Rustaq

Im Zuge dieser Maßnahmen kamen wir nach Rustaq, einem kleinen Ort irgendwo im Nirgendwo, 10 000 Einwohner hätte ich geschätzt, noch ein Stück weiter nördlich. Vorher mussten wir einen Umweg über Kundus einlegen, um einen Soldaten aufzunehmen, der die Strecke kannte. Vielmehr, der sie kennen sollte, da er sie bereits gefahren war, angeblich mehrmals.

Wir übernachteten in Kundus und machten uns früh am Morgen auf den Weg. Ich war die gesamte Zeit als Fahrer eingesetzt. Als die Sonne am Horizont auftauchte, durchquerten wir gerade ein wüstenähnliches Gebiet mit Sand- und Steinböden. Der Wechsel der Farben, ein atemberaubendes Schauspiel, als hätte jemand ein riesiges Tuch mit Engelsgeduld über die Landschaft gezogen. Schade nur, dass wir uns auf andere Dinge konzentrieren mussten. Ich als Fahrer besonders. Umso mehr, als uns auffiel, dass wir vom Weg abgekommen sein mussten. Der ortskundige Soldat schien doch nicht so ortskundig zu sein. Es waren die weiß-rot markierten Steine am Boden, die uns erst stutzig machten und mich dann bremsen ließen. Irgendwie waren wir auf der roten Seite gelandet, in einem Abschnitt, der anscheinend noch nicht geräumt war. In der Gegend standen zu viele alte Panzerwracks und anderes zerstörtes Kriegsgerät, um das nicht ernst zu nehmen. Wir steuerten zurück, ohne umzudrehen, versuchten dabei, die alte Spur zu treffen, bis wir wieder sicheren Boden unter uns hatten.

Den halben Tag waren wir bestimmt unterwegs, ehe die ersten Lehmhütten am Rand von Rustaq wie aus dem Nichts vor uns auftauchten. Wir nahmen Kurs auf das Ortszentrum, Richtung Bürgermeisteramt, das in der Landessprache vermutlich eine andere Bezeichnung hatte. Unmittelbar daneben befand sich die Polizeistation. Beide Grundstücke waren von Lehmmauern umgeben, wie man es dort überall sieht. Die typischen Compounds. Davor erstreckte sich ein großer, unbefestigter Platz, auf dem Staub aufwirbelte, als wir vorfuhren.

Dann das erste Treffen mit dem Dorfältesten, langer weißer Bart und Turban, wie man es aus Filmen kennt. Und mit dem örtlichen Polizeichef, der war auch dabei. Als Erstes ging es darum, die Verantwortlichkeiten zu erforschen, wer hatte welche Ämter und mit wem mussten wir reden, um unseren Auftrag ausführen zu können. Im nächsten Schritt sollte geklärt werden, wo im Ort Waffen lagerten und wie man es erreichen konnte, dass die Einwohner alles abgaben, was sie an Waffen und Munition in ihrem Besitz hatten. Das Ziel war, kurz gesagt, den gesamten Ort waffenfrei zu bekommen. Allerdings war weder der erste Teil, die eigentliche Aufklärung, noch alles andere, was dafür notwendig war, in zwei oder drei Tagen zu klären. Allein die Annäherung und alles Diplomatische im Vorfeld zog sich über Wochen hin. Was es zusätzlich kompliziert machte: Im Hintergrund schwelte wohl seit Längerem ein Konflikt zwischen dem örtlichen Warlord und seinen schwerbewaffneten Milizen, die ihren Einfluss nicht aufgeben wollten, und den von der Regierung in Kabul eingesetzten staatlichen Kräften, die wir zu unterstützen hatten.

Unser Trupp quartierte sich mit den Fahrzeugen im Garten des Bürgermeisteramts ein. Ein bisschen Gras, ein paar Bäume, viel mehr Grün gab es nicht, also weit entfernt von einer saftigen Oase. Wir bauten unsere Feldbetten auf und schliefen wie üblich unter freiem Himmel, um unseren Fahrzeugen gute Bewacher zu sein. Als Sonnenschutz und Behelfsbedachung spannten wir Planen auf. Tagsüber stieg das Thermometer bis auf fast 50 Grad, da war jedes Fitzelchen Schatten ein Segen.

