Zu ebener Erd in einer unscheinbaren Wiener Gasse liegt in einem schlichten Wohnhaus das Büro des Professors Reiter. Hierher bestellt sich der gerichtsmedizinische Sachverständige im Auftrag der Justiz die Verletzten und Verprügelten ein, die Verunfallten und Verstümmelten. Er erforscht die Ursachen und Folgen ihrer Verletzungen, die Dauer und Intensität ihrer Schmerzen, und er beantwortet die Frage, ob sie vielleicht nur simulieren, um an Geld zu kommen.
Professor Reiter diktiert seine Erkenntnisse in ein altes Diktiergerät, er spricht blumig, keine Bürokratensprache, er beschreibt präzise und bildlich. Er fotografiert die Folgen von Gewalt oder Fahrlässigkeit. Und in seinen Schränken stapeln sich die Akten, es ist ein Archiv des Bösen und der Schicksale. Zirka dreihundert Fälle betrachtet er pro Jahr, fast jeden Tag einen. Dabei ist er als Universitätsprofessor schon in Pension, wie er sagt: in Halbpension.
Wer Reiters Büro betritt, entdeckt an der Wand gerahmte Zeitungsausschnitte. Reiter hat die vergilbten Schlagzeilen stolz zu Collagen zusammengefügt. »Wir haben hier keine Scheu, vom Tod zu reden«, steht über einer Gerichtsreportage, Christian Reiter war darin der Held eines Mordprozesses. Die Zeitungsartikel an den Wänden erzählen über Reiters große Prozesse und seine Kunst des Erklärens: »Der Gutachter führte die Geschworenen durch den Garten der Medizin«, schrieb ein Gerichtsreporter der Salzburger Nachrichten über ihn.
»Kommen Sie weiter«, sagt Reiter und führt von seinem Begutachtungsraum in ein dunkles Kabinett, das man früher vielleicht Studierzimmer genannt hätte, ein kleines Reich, das mich ein bisschen an eine Miniatur von Sigmund Freuds Praxis in der Berggasse erinnert. Zwar steht hier keine Couch, aber es finden sich Knochen, Kupferstiche, Nippes und Bücher. Es liegt hier ein zweites gerichtsmedizinisches Museum versteckt, die Sammlung Reiter.
Hier sind die »Dinge, die mein Herz erfreuen«, sagt der Professor und präsentiert stolz seine kleinen, düster beleuchteten Schätze. In offenen Regalen und hinter verglasten hölzernen Vitrinen ruhen Skelettteile und Schädel, an den Wänden hängen Lithografien und Zeichnungen. Sie zeigen Skizzen Erhängter, Bilder aus antiquarischen Lehrbüchern. Die Bücher in Reiters Schränken tragen diese Titel: »Die Gifte in der Weltgeschichte«, »Die ansteckenden Krankheiten«, »Ersticken«, »Geisteskranke Rechtsbrecher« oder »Die Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule«.
Das sind die Werke, in denen Christian Reiter blättert. »Aber das ist«, beruhigt er, »nur ein Teil meiner Bibliothek.« Oben in seinen Wohnräumen habe er »viel Zoologie, Botanik, Archäologie und Paläontologie«, auch diese Werke braucht er für die Erkundung der letzten Minuten im Leben eines Menschen.
Die Bücher türmen sich hier neben den Früchten von Verbrechen und den Spuren des Todes. Reiter sammelt die Hüllen ausgehauchten Lebens, um das Leben an sich zu verstehen. Schon als Gymnasiast stieg er in die Berge des Salzkammerguts, alte geologische Karten im Gepäck, um Fossilien, Ammoniten und andere Versteinerungen zu finden. Der älteste Fund, ein Dreilappenkrebs aus dem Silur der Karnischen Alpen, 420 Millionen Jahre alt. Daneben Steinplatten mit versteinerten Blättern, da ein Fischchen, dort eine Art versteinerter Tintenfisch.
Im Wald entdeckt einer wie er natürlich die Schädel von Hunden und Katzen, von Dachsen, Füchsen und Mardern, er bückt sich und hebt sie auf und nimmt sie mit. Und das kleine Köpfchen da? Reiter schmunzelt: »Das war einmal die Schildkröte meiner Kindheit, natürlich habe ich sie nach dem Tod seziert. Sie ist an einem Gasbrand nach Verletzung durch ihren stürmischen Partner verstorben.« All diese Bücher, Funde und Asservate, so fährt er fort, »haben buchstäblich meinen Weg gekreuzt«, er habe sie aufgesammelt, weil sie »so schön, so anmutig sind und zum Nachdenken anregen«.
