Mythos KSK, Part II

Um es sich noch einmal in Erinnerung zu rufen: Das waren Erkenntnisse aus dem Jahr 2013. Geändert hat sich danach für uns nichts. Im Zuge der NATO-Mission Resolute Support, die Ende 2014 als Nachfolge der ISAF-Mission eingeläutet wurde, gab es meines Wissens Überlegungen, sämtliche deutschen Spezialkräfte aus Afghanistan abzuziehen. Warum es nicht dazu kam, kann man nur vermuten. Eine Vermutung wäre, dass dann auch die Abteilung SpezOp beim Einsatzführungskommando nicht weiter notwendig gewesen wäre, zumindest nicht in der bisherigen Personalstärke (Kommandosoldaten waren ja auch in anderen Krisenregionen im Einsatz, etwa in Mali). Somit hätte der eine oder andere in Schwielowsee womöglich an Bedeutung verloren. Das mag abwegig klingen, doch nach meiner Erfahrung liegen die Gründe selbst für solche Entscheidungen manchmal im Banalen. Ein anderer Punkt könnte gewesen sein, dass dadurch auch die Frage im Raum gestanden hätte, mal wieder, wofür man eine Truppe wie das KSK brauchte, wenn sie nicht einmal im größten Krisenherd eingesetzt würde, in dem sich die Bundeswehr engagierte.

Nach außen hin, für die Öffentlichkeit, wurde lieber an dem Mythos gestrickt, die Elitetruppe aus Calw würde zu den geheimsten aller geheimen Operationen um die Welt geschickt, die nur von solch hoch qualifizierten Kämpfern realisiert werden könnten. Die Wahrheit ist, aus meiner Sicht: Manchmal wurden solche Operationen auch geheim gehalten, weil sie gnadenlos schiefgingen. Und damit meine ich nicht, dass Kameraden von uns getötet wurden oder Mist gebaut hätten. Es konnte auch hier weitaus banaler zugehen. Ich denke da an unseren Einsatz im Rahmen der EUFOR-Mission (European Union Force) in der Demokratischen Republik Kongo 2006. Ein multinationaler EU-Militäreinsatz, der in dem krisengeschüttelten Land die Durchführung der ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahl seit über 40 Jahren sichern sollte. In den Medien war das damals ein ziemlich großes Thema. Die Bundeswehr schickte 780 Soldaten. Insgesamt waren 2400 EU-Kräfte im Einsatz. Geleitet wurde die Mission, die durch eine UN-Resolution zustande kam und auf vier oder fünf Monate befristet war, vom Einsatzführungskommando in Schwielowsee, das für diese Zeit als EU-Headquarter auserkoren wurde.

Irgendwie sickerte die Information durch, vermutlich nicht ganz unabsichtlich, dass auch 25 KSK-Kräfte in den Kongo geschickt wurden. Was sie dort machen sollten, blieb ein Geheimnis, und wie ich schon sagte: Geheimnisse lassen die Fantasie sprießen. Dabei war unser Auftrag zwar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber alles andere als spannend. Die Hauptaufgabe bestand darin, einen Evakuierungsplan für das Personal der Deutschen Botschaft in Kinshasa zu erarbeiten – falls die Situation im Land eskalieren sollte.

Ich flog mit dem Gebirgstrupp unserer Kompanie in die kongolesische Hauptstadt. Der erste Wahlgang war bereits gelaufen. Keiner der Kandidaten hatte die absolute Mehrheit errungen, sodass es einige Monate später eine Stichwahl geben sollte. Das Land war kein Pulverfass, das gleich zu explodieren drohte, aber die Lage war durchaus angespannt. Es kam immer wieder zu Zusammenstößen von Anhängern der konkurrierenden Lager, wobei es Verletzte und wohl auch Tote gab. Für die aus Europa entsandten Militärkräfte war es auf jeden Fall unerlässlich, ihre Mission bewaffnet auszuführen, schon zum eigenen Schutz. Das machte Militär ja aus – dass es bewaffnet war.

