Planung vs. Realität

Bei einem späteren Einsatz in Afghanistan, in Kundus, wurde mir der Posten des S3 Current non-commissioned Officer übertragen. Ich saß in der Operationszentrale im Lager und war für den Tagesschriftverkehr zuständig. Der reinste Papierkrieg. Plante unsere Truppe eine Operation, musste ein concept of operation erstellt werden, auf gut Deutsch: ein Plan für den Einsatz. Da wir in einem internationalen Einsatz waren, lief so ziemlich alles auf Englisch. Ein solcher Plan enthielt alle wesentlichen Fakten, angefangen beim taktischen Vorgehen über die Lage im Raum, also die Feindsituation, bis hin zu dem, was man an Unterstützung für den Einsatz benötigte, personell, aber auch materiell, Aufklärungsdrohnen zum Beispiel. Jedes Führungsgrundgebiet steuerte Informationen aus seinem Bereich bei, und am Ende wurde alles im Concept of Operation zusammengepackt. Im nächsten Schritt ging es darum, die Bewilligung für die Operation zu erhalten. Dafür musste der Plan zum Einsatzführungskommando der Bundeswehr nach Schwielowsee geschickt werden beziehungsweise zum dortigen Kommando FOSK – und zum ISAF-Headquarter am Flughafen in Kabul. Dort saß auch ein Verbindungsoffizier von uns. Nur wenn beide Stellen den Plan absegneten, durfte die Operation stattfinden. Und genau da lag manchmal das Problem. Gab die übergeordnete Führung in der Heimat grünes Licht, konnte es gut sein, dass die internationale Führung in Kabul Einwände geltend machte. Oder es war umgekehrt: Kabul hob den Daumen und die in Deutschland hatten Bedenken. Das Resultat: Die Planungen uferten aus, jegliche Flexibilität, die man in der Anfangszeit noch gehabt hatte, blieb auf der Strecke. Zum Beispiel musste in jedem Plan berücksichtigt sein, dass Operationen nur in Bereichen durchgeführt werden durften, die innerhalb einer Stunde von Hubschraubern zu erreichen waren. Wurde diese Distanz überschritten, brauchte man gar nicht erst weiterplanen, selbst wenn die Operation noch so erfolgversprechend gewesen wäre. Direct actions, wie wir sie ganz am Anfang durchführten, um insurgents – Aufständische –, denen wir auf die Spur gekommen waren (meist durch Informationen von Einheimischen oder durch Telefonüberwachung), kurzerhand in ihren Compounds festzunehmen, waren so kaum mehr möglich.

In diese Zeit fiel auch die Operation COIN – Counterinsurgency. Man könnte es als die etwas andere Kriegstaktik beschreiben. Die Amerikaner hatten damit angefangen, angeblich nicht ohne Erfolg. Die Idee dahinter war, die Herzen und das Vertrauen der Afghanen zu gewinnen, indem man eine gewisse Zeit in ihren Ortschaften lebte und dabei Gutes vollbrachte oder zumindest in Aussicht stellte, den Bau eines Brunnens für Trinkwasser beispielsweise. Auf diese Weise sollte die lokale Bevölkerung überzeugt werden, dass es der falsche Weg wäre, auf die Taliban zu setzen oder auf andere Kräfte, die gegen die neue Regierung handelten. Um wiederum denen die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst in dem Ort breitzumachen oder Sympathisanten für ihren Kampf zu akquirieren. Dieses Mitleben in den Ortschaften war auf jeweils mehrere Monate ausgelegt. Danach sollten die Kräfte zum nächsten Ort weiterziehen oder durch andere ersetzt werden, die ihren Part übernahmen.

In der Planung hörte sich das ganz friedlich an. Nachdem auch der Ort definiert war, machten sich unsere Leute auf den Weg, eine komplette Kompanie inklusive Aufklärern und Scharfschützen, etwa 40 Mann. Im Konvoi, mit gepanzerten Fahrzeugen, hauptsächlich Dingos, aber auch Eagles, einem Panzerspähwagen Fennek sowie einem Transportpanzer Fuchs. Von Kundus lag das Ziel etwa 30 Kilometer entfernt, Luftlinie vielleicht 10. Ich war, wie gesagt, in der Operationszentrale eingesetzt. Auch der Kompaniechef blieb im Lager, er hielt sich wie ich im Stab auf. Einer der Zugführer hatte das Kommando.

