interessen durchzusetzen. Zwar war der Bürgerkrieg im Land offiziell beendet, die alten Rivalitäten bestanden jedoch fort. Die Regierung in Kabul hatte einen Gouverneur für die Provinz ins Amt gehoben, der von der Bevölkerung nicht akzeptiert wurde, erst recht nicht von den Warlords. Der Gouverneur wiederum konnte sich weder auf eine Armee stützen, die existierte nicht, noch auf die Polizei. Polizeikräfte gab es zwar, aber wenige – und diese wenigen waren schlecht oder gar nicht ausgebildet. Oder kriminell. Wie später herauskam, war der Polizeichef himself in Drogengeschäfte verstrickt. In dem Jahr nach unserem damaligen Einsatz soll er eines Nachts mit mehreren Säcken Heroin und Opium verschwunden sein. Dafür existierten in jeder Region bewaffnete Milizen, die von Warlords und mancherorts wohl auch von Kriegsverbrechern angeführt wurden. Und es gab Unmengen an nicht registrierten Waffen, an Munition und Sprengmitteln. Hier kamen wir ins Spiel.

Irgendwann in dieser Zeit kam es noch einmal zu einem RPG-Beschuss unseres Lagers, und diesmal verfehlte die Granate ihr Ziel nicht. Sie schlug in das Übergangszelt ein, in dem wir die ersten Tage untergebracht waren. Glücklicherweise hielt sich derjenige, dessen Bereich getroffen wurde, just in dem Moment im Duschcontainer auf. Unser Trupp wollte sofort los, um den oder die Schützen ausfindig zu machen. So eine Rakete flog maximal 400 Meter, er konnte also nicht weit entfernt sein. Nach unserer Schätzung musste sie aus Nordosten gekommen sein, vermutlich vom anderen Ufer des Flusses. Doch der Kommandeur des Lagers stoppte uns. Alle sollten sich im Bunker in Sicherheit bringen. Der Bunker war ein Container, der in der Mitte des Lagers stand, rundherum geschützt mit Sandsäcken, die bis übers Dach aufgetürmt waren.

Am nächsten Tag klärte sich die Sache zwar nicht auf, aber man konnte eins und eins zusammenzählen, nachdem einer dieser Warlords, wohl der mächtigste in der Provinz, ihm sollen 1500 Milizkämpfer unterstanden haben, im Feldlager auftauchte und sich eine Audienz beim Kommandeur verschaffte. Angeblich um sein Entsetzen über den Angriff kundzutun. Er wollte sich höchstpersönlich des Falls annehmen und dafür Sorge tragen, dass so etwas nie wieder vorkäme. Schließlich sei man gut Freund und so weiter, während er ein Lächeln vorspielte. Jeder wusste, dass dieser Kerl im großen Stil im Drogen- und Waffenhandel mitmischte, seine Leute die wichtigsten Schmuggelrouten kontrollierten. Und dass er den Gouverneur als seinen Erzfeind betrachtete. Wir dagegen unterstützten den Gouverneur. Darauf war die ISAF-Mission ausgerichtet, die eingesetzte Provinzregierung zu stärken, um damit dann auch die Regierung des Lands zu stärken. Dass ihm das nicht in den Kram passte, hätte der Warlord niemals direkt gesagt. Indem er uns eine Granate schickte, wollte er den Gouverneur schlecht dastehen lassen. Und somit auch uns, weil wir aufs falsche Pferd setzten, aus seiner Sicht. Ein bisschen um die Ecke gedacht, aber so tickten solche Gestalten. Sie lächelten ihrem Gegenüber schamlos ins Gesicht, während sie gleichzeitig einen Plan ausheckten, wie sie denjenigen beseitigen konnten.

Wir konzentrierten uns also zunehmend darauf, Waffen und Waffenverstecke ausfindig zu machen. In manchen Orten fragten wir direkt danach. In der Regel zeigten uns die Leute ihre Lager, oft überraschend bereitwillig. Genauso überraschend war dann der Anblick, der sich uns bot. Meist war es eine Sammlung von Uralt-Waffen, Sturm- und Maschinengewehre, Maschinenpistolen, größtenteils sowjetischer beziehungsweise russischer Bauart. Auch Panzerminen und RPGs. Fast alles verrottet und nicht mehr funktionstüchtig. Dazu die überfreundlichen Gesichter der Leute, die ihre »Schätze« präsentierten. Man wurde oft das Gefühl nicht los, die verarschen einen. Präsentierten Schrott und hielten die wahren Waffen, die noch etwas taugten, verborgen.