Wir kamen dort auch mit unseren Waffen an, nur dass wir keine Munition dabeihatten, nicht eine einzige Patrone. Unsere Munition sollte gesondert mit einer anderen Maschine ins Land gebracht werden. Das war so üblich, auch bei anderen Einsätzen in anderen Ländern. Mit dem Unterschied, dass diesmal die Munition nicht kam. Keine Ahnung, wer da was verbockt hatte. Es hieß, es gäbe Überflugprobleme. Irgendein Land wolle nicht, dass eine Militärmaschine voller Munition sein Territorium überflog. Das kam tatsächlich häufiger vor, auch auf anderen Routen. Für gewöhnlich ließ sich das immer irgendwie klären. Diesmal anscheinend nicht. Oder es gab einen anderen Grund, über den wir nicht in Kenntnis gesetzt wurden.

Wir warteten einen Tag, dann eine Woche, dann zwei Wochen. Die Munition kam nicht. Nach drei Wochen, in denen wir nicht viel mehr gemacht hatten, als in unserer im Vergleich zu Afghanistan recht komfortablen Unterkunft, einer leer stehende Villa im Botschaftsviertel, die Zeit totzuschlagen, wurden wir in die Heimat zurückbeordert. Später soll es eine Anfrage im Bundestag gegeben haben, was die KSK-Kräfte im Kongo vollbracht hatten. Gut, dass man sich wie so oft auf die Geheimhaltungspflicht berufen konnte.

Dagegen klappte es mit Lehrgängen und Ausbildungsmaßnahmen umso besser. Einige Zeit nach der Kongo-Pleite wurde ich zum Bergführerlehrgang kommandiert – so ziemlich das Anspruchsvollste, was man bei der Bundeswehr an Ausbildung mitmachen konnte. Körperlich und mental extrem herausfordernd. Es hatte seinen Grund, dass es nicht viele Heeresbergführer gab.

Der Lehrgang ging über ein ganzes Jahr, gliederte sich in einen Sommer- und in einen Winterteil. Normalerweise fing man mit dem Sommerteil an. Um überhaupt richtig loslegen zu können, musste man als Eingangstest den Dammkarlauf im Karwendelgebirge absolvieren, mit vollem Gepäck. Ich sage nur: Höhenmeter schrubben! Und das mit Köpfchen, denn man musste sich seine Kräfte einteilen. Wer unten zu schnell loslief, bekam oben Probleme. Einige schafften es nicht, die durften dann gleich wieder die Rückreise antreten.

Bei mir lief es etwas anders, ich begann mit dem Winterteil. Sechs Wochen Skiausbildung in Garmisch-Partenkirchen, natürlich auch auf der Kandahar, alle Fahrformen, die auf der Piste machbar waren – skialpine Sportler würden Disziplinen dazu sagen. Dann weiter nach Seefeld in Österreich, die nächsten Prüfungen, freie Abfahrt und Stangenfahrten. Das war schon knackig. Auch dort schieden welche aus.

Dann Skitourenausbildung in Andermatt in der Schweiz. Theorie und Praxis. Skitouren planen, Unterricht in Bergrettung, Lawinenverschüttetensuche. Und Lawinenkunde und Lawinensprengen. Am Ende erneut Prüfungen. Der ständige Druck, rauszufliegen, wenn man eine nicht schaffte, erinnerte mich an die Zeit des Eignungsfeststellungsverfahrens. Im Grunde war es kein Lehrgang, sondern ein Könngang. Um alles neu zu erlernen, wäre gar nicht genug Zeit gewesen, obwohl wir den Winter über jeden Tag auf Ski unterwegs waren. Man musste schon ein hohes Level an Grundkönnen mitbringen, sonst wäre man verloren gewesen.