Dann wurden wir von einem anderen MOLT-Team abgelöst. Auf dem Rückweg zum Feldlager sollten wir eine direkte Strecke nach Faizabad erkunden. Luftlinie lagen die beiden Orte nicht einmal halb so weit entfernt, wie wenn man die Autostrecke über Kundus nahm. Ein abenteuerliches Unterfangen, wir waren mit vier Fahrzeugen unterwegs, zwei AGFs, zwei Mercedes-Jeeps. Ein bisschen Camel Trophy, ein bisschen Nervenkitzel, auch ein bisschen Lebensgefahr, aber wir schafften es ohne größere Schäden. Unterm Strich ein Fahrtraining der speziellen Art, kombiniert mit einer Extralektion Orientieren im Gelände.

Nach ein oder zwei Wochen kam unser Trupp zurück, um nun selbst andere Kräfte abzulösen. Inzwischen waren die Gespräche so weit gediehen, dass eine Schura einberufen wurde. Mehrere Hundert Personen versammelten sich auf einem alten Militärgelände unweit der Polizeistation. Unsere Teamführer waren dazu auch geladen, sie führten für unsere Seite die Verhandlungen, vermittelt durch einen Dolmetscher.

Wir waren wieder als MOLT-Team unterwegs. Das bestand aus unserem Gebirgstrupp, einem amphibischen Trupp und Leuten von den Spezialisierten Einsatzkräften der Marine, insgesamt 12 bis 16 Mann, das variierte. Einer der Truppführer und ein Marineoffizier waren als Verhandlungsführer bevollmächtigt. Das war wichtig für die afghanischen Honoratioren, sie setzten sich nur mit jemandem zusammen, der ihrer Hierarchieebene entsprach. Jedenfalls musste man sich ihnen gegenüber entsprechend als Führer präsentieren.

Jeder in der Runde schien etwas sagen zu müssen, als hätte er sonst an Ansehen und Bedeutung verloren. Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie in Rambo III – John Rambo in Afghanistan. Erst wurden Komplimente ausgetauscht und der gute Wille bekundet. Dann näherte man sich dem eigentlichen Thema … und schließlich wurde verhandelt, ohne den freundlichen und respektvollen Ton aufzugeben. Natürlich wurden von afghanischer Seite auch Forderungen gestellt, manchmal auch absurd übertriebene, aber das gehörte dazu und jeder der Beteiligten wusste es einzuordnen. Konkret ging es vor allem um die Lieferung von Medikamenten. Auch der Bau von Wasserbrunnen war ein Thema. Und eine bessere Ausstattung für das örtliche Krankenhaus. Immerhin schienen die Parteien Schritt für Schritt vorangekommen zu sein. Offenbar war selbst der Warlord bereit, seine Truppen zu entwaffnen. Wie ehrlich er es damit meinte, konnte niemand einschätzen.

Noch während die Schura andauerte, wurden aus Gebäuden, die sich auf dem Militärgelände befanden, Waffen und Munition herbeigeschafft und aufgereiht, wie zum Beweis, dass die Verantwortlichen auf afghanischer Seite ihren Worten auch tatsächlich Taten folgen ließen. Und es kamen Einheimische mit Eseln, die sie mit alten Maschinengewehren, Kalaschnikows, RPGs und Mörsergranaten beladen hatten, um diese vor aller Augen abzuliefern. Der größte Teil stammte aus russischer Produktion, oder sowjetischer, um genau zu sein. Aber auch chinesische Lizenzen waren darunter. Selbst Sprengstoff, der in Kartons verpackt war, stapelte sich bald zu einer kleinen Mauer, etwa 20 Meter lang und einen Meter hoch. Der stammte allerdings nicht aus Privatbesitz, sondern aus einem alten Waffendepot auf dem Militärgelände, das bis obenhin vollgestopft war. Dort fanden sich sogar T-34-Panzer, Raketenwerfer und Flugabwehrkanonen, auch hier wieder das Gros aus russischer Produktion. Die Botschaft war nicht zu missdeuten: Wir erfüllen unseren Teil, jetzt seid ihr dran.

