Unter gelber Flagge — Die Pest in Wien

Im Regal gegenüber seinem Schreibtisch hat Reiter noch etwas verwahrt, einen krankhaft deformierten Oberarmkopf, einen menschlichen Knochen. Ein akademischer Maler der Jahrhundertwende hatte ihn galvanisieren lassen — mit Silber überzogen — und darin in roten Lettern seine Initialen eingravieren lassen: »J. W.« — Jakob Wenzl. Das derart verzierte Knochenstück hatte Wenzl als Knauf seines Gehstocks verwendet. »Schön, gell?«, sagt Reiter, »Wenzl war mein Urgroßvater.« Reiter hatte ihn nicht gekannt, aber seine Lebensgeschichte prägte und faszinierte ihn.

Jakob wurde 1865 als Sohn des Ignaz Wenzl geboren. Der war ein begabter Schuhoberteilhersteller in der kleinen Bergbaustadt Platz, heute Místo, an den Südhängen des böhmischen Erzgebirges. Die eleganten Lochmuster für die damals modernen Budapester stellte Ignaz Wenzl her.

Auch der kleine Jakob erwies sich als künstlerisch begabt, sodass ihn die Eltern zur Ausbildung an die Kunstakademie nach Wien schickten. Nach dem Studium arbeitete er als akademischer Maler. Eine Fotografie des Urgroßvaters hängt in Reiters Studierstube an der Wand, gleich neben Angelo Soliman und dem Schädel des Soldaten der Napoleonischen Armee.

Das Bild zeigt einen ernsten, stämmigen Herrn in seinen Dreißigern, mit kurzen Haaren, gepflegtem Dreitagebart und einem langen Schnauzer, so wie er bei den Herren im Fin de Siècle Mode war. Zum Jackett trug Wenzl eine elegant gebundene Fliege über dem Vatermörderkragen, er war ein »gutbetuchter Bürger«, wie Reiter aus den Erzählungen seiner geliebten Urgroßmutter referiert.

Dreimal heiratete Jakob. Die erste Frau starb nach der Geburt des zweiten Kindes an Kindbettfieber. Die zweite — ihre Schwester —, die sich der Kinder annahm, an Lungenschwindsucht. Die dritte hieß Emma und war erst 17 Jahre alt, als sie den fast vierzigjährigen Jakob ehelichte. Sie war die Tochter eines Greißlers in der Alser Straße, in dessen Geschäft sich Jakob auf dem täglichen Weg vom Atelier am Ottakringer Yppenplatz ins Allgemeine Krankenhaus seine Wurstsemmeln erstand. Wenzl weilte oft in diesem parkähnlichen, unter Joseph II. angelegten Spital.

Er hatte eine »gute Geschäftslage«, wie Reiter erzählt. Bei Ärzten, Pathologen, Gerichtsmedizinern und Forschern war er als Grafiker für deren wissenschaftliche Publikationen gefragt. Er zeichnete pathologische Präparate für Fachbücher ab, er fertigte kunstvoll kolorierte Lithografien von histologischen Schnitten. Reiter forscht noch heute in antiquarischen Buchläden und Zettelkästen, ob er in medizinischen Fachbüchern Wenzl als Illustrator entdeckt. Bis spät in die Nacht arbeitete Wenzl auf der Pathologie, bei schwachem Gaslicht zeichnete er die Organe der Toten. Und eines Abends, erzählt Reiter, sei er »von oben bis unten voll Blut« heimgekommen, weil er sich »im finsteren Leichenhaus über eine Leich dastessn« hatte.

Ein Obduktionsassistent hatte »vergessen, sie ins Kühlhaus zu schieben«. Mit geöffnetem Körper lag der Tote nach der Obduktion noch am Gang. »Er hat sich zwar nicht weh getan, aber meine Urgroßmutter was not amused, als er so heimkam«, erzählt Reiter, »aber er hatte sich glücklicherweise nicht angesteckt.« Sich anzustecken, das konnte tödlich sein, denn die keimtötenden Antibiotika wurden erst Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt. Und für ein ganz besonderes Buch kam Wenzl sogar mit der Pest in Kontakt, er zeichnete Pestorgane.