Das Gleiche galt für den Sommerteil. Zuerst ging es in die Fränkische Schweiz, in die Nähe von Gößweinstein im Frankenjura, Klettertechniken verbessern und verfeinern. Schwerpunktmäßig Sportklettern. Dazu reichlich Unterricht: Wetterkunde, Bergrettung im Sommer und Verwundetenversorgung. Die Gegend ist traumhaft schön. Es machte wahnsinnig Spaß, dort zu klettern, vor allem im oberen Schwierigkeitsgrad. Da war man im Kopf schon sehr weit weg von Calw. Und noch viel weiter von Afghanistan.

Man lernte die schönsten Bergregionen kennen. Chamonix war die nächste Station. Hochtouren am Montblanc. Gletscherausbildung: Bergrettung, Spaltenrettung, Eisklettern, Bewegen auf dem Gletscher, solche Sachen. Mitunter äußerst abenteuerlich, vor allem, wenn man Richtung Gipfel unterwegs war und ein Gewitter aufzog, viel früher als der Wetterbericht es angekündigt hatte. Und wenn dieses Gewitter von Regen, Hagel und Schnee begleitet wurde, während man irgendwo in 3500 Metern Höhe saß. Nie werde ich vergessen, wie ich dort oben mit meinem Kletterpartner hockte, wir auf eine Wetterlücke warteten, um den Abstieg fortsetzen zu können, und er auf einmal sagte: »Wenn du überlebst, sag meiner Frau, ich liebe sie.«

Gott sei Dank überlebten wir es beide. Aber das hätte auch anders ausgehen können.

Zum Schluss ging es noch in die Dolomiten, alpines Klettern im Sommer – und die restlichen Prüfungstouren. Hätte es nicht immer diese Prüfungen gegeben, wäre es für mich die schönste Zeit bei der Bundeswehr gewesen. So hatte man ständig den Druck, nicht zu versagen, lebte in dauernder Anspannung. Aber vielleicht war genau das eine gute Schule, sozusagen zusätzlich, über das Fachwissen und die Fähigkeiten als Heeresbergführer hinaus. Wenn man es packte, konnte man gelassener mit allen möglichen Herausforderungen umgehen.

So genial solche Lehrgänge waren, einige Jahre später machte ich noch eine Wüsten-Fahrausbildung in Namibia, nicht vergleichbar mit der Zeit in den Bergen, aber auch eine außergewöhnliche Erfahrung, bei der ich viel lernte und auch sonst meinen Horizont erweiterte – nur hätte ich mein Können auch gern angewendet, im Sinne der Aufgaben, für die das KSK aufgestellt worden war. Das blieb, mit einigen Ausnahmen, die ewige Krux.

Einen Auftrag der etwas anderen Art ereilte uns im Oktober 2019. Während etwa die Hälfte unserer Kompanie in Afghanistan war, hielt sich der Rest, zu dem ich gehörte, als sogenannte Einsatzkompanie in Calw bereit – für den Fall, dass kurzfristig Kräfte angefordert würden, wie es dann auch kam. Konkret ging es darum, den Staatsbesuch eines deutschen Ministers in einem von Bürgerkrieg gebeutelten Land in Nordafrika in Zusammenarbeit mit Kräften des Bundeskriminalamts, Personenschützern in erster Linie, abzusichern. Sagen wir, es war eine willkommene Abwechslung und ein interessanter Blick hinter die Kulissen. Wer weiß schon, wie viel Aufwand im Vorfeld eines solchen Besuchs betrieben wird. Und dabei erlebten wir nur den Ausschnitt, der den sicherheitsrelevanten Bereich betraf. Die Einsatzplanung wurde im Wesentlichen vom BKA erledigt, von den Leuten, deren Job es war, Politiker zu schützen – der Sicherungsgruppe, Fachbereich Auslands- und Spezialeinsätze. Die kannten sich damit am besten aus. Wie ich schon erwähnte, setzten wir mit ihnen immer wieder gemeinsame Ausbildungsvorhaben um. Und eine Delegation der Truppe war regelmäßig Gast bei unserem Teichfest.