Am Ende der Schura wurde beschlossen, dass alle Waffen abgegeben würden. In den folgenden Tagen sammelten sich immer mehr Kriegsgerätschaften an, auch aus umliegenden Dörfern, die irgendwie dazugehörten. Die Milizen des Warlords hielten sich dagegen noch zurück.

Wieder wurde unser Team für einige Tage abgelöst … und kam danach noch einmal nach Rustaq zurück, in dasselbe Quartier im Garten des Bürgermeisteramts. Ein weiterer Routineeinsatz, dachten alle Beteiligten. In der Zwischenzeit hatten sich noch mehr Waffen, Sprengmittel und Munition angesammelt – nun auch von Kämpfern des Warlords.

Irgendjemand hatte grob überschlagen, man bräuchte sechs bis sieben Lastwagen, um allein die Munition wegzuschaffen. So viele kamen dann auch. Man sollte nicht glauben, wie viele Lkw, die dort herumfuhren, aus Europa und besonders aus Deutschland stammten – Mercedes, MAN und andere bekannte Marken. Wobei es sich zum größten Teil um ausrangierte Fahrzeuge handelte, was man unter anderem daran erkennen konnte, dass auf den Fahrer- und Beifahrertüren noch die Firmennamen und -adressen zu lesen waren. Und auf manchen Sonnenblenden alte Werbeaufschriften. Dass diese Art des Exports im Sinne des Klimaschutzes ist, wage ich zu bezweifeln – aber das ist ein anderes Thema.

Zeitgleich mit uns rückten EOD-Kräfte der Bundeswehr an, die in Kundus stationiert waren. EODler sind Kampfmittelabwehrsoldaten. Besser bekannt als Kampfmittelbeseitiger, was auch ziemlich genau die Übersetzung dessen ist, wofür die drei Buchstaben stehen: Explosive Ordnance Disposal. Das sind die, die im Einsatz normalerweise in Schutzanzügen stecken und Sprengfallen, Minen oder nicht detonierte Munition entschärfen. In Rustaq sollten sie das Sammelgut begutachten und sortieren, damit es fachgerecht verladen wurde und nichts passierte. Sie erledigten ihren Job im Hof der Polizeistation. Dort türmte sich inzwischen ein Großteil der Munition und Sprengmittel, die beseitigt werden sollten. Auf dem Platz vor der Station standen die Lastwagen. Zwei waren bereits beladen, einer davon stand ein Stück abseits vor dem Bürgermeisteramt, bei einem dritten war man noch dabei. Was die EODler freigaben, wurde von afghanischen Helfern zu den Lkw geschleppt. Einige der EODler halfen auch beim Tragen.

Wir sollten das Ganze überwachen, zusammen mit anderen Sicherungskräften aus Kundus. Also Posten beziehen und gucken. Und wer gerade nicht damit dran war, kümmerte sich um die Fahrzeuge oder um die Waffen. Oder er schlief, falls er die Nachtwache erwischt hatte. Um ehrlich zu sein, waren die Tage ziemlich langweilig. Es erinnerte mich an die Stabilisierungseinsätze im Kosovo mit den Gebirgsjägern. Nicht gerade das, weshalb man einst Soldat werden wollte. Aber gut, in solchen Situationen machte man halt einfach seinen Dienst. Ich glaube nicht einmal, dass ich groß darüber nachdachte. Das gewöhnte man sich mit der Zeit ab. Solche Phasen gab es nun einmal, es würden auch wieder andere kommen. Dass ausgerechnet Kommandosoldaten mit solchen Einsätzen ihre Zeit verbrachten, konnte man natürlich infrage stellen, hätte in dem Moment aber auch nichts geändert.