Reiter zieht ein in altes Leder geschlagenes Buch mit dem Titel »Die Beulenpest in Bombay 1897« aus dem Regal und blättert zu Tafel VI, einer kunstvollen Illustration, die mit einem eigens eingelegten Seidenpapier geschützt wird. Sie zeigt, wie ein Register verrät, den »Schnitt von der Milz des Meerschweinchens«, das nach »subcutaner Infection mit einem Pestherd nach 192 Stunden erlegen war«.

Wenzl zeichnete die kleinen schwarzen Pesterreger so minutiös, dass man, wie Reiter mit Stolz erzählt, auf seinen Lithografien »mit der Lupe auf den Bildern Details entdecken kann, die man mit dem freien Auge gar nicht sieht«. Das Meerschweinchen, das Wenzl abgezeichnet hatte, lebte 1897 in einem medizinischen Versuchsstall gleich neben dem Wiener Narrenturm, der einst so revolutionären Psychiatrieanstalt. Es löste einen Skandal aus.

Die Forscher hatten den Nager mit einer »kleinen Menge einer Pestcultur auf eine Stelle der Haut einer Extremität eingerieben«, wie in einem Bericht festgehalten wurde. Und aufgrund einer Unachtsamkeit eines vermutlich betrunkenen Tierwärters, Franz Barisch sein Name, 27 Jahre alt, wohnhaft in einer Dienstwohnung im Narrenturm, versetzte das bissige Nagetier ganz Wien in Angst und Schrecken.

Wer in den Zeitungsarchiven und Augenzeugenberichten jener Zeit kramt, stößt auf eine tieftraurige, schaurige und zugleich berührende Skandalgeschichte, die »große Kreise der Bevölkerung« im Wien der frühen Moderne »erzittern ließ«, wie das Znaimer Tagblatt es seinerzeit formulierte. Auch die Politik bezog Stellung: Deutschnationale verspotteten jüdische Ärzte, sogar Bürgermeister Karl Lueger mischte sich ein und wollte das AKH abreißen lassen. Die Geschichte des Meerschweinchens, das Reiters Urgroßvater abzeichnete, erzählt auch von einer wissenschaftlichen Community der Wiener Moderne, die internationale Studienreisen in exotische Länder unternahm, um Impfungen zu entwickeln. Sie zeigt aber auch, auf erschreckend aktuelle Art, wie Fake News verbreitet wurden.

Wie also kam »die kleine Menge einer Pestcultur« auf das Beinchen des Meerschweinchens, und wieso wird das Nagetier am Ende drei jungen Menschen das Leben kosten, einem Tierpfleger, einem Arzt und einer jungen Krankenwärterin?

Die Geschichte, auf die mich Reiter stößt, beginnt 1896 in Bombay, in Bon Bahia, der schönen Bucht, wie Mumbai damals von den portugiesischen Kolonialisten genannt wurde. In der indischen Metropole raffte seinerzeit eine Pestepidemie, vermutlich eingeschleppt über Hongkong, bereits mehr als zehntausend Inder dahin, elf Millionen sollten sterben. Da muslimische Pilger die Erkrankung nach Mekka verschleppten, fürchteten auch die habsburgischen Sanitätshofräte im fernen Wien die Ausbreitung der Seuche. Etwa durch die in die Provinz Bosnien und Herzegowina heimkehrenden Mekka-Reisenden. Oder durch die großen Schiffe, in deren Lagerräumen Ratten nisteten.

Sehr viel wusste man zu jener Zeit nicht über ansteckende Krankheiten. Bei der letzten Pestepidemie in Wien des 18. Jahrhunderts glaubten viele der Ärzte noch, die vier Körpersäfte, »Schleim, Blut, schwarze und gelbe Galle«, und eine »innere Fäulnis« des Organismus rufe die Krankheit hervor. Von Hygiene und der Übertragung von Krankheiten durch Ratten, Flöhe und Tröpfcheninfektion wussten die städtischen Ärzte wenig.

Langsam entdeckten die Wissenschaftler der Moderne, der Chemiker Louis Pasteur, der Hygieniker Robert Koch oder der Frauenarzt Ignaz Semmelweis, dass die tristen hygienischen Zustände in den Metropolen Seuchen gedeihen ließen, wohl auch die Pest. Und dann, 1894, wurde man des Pestkeimes erstmals ansichtig. Der Tropenarzt Alexandre Yersin hatte die »Samen der Pest« unter seinem Mikroskop entdeckt: kleine Stäbchen, schwarzweiß gescheckt. Durch Blut, Erbrochenes, Exkremente, aber vor allem durch die Atemluft verbreiten sie sich. Die Ärzte jener Zeit wollten mehr wissen über diese Krankheit, die sich in der zunehmend vernetzten Welt erneut auszubreiten drohte.