Der Kopf da drüben? Der Schädel gehörte einem Delphin, entdeckt auf einem Fischmarkt in Beruwala, Sri Lanka, »wo Delphine leider als Fake-Thunfische angeboten wurden«. Reiter hat ihn ausgekocht, präpariert, jeden Zahn geputzt und wieder neu eingesetzt, »ist das nicht hübsch?« Wie das Skelett eines Fabelwesens liegt der Kopf des Delphins aus Beruwala nun neben einem Menschenschädel aus der Nähe von Ernstbrunn in Niederösterreich.
Reiter zieht diesen Menschenschädel ganz vorsichtig aus dem Regal und reicht ihn mir. »Heben Sie!«, fordert er mich auf. Wie leicht der Kopf doch ist, wie eine Feder. Reiter nimmt das Stück vorsichtig zurück, hält ihn wie Shakespeares Hamlet in der Hand und erzählt seine Geschichte. Ein Baggerfahrer hatte das Skelett in einer Baugrube bei einem Bauernhof gefunden. Die Bauern gruben das Fundament eines Silos, fanden Knochen, riefen die Polizei, die Mordkommission erschien, wer war der Tote? Niemand wurde vermisst.
In hockender Haltung sei dieser zirka 35-jährige Mann verscharrt worden. Wurde er Opfer eines Verbrechens? Hatten die Bauern damit etwas zu tun? Der Verdacht: Mord. Reiter fand auch Tierknochen neben dem Leichnam und Tonscherben. Die Tat sei aber schon verjährt, beruhigte er die Behörden. Der Mann starb vor dreitausend Jahren, in der Urnenfelderzeit, verdächtigerweise wurde sein Körper trotzdem nicht verbrannt und in einer Urne bestattet, wie es hier um Ernstbrunn tausend Jahre vor Christus üblich war, sondern irgendwer verscharrte ihn am frühgeschichtlichen Müllplatz, genau dort, wo nun der Bauer das Fundament für seinen Silo grub. Reiter schiebt den federleichten Kopf ins Regal zurück und sagt: »Der geht niemandem mehr ab.«
Da ist noch ein Schädel. Gleich hinter Christian Reiters Schreibtisch liegt er, ausgestellt wie in einer Inszenierung von Goethes »Faust«. »Der Kopf eines Soldaten der Napoleonischen Armee, gefallen bei der Schlacht am Wagram im Jahre 1809«, klärt Reiter auf. Er halte das Stück seit Studententagen »in Ehren, heimlich, es ist wohl nicht ganz legal zu mir gelangt«.
Ein Mesner hatte den jungen Medizinstudenten Reiter seinerzeit in einen Karner im Marchfeld geführt. Auf einer Leiter kletterten die beiden hinunter, »das ganze Unterschiff der Kirche war voll mit Knochen«, ein Hades, ein Totenreich, tausende junge Männer liegen hier begraben, ihre Gebeine, eingesammelt auf den Schlachtfeldern, kunstvoll aufeinandergestapelt. »Da habe ich erst realisiert, wie viele Menschen hier bei der Schlacht zu Tode gekommen waren, wie brutal der Krieg hier vor zweihundert Jahren wütete.«
Reiter dreht den Schädel behutsam zu mir: »Sehen Sie die Furche da an seiner Stirn? Der Bursche hatte einen Säbelhieb überlebt.« Er starb nicht bei seiner ersten blutigen Schlacht, sondern hatte schon vorher einmal eine »über die Rübe« bekommen. »Ein überlebter Säbelhieb! Das ist etwas, das man nicht jeden Tag sieht.«
Und gleich hinter Reiters Schreibtisch steht noch ein Kopf, diesmal kein Schädel, sondern die Gipsbüste des Angelo Soliman. Ein Moulageur, ein Bildhauer, der aufgrund von Totenmasken Gesichter rekonstruiert, hatte anhand von Solimans Todesmaske dessen Antlitz nachgebildet. Der Freimaurer und sogenannte »Hofmohr«, vermutlich aus dem heutigen Kongo, ein vom Sklavenkind zum feinfühligen Gelehrten aufgestiegener Freigeist, vieler Sprachen und Musikinstrumente kundig, lebte zu Zeiten Mozarts und Kaiser Josephs II. ein privilegiertes Leben am Hof des Fürsten Liechtenstein in Wien. Nach seinem Tod wurde er entbeint, die Haut gegerbt, mit Stroh ausgestopft und über ein Holzgerüst gespannt, um mit einem Federröckchen bekleidet als »Repräsentant des Menschengeschlechts« neben afrikanischen Tierpräparaten im Museum des Kaisers zur Schau gestellt zu werden. Als sich immer mehr Wiener darüber empörten, wurde sein Körper in einem Kasten auf dem Dachboden der Hofburg verwahrt. Im Rahmen der Bürgerkriegswirren im Herbst 1848 geriet der Dachstuhl der Hofburg in Brand, und somit fand Soliman endlich seine letzte Ruhe. Nur seine Totenmaske aus Gips blieb verschont. Reiter entdeckte darin Haare. Aber dazu später.