An einem Nachmittag dieser eher sinnfreien Tage war ich gerade dabei, die leere Zeit mit etwas Sinnvollem zu füllen. Ich hatte die Motorhaube unseres AGF geöffnet, einen Kompressor in Gang geworfen, den wir an Bord mitführten, und damit begonnen, den Luftfilter zu reinigen. Das machten wir nach jeder Fahrt, was bei dem Staub auf den Pisten auch höchst angebracht war. Abgesehen davon war es Vorschrift, technischer Dienst nach Benutzung nannte sich das. Überhaupt passten wir akribisch auf Technik und Material auf und pflegten es entsprechend. Niemand von uns wollte irgendwo in der Wüste stehen bleiben.

Das Fahrzeug stand im Garten des Bürgermeisteramts.

Mit einem Mal bebte die Erde und gleichzeitig war eine gewaltige Detonation zu hören. In nächster Nähe, daran gab es keinen Zweifel. Nach der ersten Schrecksekunde schnappte ich mir mein Medicpack und meine Waffe und lief mit zwei, drei anderen hinaus auf den großen Platz, wo die Lastwagen standen. Vor dem Tor des Bürgermeisteramts lag ein Mann auf dem Boden. Ein Afghane. Er regte sich nicht. Ich sah Blut. Und ich sah einen unserer Kameraden, der sich über ihn beugte.

»Kann ich was tun?«, fragte ich ihn.

»Dem können wir nicht mehr helfen, er macht gerade seine letzten Atemzüge …«

Die Detonation … der Lastwagen, der direkt vor der Polizeistation stand, brannte … ich versuchte, zu realisieren, was geschehen war.

Ein paar Schritte vor mir liefen zwei Medics von den Marinekräften Richtung Polizeistation. Um dorthin zu gelangen, hätten wir den Lastwagen passieren müssen, der explodiert war. Neben ihm, quer zum Gebäude, stand ein zweiter Lastwagen, sodass zwischen beiden ein Durchgang blieb. Gerade als ich seine Ladefläche erreichte, sah ich, wie eine Stichflamme in die Höhe schoss. Ich stoppte und schrie zu den beiden vor mir: »Sofort zurück!!! Hier fliegt gleich alles in die Luft!«

Als ich sah, dass sie mich gehört hatten, nahm ich selbst meine Beine in die Hand, rannte zurück auf das Grundstück des Bürgermeisteramts, hinter die schützende Mauer. Die Marinekräfte folgten eine Sekunde später. Gerade noch rechtzeitig.

Die Detonation, die dann folgte, war um einiges gewaltiger als die erste. Ich hatte nie eine gewaltigere gehört. Und dann regnete es Metall vom Himmel. Splitter flogen wie winzige Pfeile kreuz und quer durch die Luft. Und nach dem einen großen Schlag ging es weiter, als hätte jemand ein Feuerwerk gezündet, nur dass die Explosionen lauter waren, bedrohlicher – und nicht aufhören wollten. Hinterher meinte jemand, es hätte über eine Stunde gerumst und geknallt, fast zwei.

Da wir an den Lastwagen vor den Grundstücken nicht vorbeikamen, kletterten wir hinten im Garten über die Mauer, die das Gelände von dem der Polizeistation trennte. Von dort bewegten wir uns zu der Durchfahrt, die auf den Platz hinausführte. Um zu sehen, ob es Verletzte gab, ob wir helfen konnten. In dem Moment, als wir die Ausfahrt erreichten und nach draußen gehen wollten, gab es eine weitere Detonation. Unzählige Geschosse und Splitter schlugen kurz vor uns in die Wand ein. Wären wir ein, zwei Schritte weiter gewesen, hätte es einen von uns erwischt.

In solchen Situationen verlor man das Gefühl für die Zeit. Man war im Kopf nur damit beschäftigt, was man tun konnte, welcher Weg sich anbot, ob man irgendetwas übersehen hatte. Bei all dem versuchte man, einen klaren Kopf zu bewahren, um sich nicht leichtsinnig, unüberlegt, selbst in Gefahr zu bringen. Allerdings hätte man sich auch nicht irgendwo hingehockt, wo es sicher schien, um abzuwarten, bis alles vorüber war. Schon gar nicht, wenn man davon ausgehen musste, dass andere Hilfe benötigten. Und das mussten wir.