So kam es, dass zwei Jahre später die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften eine »Pest-Kommission«, bestehend aus vier Ärzten, nach Indien entsandte, darunter der erst 31 Jahre alte Infektiologe Dr. Hermann Franz Müller. Fotos zeigen einen ernsten jungen Mediziner mit hoher Stirn, Zwicker auf der Nase und nach oben gezwirbeltem Schnauzbart. Seine Begleiter waren Männer mit Zylinderhüten und Bärten. Sie trugen Laborgeräte bei sich und einen Fotoapparat.

Die Pest-Kommission hatte den Auftrag, »in klinischer, anatomischer und bakteriologischer Hinsicht die in Bombay damals wüthende Volksseuche auf das genaueste zu studiren und zwar ganz im Geiste und nach der Methode, in welcher die genannten Disciplinen an der Wiener Schule tradirt werden«. Sie sollten ein Serum entwickeln — eine Waffe gegen die Pest.

Müller reiste mit drei anderen Ärzten nach Triest und ging an Bord des Lloyd-Eildampfers Imperator. Ein Gemälde zeigt das dreimastige Dampfschiff auf hoher See. Die vier Mediziner reisten natürlich allein und in Kabinen Erster Klasse. Mit damals spektakulären viertausend PS konnte das Schiff rund 15 Knoten, dreißig Kilometer pro Stunde, erreichen. Am 3. Februar 1897 legten die Österreicher ab, 17 Tage später landeten sie in Bombay.

Die Ärzte waren fasziniert von der feuchten, übervölkerten und schrillen Stadt. Sie fotografierten die nackten Pestkranken und ihre Beulen, zapften Blut ab, maßen Puls und Temperatur, sicherten Sekrete und Gewebeproben in Phiolen. Sie richteten sich im St.-Arthur-Road-Hospital regelrecht ein, waren umringt von Pestkranken, von Siechen und Sterbenden und ihren Familien. Auf den Straßen drängten sich Bettler und Prediger, Elefanten und Ratten. Sie zu töten war den Hindus aufgrund ihres Glaubens an die Seelenwanderung untersagt, nicht einmal Experimente durften die Wiener an den Tieren durchführen.

Die Flöhe wurden von den Hindus abgelesen und auf den Boden gesetzt, die Ratten geschont. Erst Jahre später wurden sogenannte Rattenhäuser gebaut, in denen weibliche und männliche Tiere bis zu ihrem Tode getrennt untergebracht wurden, damit sie sich nicht vermehren. Das hatten die Götter nicht verboten. Auch eine Schutzimpfung mit abgetöteten Pesterregern lehnten die Hindus ab, weil das Serum aus Rinderblut hergestellt worden wäre.

Bis zu elf Millionen Menschen, so rechnete die Medizinhistorikerin Ulrike Enke in einer Studie über eine deutsche Bombay-Expedition nach, raffte die Pest in Indien dahin. Infizierte Ratten aus asiatischen Häfen wurden mit Handelsschiffen quer über die Welt verschleppt, nach San Francisco, Durban, Buenos Aires und Sydney. Doktor Müller schrieb im St.-Arthur-Road-Hospital derweil die Krankengeschichten von 86 Pestkranken nieder. Nach getaner Dokumentation, am 1. Mai 1897, reiste die Delegation wieder mit der Imperator zurück, diesmal aber unter gelber Flagge, dem Zeichen für ein Schiff unter Quarantäne.

In Wien infizierten die Forscher vorsätzlich hunderte Versuchstiere, ein Register zählt sie auf: Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten, Mäuse, Hunde, Hyänen, Katzen, Schweine, Affen, Vögel, Schlangen, Eidechsen, Frösche. Sie erkundeten die Biologie, die Morphologie und die Lebensfähigkeit des Pestbazillus. Am 4. Oktober, als die Forscher mit den Untersuchungen fast fertig waren, lebten in jenem Tierstall neben dem Narrenturm nur noch ein paar infizierte Nager, darunter jenes Meerschweinchen, dessen Milz Jakob Wenzl, Reiters Urgroßvater, illustrieren sollte.