Vielleicht waren wir nicht das eingespielteste Team, aber jeder wusste vom anderen, dass er sein Fach beherrschte und wie man zusammen funktionierte. Ungewöhnlich für uns war, dass wir in Zivil agierten. Niemand sollte mitbekommen, dass Militär beteiligt war. Wir waren auch nur mit Pistolen bewaffnet, die zudem verdeckt getragen wurden, im Holster unterm Hemd. Mit Ausnahme der Sniper, aber die mussten am Einsatzort sowieso unsichtbar sein. Das bedeutete jedoch nicht, dass wir unsere Langwaffen und die Munition dafür nicht dabeihatten. Beides führten wir in Rolltaschen mit uns. Schließlich wusste niemand, was uns erwartete, also mussten wir auf alles vorbereitet sein.

Etwa eine Woche vor dem eigentlichen Besuchstermin flogen wir mit BKA-Kräften in einer Bundeswehr-Transall auf eine italienische Mittelmeerinsel. Ein Teil unserer Truppe war schon dort, hatte in einer kleinen Baracke auf dem Flughafen Quartier bezogen. Das war dann unsere Forward Operation Base. Die Ausrüstung kam gesondert mit einer zweiten Transall – Munition, Waffen, Verpflegung und alles, was wir fernmeldetechnisch benötigten. Dafür wurde uns ein Hangar bereitgestellt. In dem konnten wir die Ausrüstung deponieren und für den Einsatz vorbereiten.

Ein oder zwei Tage später machten wir uns das erste Mal auf den Weg in das nordafrikanische Land, das hier nicht genannt werden soll. Wieder in einer Transall. Zusammen mit den BKA-Kräften waren wir etwa 20 Mann. Der Zielflughafen, ein ziviler, lag direkt am Meer. Es gab eine Start- und eine Landebahn, ein paar flache Gebäude, sonst nichts, rundherum wüstenähnliche Fläche. Der Flughafen war in der Vergangenheit mehrfach beschossen worden. In dem Land gab es eine sogenannte Einheitsregierung, dabei konnte von Einheit nicht die Rede sein. Verschiedene Rebellengruppen kämpften seit Jahren um Macht und Einfluss, es brodelte und brodelte.

Während des Staatsbesuchs sollten wir den Flughafen sichern. Die Vorab-Aufklärung diente dazu, sich mit den Gegebenheiten des Objekts vertraut zu machen, mögliche Gefährdungspunkte zu definieren und einen geeigneten Platz für unseren Gefechtsstand zu finden. Außerdem mussten wir schauen, wo die Sniper Position beziehen konnten, damit sie das Gelände gut im Blick hatten, selbst aber nicht gesehen wurden.

Den Gefechtsstand, sozusagen unsere Einsatz- und Kommunikationszentrale vor Ort, bauten wir hinter einem Hangar neben dem Empfangsgebäude auf, unter freiem Himmel. Am Einsatztag würde ich dort mit einem Fernmelder Position beziehen. Bis dahin wurde die Funktechnik installiert, die Antenne ausgerichtet und gecheckt, ob die Verbindung zu allen eingesetzten Kräften, unseren und denen vom BKA, funktionierte. Der Kontakt nach Deutschland wurde per kryptiertem Funkgerät über Satellit eingerichtet. Ungewöhnlich war, dass wir zum Teil aus Calw geführt wurden und zum Teil vom Einsatzführungskommando in Schwielowsee. Damit hatten wir auch beiden Stellen Meldung zu erstatten.

Ein anderer Trupp von uns checkte zusammen mit BKA-Leuten die Fahrtroute vom Flughafen in die Stadt, zu den Örtlichkeiten, die der Minister besuchen sollte, eine Schule und eine Flüchtlingsunterkunft. Routinemäßig wurden eine Alternativroute ausgesucht und eine Exitroute definiert, falls es unterwegs zu einem Zwischenfall käme, der zum Abbruch des Besuchs führen würde. Als Worst-Case-Szenario, falls eine Rückkehr des Ministers zum Flughafen unmöglich oder zu gefährlich wäre, planten wir ein Ausweichen über den Landweg ins friedlichere Nachbarland, notfalls sogar zu Fuß. Bis zur Grenze waren es rund 50 Kilometer. Botschaftsmitarbeiter in dem Nachbarland klärten vorab die Formalitäten für einen möglichen Grenzübertritt.