Kurz vor der Ortschaft, sie war bereits in Sichtweite, wartete ein Empfangskomitee, allerdings keins, das den Gästen wohlgesinnt war. Als Begrüßung schickte es eine RPG, durch die einer unserer Soldaten verletzt wurde. Überrascht von dem Angriff wich unsere Truppe aus und bezog auf einer Anhöhe in der Nähe Stellung. Dort wurde sie weiter beschossen, nicht pausenlos, aber immer wieder. Unsere Leute erwiderten das Feuer, versuchten den Durchbruch zu erzwingen, forderten dafür Luftunterstützung an, das waren wie immer Amerikaner … nur schafften auch die es nicht, den Weg für uns freizumachen. Das Feuer aus den Stellungen, die ein Stück vor dem Dorf ausgehoben worden waren, hörte einfach nicht auf. Ein Katz-und-Maus-Spiel. Mal schossen die, mal schossen wir, ohne dass wir einen Schritt vorankamen. Das Ganze zog sich über zwei oder drei Tage. Bis der Zugführer vor Ort zu der Erkenntnis gelangte, dass es keinen Sinn machte, noch länger in der Stellung zu verbleiben. Allerdings durfte nicht er die Entscheidung treffen, den Rückweg anzutreten, das musste der Kommandeur im Lager befehlen – was er auch tat, nachdem ihm die aussichtslose Lage geschildert worden war.

Wenn ich eben schrieb, dass unsere Leute überrascht waren, plötzlich angegriffen zu werden, dann trifft es das nicht ganz. In diesem Land durfte einen nichts überraschen. Sie waren nicht ohne Grund in gepanzerten Fahrzeugen und mit voller Bewaffnung aufgebrochen. In der Ortschaft, die wir für die Mission ausgewählt hatten, wussten sie, dass und wann wir kommen – solche Aktionen wurden vorher mit dem Bürgermeister oder dem, der dort das Sagen hatte, ausgehandelt. Und von dieser Person auch gutgeheißen, zumindest uns gegenüber. Nur musste das eben nicht viel bedeuten. Rein gar nichts musste es bedeuten. Sinnbildlich gesprochen: Fuhr man tagsüber an einem Feld vorbei, winkten einem die Einheimischen freundlich zu. Wurde es dunkel, konnten es die gleichen Personen sein, die Gewehre in ihren Händen hatten und auf einen schossen. Man blickte nie durch, was diese Menschen wirklich dachten. Von daher musste man immer auf alles gefasst sein.

Sogar dann, wenn man allen Grund zu der Annahme hatte, die Leute würden auf derselben Seite stehen. Zu unseren Aufgaben gehörte später, afghanische Polizeikräfte auszubilden. Das machten wir in Kundus, in Masar-e Scharif und in Khilagay. Das Ziel bestand darin, die einheimischen Polizisten so weit zu befähigen, dass sie selbstständig Operationen durchführen konnten, schwerpunktmäßig gegen die Taliban. Dieser Prozess lief schrittweise ab. Erst die eigentliche Ausbildung, bei der die Grundlagen vermittelt wurden. Dann leiteten wir sie an, eigene Operationen zu planen und umzusetzen. Und schließlich nahmen wir uns so weit zurück, dass wir die von ihnen vorbereiteten Operationen nur noch begleiteten und beobachteten, sozusagen monitorten, um im Notfall eingreifen beziehungsweise helfen zu können. So jedenfalls war es gedacht. Und so lief es auch, zumindest bis zu einem gewissen Punkt.

Wir hatten inzwischen das Stadium erreicht, in dem wir ihre Operationen nur noch beobachtend begleiteten. Dafür war festgelegt, dass wir zahlenmäßig in der Minderheit sein mussten, markant weniger als die Hälfte. Und wir hatten uns hinter den Polizeikräften zu bewegen. Der Plan und alle Informationen, die im Voraus einzuholen waren, stammten nun aber nicht mehr von deutschen oder anderen NATO-Informationsquellen, sondern von afghanischen.