Am 14. Oktober kam der Tierpfleger Franz Barisch abends in den Stall, um es zu füttern. Sturzbetrunken soll er gewesen sein, unvorsichtig. Weil er nicht aufpasste, zwickte ihn das Nagetier in den Finger, aus zwei Bissspuren drang Blut. Barisch vertuschte den Vorfall, er habe sich mit einem Hammer auf den Finger geklopft, schwindelte er seinen Arzt an. Auch seiner Frau Maria erzählte er nur, erkältet zu sein, selbst als er schon vor Fieberschüben zu bibbern begann. Er sei ein »besonders gewissenhafter Wärter« gewesen, schreiben auch die Ärzte der Pest-Expedition in ihrem Bericht. Sie übertrugen ihm schließlich eine verantwortungsvolle Aufgabe. Hätte er den Tierstall nicht ordnungsgemäß verschlossen, wären die Ratten möglicherweise in die Wiener Kanalisation entschwunden. »Im Allgemeinen war Barisch ernstlich bemüht, seine Dienstverrichtungen in der vorgeschriebenen Weise auszuführen«, er hatte »auch volles Verständnis für die Wichtigkeit der angeordneten Vorsichts- und Desinfektionsmaßregeln und sogar Interesse für die wissenschaftlichen Untersuchungen.«

Das antisemitische Deutsche Volksblatt wird Barisch hingegen als »bekannten Quartalsäufer« beschreiben, als einen, der »unbeaufsichtigt in einem Laboratorium, mitten in einem der größten Krankenhäuser einer Weltstadt, in einem Institute, in dem Pestbacillen gezüchtet werden mit der Aufsicht und Reinigung der gefährlichsten Apparate betraut worden« sei. »Was mag der Mann in seinem Dusel schon alles veranlasst haben!«

Barisch wurde immer fiebriger in seiner kalten Wohnung im vierten Stock des Narrenturms im alten Allgemeinen Krankenhaus, die Ärzte attestierten zunächst Influenza, fanden dann aber seltsamerweise »eigenthümliche Gebilde«. Dozent Hermann Müller, der Arzt, der in Bombay so gewissenhaft gearbeitet hatte, ließ Barisch mit einer Tragbahre in ein Isolierzimmer des AKH bringen, ein schwerer Fehler, wie sich später herausstellte. Dort pflegten ihn zwei Krankenwärterinnen, eine davon eine alte, herrische Frau namens Johanna Hochecker. Und die ihr zur Ausbildung überantwortete, erst 21 Jahre alte Albine Pecha. Die wollte eigentlich gar nicht im Spital arbeiten, sondern einem betagten Gutsbesitzer, den sie als Zimmermädchen in Karlsbad kennengelernt hatte, nach Irland folgen. Aber sie brauchte eine schnelle Ausbildung in Krankenpflege, um ihn dort betreuen zu können. Albine träumte vom besseren Leben. Aber dieser Traum war bald geplatzt.

Barisch röchelt, er wird blau, er übergibt sich, wird schwächer. Die Ärzte sind zunehmend beunruhigt. Müller ahnt, dass Barisch an Pest erkrankt ist, aber sicher ist er sich nicht. Er will verantwortungsvoll kommunizieren und die verstörende Nachricht in der Öffentlichkeit erst verbreiten, wenn sie sich als zutreffend erweist. Untersuchungen an Ratten mit Barischs Sputum zeigen noch keinen endgültigen Befund. Barisch bleibt im Allgemeinen Krankenhaus, die Isolierstation, auf der er röchelt, liegt zwischen zwei Krankensälen voller Patienten. Die hygienischen Bedingungen reichen nicht. Die Schwestern tragen seine Exkremente im Kübel hinaus, stehen neben ihm, als er erbricht. Hochecker und Pecha sind im Grund ungeschützt. Sie binden ihre Hände zwar in sublimatgetränkte Fetzen, sind den Keimen in dem kleinen, schlecht belüfteten Isolationszimmer aber schutzlos ausgeliefert.

Barisch fällt immer mehr in sich zusammen, die Pestbeulen wachsen im Bereich seines Unterleibes, er wird blau und stirbt schließlich am 18. Oktober 1897 im AKH. Sein Tod wird zunächst geheim gehalten, »vertuscht«, wie die Wiener Boulevardblätter später nicht ganz zu Unrecht kritisieren. Sie schießen sich aber nicht auf den übervorsichtigen Müller ein, sondern auf Hermann Nothnagel, den Direktor der 1. Medizinischen Klinik des AKH, den sie als »Sargnagel« verhöhnen. Obwohl selbst kein Jude, wird er im Wien des Bürgermeisters Karl Lueger vom Deutschen Volksblatt als Schützling der »Judenpresse« diffamiert. Es seien jüdische Ärzte, die die Seuche nach Wien tragen, Brunnenvergifter, das war der unausgesprochene — und falsche — Vorwurf.