Nachdem das alles erledigt war, ging es im Flieger zurück auf die italienische Insel zu unserer Forward Operation Base, für einen oder zwei Tage. Pizzatime, sage ich nur. In dem afrikanischen Land hatten wir nichts zu futtern bekommen.

Dann kam der Tag des Ministerbesuchs. Wir also wieder zurück, um rechtzeitig die festgelegten Positionen zu beziehen. Am Flughafen ein ziemlicher Menschenauflauf. Viele Anzugträger. Und noch mehr lokale Sicherheitskräfte. Jeder sollte sehen, dass sie alles aktivierten für den hohen Besuch aus Deutschland. Die Maschine mit dem Minister landete, kurze Begrüßung, dann ging es in einem Konvoi von mindestens 20 Fahrzeugen Richtung Stadt – der Staatsgast in einer gepanzerten Limousine. Ich arbeitete meinen Plan sauber ab, bekam von den Begleitkräften die einzelnen Meldepunkte durchgegeben, sobald sie diese passiert hatten, und gab die Informationen nach Deutschland weiter.

Es lief alles nach Plan, unterwegs keine Zwischenfälle.

Nach drei oder vier Stunden tauchte der Konvoi am Horizont wieder auf. Zuerst waren die vorausfahrenden Blaulichter zu sehen. Am Flughafen sollte es noch eine kurze Pressekonferenz geben, eher ein Statement für die versammelten Medienleute. Der Minister hatte das Fahrzeug verlassen und setzte gerade an, als am Himmel plötzlich ein Düsenjäger herandonnerte. Wenn der jetzt ablädt, dachte ich, dann war es das für uns. Weit und breit keine echte Schutzmöglichkeit. Den Hangar hätte er mit links wegbomben können, alles, was dort auf der Fläche stand.

Die improvisierte Pressekonferenz wurde augenblicklich abgebrochen. Die Personenschützer eskortierten den Minister im Laufschritt zu der gepanzerten Limousine. Der Fahrer gab sofort Gas, kaum dass sein Passagier Platz genommen hatte. Alte Regel, sich bewegende Ziele sind schwerer zu treffen.

Der Spuk dauerte fünf, sechs Minuten, dann kam die Entwarnung. Es war offenbar doch keine Maschine feindlicher Rebellen, was von den lokalen Sicherheitskräften zunächst angenommen worden war. Der Pressetermin wurde trotzdem gecancelt. Es gab noch eine kurze Verabschiedung für den Regierungsgast aus Deutschland, dann stieg er in den Flieger und war wieder weg.

Ich meldete, was zu melden war, anschließend packten auch wir unsere Sachen zusammen und flogen zurück, mit Zwischenstopp und Übernachtung auf Sizilien. Wie gesagt, für uns war es eine coole Abwechslung. Von mir aus hätte es mehr solche Aufträge geben können. Ab und zu machten wir so etwas auch, wenn Politiker nach Afghanistan kamen. Eine ganz andere Frage war, ob sich ein solcher Einsatz lohnte. Wenn man allein die Kosten für unseren Einsatz überschlug, dazu den Personal- und Zeitaufwand, konnte man schon ins Grübeln geraten.