Irgendwann flauten die Explosionen ab. Wir wagten einen neuen Versuch, uns ein Bild der Lage zu verschaffen. Diesmal wieder durch das Tor in der Mauer des Bürgermeisteramts. Die Bilder sehe ich noch heute vor mir. Manchmal kommen sie in der Nacht, im Schlaf, in Träumen. Von den beiden Lastwagen waren kaum mehr als die Fahrgestelle übrig. Metallene Gerippe. Alles war schwarz verkohlt. Auch der Boden ringsum. Und die Frontmauer der Polizeistation. Aber das Schlimmste war der Anblick der Leichen. Auch sie komplett verkohlt, man konnte nur erahnen, dass es einmal Menschen waren. Ob wir sie damals selbst zählten, kann ich nicht sagen. Einerseits war jede Information nach solch einem Ereignis wichtig, zumal wir die ersten Augenzeugen waren. Andererseits wollte man am liebsten nicht hinsehen. Man versuchte, professionell zu sein, es nicht an sich heranzulassen – was vielleicht sogar gelang, in dem Moment. Doch die Festplatte im Kopf speicherte jedes einzelne dieser Bilder, und irgendwann holten sie einen ein.

Am Abend zuvor hatte ich mit einer der Sicherungskräfte aus Kundus in unserem Gartenquartier zusammengesessen. Ein Oberfeldwebel, 26 Jahre alt. Er erzählte, dass es seine golden mission sei. Noch 14 Tage, dann sollte es für ihn in die Heimat zurückgehen. Dort warteten Frau und Kind, seit fünfeinhalb Monaten nun schon. Er war gut gelaunt, freute sich auf das Wiedersehen. Wir alberten herum, machten dumme Sprüche. Soldatensprüche, mit denen man sich ablenkte und für einen Moment vergaß, in welche Einöde es einen verschlagen hatte.

Und nun lief ich durch diesen Albtraum.

Die Wracks, die Leichen.

Sah den jungen Kerl vor mir, das Leuchten in seinen Augen, als er von seiner Familie erzählt hatte, von seinem Kind.

Und lief weiter. Hier konnten wir nichts mehr tun.

Irgendwoher kam die Information, im Krankenhaus könnten sie Hilfe gebrauchen, dort würden sich immer mehr Verletzte melden. Das Krankenhaus lag direkt hinter der Polizeistation. Der kürzeste Weg dorthin führte über die hintere Grundstücksmauer. Wir stellten schnell eine Leiter an und kletterten drüber.

In dem Krankenhaus herrschte ein ziemliches Durcheinander. Vor allem Frauen, ältere Männer und Kinder, die sichtlich unter Schock standen. Das Gesicht eines dieser Männer war vollkommen mit Blut beschmiert, sodass man eine üble Verletzung erwarten musste. Ein älteres Mütterchen führte ihn an der Hand wie ein Kind, er konnte nicht mehr sehen. Wir legten ihn auf eine Trage und entfernten vorsichtig das Blut. Wie sich herausstellte, hatte er kaum etwas abbekommen. Es war ihm nur Blut in die Augen gelaufen, aber er dachte, er sei von einem Splitter getroffen worden und erblindet. Dagegen hatte es einen kleinen Jungen, vier oder fünf Jahre alt, tatsächlich erwischt. In seinem Arm steckte ein Geschoss, zum Glück nicht allzu tief, sodass wir es herausoperieren konnten.

Ein richtiges Krankenhaus war es eigentlich nicht. Eher eine Lehmhütte, die aus mehreren Räumen bestand, in denen sich die Hitze staute und einem Gerüche entgegenwaberten, denen man sich am liebsten entzogen hätte. Es gab nur einen Arzt, der mit seinem Helferteam vom Ansturm an Verwundeten regelrecht überrannt wurde. Er hatte Erfahrung mit Kriegsverletzungen, konnte allerdings nur auf einfachste medizinische Ausrüstung zurückgreifen. Die OP-Bestecke, die wir dort sahen, hätte hierzulande niemand mehr angefasst. Daher waren wir mit unseren gut ausgestatteten Medicpacks mehr als willkommen. Wir versuchten, so gut wie möglich zu helfen, versorgten unzählige Leute, auch mit Splitter- und Schussverletzungen, die unter anderen Umständen von einem Arzt oder einer Ärztin behandelt worden wären.

Später kam ein Versorgungshubschrauber mit Medikamenten und Verbandsmaterial, das dringend benötigt wurde.

Zeitlich kann ich es schwer genau einordnen, doch es muss noch im Laufe desselben Tages gewesen sein, als wir die Nachricht erhielten, dass sechs Afghanen, die zum Beladen der Lastwagen eingeteilt waren, durch die Detonationen getötet wurden. Und zwei Bundeswehrsoldaten aus Kundus, ein EODler, 37 Jahre alt, und der junge Oberfeldwebel, mit dem ich am Vorabend gesprochen hatte. Einer von ihnen konnte angeblich nur über die Seriennummer des Verschlusses seiner Pistole identifiziert werden.

Für solche Nachrichten besitzt unser Gehirn einen Schutzmechanismus, wie eine Firewall, die das Böse nicht passieren lässt. Man nimmt es wahr, ist in dem Moment auch schockiert oder betroffen, aber man realisiert es nicht wirklich. Die Information bleibt an der Oberfläche, dringt nicht so tief ein, dass es einen umhaut. Hinzu kam, dass wir dafür ausgebildet wurden, in außergewöhnlichen Situationen zu funktionieren. Das ist der Sinn der sogenannten Drillausbildung: Man erledigt seine Aufgabe, bewahrt einen kühlen Kopf und einen klaren Verstand, egal was um einen herum geschieht. So war es auch dort in Rustaq. Erst in der Nacht, als ich etwas zur Ruhe kam, drängten sich Gedanken auf. Der junge Oberfeldwebel hatte Frau und Kind. Ich hatte Frau und Kind. Was, wenn ich ein paar Sekunden später aus dem Garten zu dem Lastwagen gekommen wäre, der als zweiter detonierte?

Am Ort des Geschehens durfte nichts verändert werden. Auch die Leichen rührte niemand an. Sie blieben über Nacht liegen. Das Gelände wurde von unseren Kräften bewacht. Irgendwann kamen die Feldjäger, sichteten das Grauen und sicherten an Beweisen, was es noch zu sichern gab.

Für uns war von Anfang an ziemlich klar, dass es nicht einfach so zu den Detonationen gekommen sein konnte. Erst flog die Ladung des einen Lastwagens in die Luft, dann die Stichflamme auf dem zweiten Lastwagen, die ich zum Glück rechtzeitig bemerkt hatte, und Sekunden darauf auch dort eine Detonation. Ein bisschen viel des Zufalls. Wahrscheinlich hatte es auf dem ersten Lastwagen vorher eine ebensolche Stichflamme gegeben. Und beide Stichflammen konnten durch einen Brandbeschleuniger erzeugt worden sein.

Allerdings wurde uns sofort eingetrichtert, derlei Spekulationen gefälligst für uns zu behalten. Falls jemand Fotos gemacht hatte, sollten diese umgehend gelöscht werden. Offiziell wurde es als Unfall ausgegeben. Bei der Verladung jahrelang unsachgemäß gelagerter Munition sei es zu einer zufälligen Explosion gekommen – ungefähr so lautete eine der Erklärungen. Auch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr stützte die Unfallvariante und ließ verkünden, es gäbe keinerlei Hinweise für einen Anschlag. Selbst bei der Trauerfeier für die getöteten Kameraden, die nach der Überführung ihrer sterblichen Überreste in die Heimat in Köln stattfand, sprach der damalige Verteidigungsminister von einem »tragischen Unfall« infolge einer verheerenden Kettenreaktion. Dabei gab es sogar von afghanischer Seite unmittelbar nach dem Vorfall die Vermutung, die Fahrzeuge könnten mit einer ferngezündeten Sprengladung in die Luft gejagt worden sein.