Um den Gedanken von vorhin fortzusetzen: Ich glaube, dass wir vom soldatischen Können her nicht schlechter waren als die SEALs, der SAS oder die Delta Force der U. S. Army. Im Gegensatz zu ihnen fehlte uns jedoch das Maß an Erfahrung bei echten Einsätzen, das die amerikanischen Kollegen aufzuweisen hatten. Dieses Dilemma hätte sich nur politisch lösen lassen, wäre in der Gesellschaft aber kaum zu kommunizieren gewesen. Rein rechtlich durfte das KSK – wie die gesamte Bundeswehr – nur nach Zustimmung des Bundestags bewaffnete Einsätze im Ausland durchführen beziehungsweise daran teilnehmen. Mit der einzigen Ausnahme, wenn für deutsche Staatsbürger Gefahr in Verzug bestand, ein sofortiger Einsatz über Leben und Tod entschied. Da tauchte dann aber schnell die Frage auf, wer beurteilte, ob tatsächlich Gefahr in Verzug war. Und ob diese Gefahr nicht auf andere Weise und mit geringerem Risiko abgewendet werden konnte, etwa durch Verhandlungen oder durch die Zahlung von Lösegeld. Wobei solche Lösegeldzahlungen streng geheim gehalten und der Öffentlichkeit gegenüber meist bestritten wurden, schon um keine Nachahmungseffekte zu provozieren. In manchen Ländern, besonders in Südamerika, das sollte bekannt sein, galt – und gilt – Kidnapping als lukratives Geschäftsmodell.

Und noch ein Punkt machte es kompliziert: Selbst wenn Deutsche im Ausland unstrittig in höchster Gefahr schwebten, wie weit durften KSK-Kämpfer bei einem solchen Einsatz gehen?

Klar definiert war das – unabhängig von Geiselbefreiungen – für sogenannte Capture-or-kill-Aktionen, bei denen beides, also Gefangennehmen oder Töten, im Vorfeld als Resultat akzeptiert wurde. Das stand für uns zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Dafür hätte es niemals eine Genehmigung vom Ministerium oder der Bundesregierung, die das zu entscheiden hatte, gegeben. Selbst in Afghanistan mussten wir uns bei der Suche nach Talibanführern zurückhalten. Hatten wir einen aufgespürt, sodass seine Festnahme angegangen werden konnte, sollten wir ins zweite Glied zurücktreten – damit es keiner von uns war, der schoss, falls sich die Zielperson nicht ohne Widerstand festnehmen ließ. Töten war nur in einem Gefecht erlaubt. Oder bei einer akuten Bedrohungslage, wo es darauf hinauslief, dass derjenige überlebte, der zuerst schoss.

Warum wir nie für eine Geiselbefreiung eingesetzt wurden, kann ich selbst nach 20 Jahren beim KSK nicht wirklich beantworten. Es lag jedenfalls nicht daran, dass wir nicht gewollt hätten. Jedes Mal, wenn wir von einer Entführung deutscher Staatsbürger irgendwo auf der Welt erfuhren, scharrten wir in Calw mit den Füßen. Wie oft dachten wir, dieses Mal endlich kommen wir zum Zug. Doch wenn sich die Sache nicht von selbst löste, wurden wir aus Gründen, die nie wirklich offengelegt wurden, ausgebremst. Meine Vermutung ist, dass sich die Verantwortlichen vor den Konsequenzen fürchteten, die es nach sich gezogen hätte, falls bei einem solchen Einsatz die Geiseln oder einer unserer Männer getötet worden wären. Möglich wäre auch, dass uns die Entscheidungsträger nicht zutrauten, Geiseln erfolgreich befreien zu können. Ich schätze aber, dass persönliche Konsequenzen, die bei einem Misserfolg zu erwarten gewesen wären, das stärkere Gegenargument waren. So oder so war das mit der Zeit frustrierend, bei aller Motivation, die man sich zu bewahren bemühte. Jeder Sportler, der lange und fleißig trainiert, will bei Meisterschaften antreten. Der Vergleich mag etwas hinken, da es in unserem Fall nicht um Sieg oder Niederlage ging, sondern um Leben und Tod. Aber wie ein Sportler einen Teil seiner Motivation daraus schöpft, eines Tages siegen zu wollen, so schöpften wir unsere daraus, etwas Wichtiges für unser Land und seine Menschen zu leisten. Das kann ich für mich behaupten, aber auch für alle Kameraden, die mir nahestanden.