Etwa anderthalb Jahre später kam dann heraus, dass es mitnichten ein Unfall oder eine zufällige Explosion war. Das ging aus einem Untersuchungsbericht des Verteidigungsministeriums hervor, der allerdings nicht öffentlich verkündet, sondern durch die Recherchen einer Zeitung publik wurde. Auf einmal hieß es, mit »sehr hoher Wahrscheinlichkeit« sei eine 107-Millimeter-Rakete als versteckte Ladung manipuliert und zur Explosion gebracht worden. Obwohl es angeblich keine Erkenntnisse zu den Hintermännern des Anschlags gab, wollte man wissen, dass dieser nicht den Kräften der Bundeswehr gegolten habe. Die getöteten Soldaten seien demnach Opfer innerafghanischer Auseinandersetzungen geworden. Diese Annahme bezog sich auf die Rivalität zwischen den Einheimischen und den Truppen jenes Warlords, die sich lange geweigert hatten, ihre Waffen und Munition herauszurücken. Die ursprüngliche Version einer möglichen Selbstentzündung der verladenen Munition hatten Experten jedenfalls in der Luft zerrissen, technisch sei das nahezu unwahrscheinlich.

Ich schätze, in solche Untersuchungsberichte flossen immer auch politische Befindlichkeiten mit ein. Die Ursache hatte man ausgemacht, aber auf den Schlips treten wollte man niemandem. Um die Mission in Afghanistan nicht infrage zu stellen. Oder um die ohnehin angespannte Situation nicht noch zusätzlich aufzuheizen. Konnte man alles irgendwie verstehen, auch wenn es einmal mehr deutlich machte, wie Politik manchmal betrieben wird. Den Familien der getöteten Soldaten wird es nicht der geringste Trost gewesen sein. Als Berufssoldat weiß man, worauf man sich einlässt, dass es im schlimmsten Fall der Tod ist, mit dem man einen Pakt eingeht. Dabei führen sich aber die wenigsten vor Augen, wie sinnlos dieser Tod sein kann.

Wie gesagt: Damals stellte ich nicht infrage, dass wir in Afghanistan einen wichtigen Beitrag leisteten. Es war erst wenige Monate her, dass sich al-Qaida-Führer Osama bin Laden in einer Videobotschaft zu den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington bekannt hatte. Wohl aber zweifelte ich manches Mal daran, ob wir als Kommandosoldaten unserer Qualifikation entsprechend eingesetzt wurden. Der nächste Auftrag war so ein Fall. Sie schickten uns nach Baharak, einem Ort etwa 30 Kilometer südöstlich von Faizabad. Dort standen Wahlen an. Wir sollten das Geschehen beobachten und überwachen, um Unruhen zu vermeiden. Ritterkreuzaufträge nannten wir solche Operationen, sehr besonders und unheimlich wichtig – was ironisch gemeint war. Als Base für die Zeit des Einsatzes sollten wir eine alte Kaserne der Sowjets nutzen. Sie sah aus wie eine Burg – hohe Mauern, ein Turm an jeder Ecke – und thronte oberhalb des Orts. Als wir eintrafen und das Objekt erst einmal inspizierten, kamen uns Zweifel, dass es eine gute Idee war, sich ausgerechnet dort einzuquartieren. In mehreren Räumen und in einem Nebengelass stapelte sich bis unter die Decke Munition, hauptsächlich Mörsergranaten, aber auch anderes Zeug, das bei gezieltem Beschuss leicht zu einem Pulverfass hätte werden können. Wir blieben trotzdem, der Befehl lautete nun einmal so.

An den folgenden Tagen betrieben wir das, was man Raumaufklärung nannte. Wir fuhren durch die Gegend, um mögliche Gefahrenherde aufzuklären, und führten Gespräche mit Polizeiverantwortlichen und lokalen Würdenträgern. Und als der Wahltag herangerückt war, bewachten wir das Wahllokal. Dazwischen viel stumpfer Tagesdienst, 24/7, aufgeteilt in die üblichen Schichten. Das Aufregendste war ein kleines Erdbeben, das mich während einer Nachtwache überraschte. Und, in derselben Nacht, ein ungebetener Besucher in dem Moskitonetz, das ich über mein Feldbett gespannt hatte. Ich wollte mich gerade schlafen legen, guckte zum Glück noch mal nach oben – ungefähr 30 Zentimeter über meinem Kopf lauerte ein Skorpion.