Am 19. Oktober dann endlich die Gewissheit: In Barischs Körper war die Pest, das AKH-Direktorium verfällt in Panik. Denn Barisch, so fürchteten die Ärzte, könnte nicht mehr der einzige Pestinfizierte sein. Hat er seine Frau angesteckt? Die Krankenschwestern? Den ihn behandelnden Seuchenmediziner Hermann Müller, den nach Bombay gereisten Arzt? Haben die den Keim schon weitergetragen? Was ist mit den Patienten neben der Isolierstation des AKH? Hat sich die Pest in Wien schon verbreitet. »Wien erzittert«, schreibt das Volksblatt.

Seuchenarzt Müller, die attraktive Krankenschwesterschülerin Pecha und die alte Hochecker werden in Quarantäne gesteckt, sie mussten vom Allgemeinen Krankenhaus am Alsergrund in die sogenannte Exspektanzbaracke übersiedeln, die sich im nagelneuen Favoritener Kaiser-Franz-Josef-Spital befand. Es streckte sich noch weit vor den Toren Wiens hinter einer langen Mauer hin, unweit der Lager der Wienerberger Ziegelfabrik. Dort hausten die sogenannten Ziegelböhm in Baracken, ausgebeutete Arbeiter aus dem heutigen Tschechien. Ein junger Arzt namens Viktor Adler enthüllte in einer investigativen Reportage für die Arbeiter-Zeitung ihr »Not und ihr Elend«.

Die Isolationsbaracke und das neue Spital waren ein Gegenentwurf zu den Elendsquartieren der Ziegelböhm. Ein moderner Pavillon lag hinter einer Mauer und einem Eisengitter. Die Wände waren aus »Gipsdielen«, die mit Injektionslösungen gereinigt werden konnten, der Boden war mit Klinkerplatten gedeckt, die Betten und Tischchen waren aus Metall, um besser desinfiziert werden zu können. Rund um den Pavillon spannten die Ärzte ein Seil, Wachen patrouillierten, damit kein Kiebitz den Abgesonderten zu nahe kommt.

Ununterbrochen, so schrieb der an Ort und Stelle befindliche Assistenzarzt Dr. Severin Schilder in ein erst 1935 veröffentlichtes Protokoll, »läutete der Telephonapparat«. Die Redaktionen der Wiener Tageszeitungen hatten Wind davon bekommen, dass hier zwei Pestkranke untergebracht werden sollten. Assistenzarzt Schilder hat deren Ankunft genau dokumentiert. Der Wagen mit den Pestkranken sei im Kaiser-Franz-Josef-Spital von »zwei ärztlichen Radfahrern« empfangen worden, schon »öffnet sich das dunkle Tor der Infektionsabteilung, und das bedeutungsvolle Fuhrwerk kommt bis dicht an die Exspektanzbaracke heran, die samt dem umgebenden Rasenplatz durch einen von Baum zu Baum gespannten Strick abgegrenzt ist. Der Wagenschlag geht auf, und Doktor Müller schwingt sich leichtfüßig herab.«

Etwas »angegriffen und blass« habe der Kollege ausgesehen, vermerkt Schilder in seinem Bericht. Dann sieht er Albine Pecha, das junge Mädchen. Ihre Körpertemperatur beträgt bereits 38,2 Grad, sie klagt über Kopfschmerzen. Schilder schreibt: »Ob ihre Augen in Tränen schwimmen oder nur vom Fieber so erglänzen, lässt sich nicht entscheiden. Sie fällt allen durch ihre vorteilhafte Erscheinung und gute Haltung wie Kleidung angenehm auf. Ziemlich hochgewachsen, von fast junonischer Fülle, das sehr schöne, gewellte Blondhaar im Nacken zu einem griechischen Knoten geschwungen, so schreitet sie im sauberen weißen Kurzrock, lackierten Halbschuhen und schwarzen Strümpfen, die ihre natürlichen Gaben aufs Beste zu Geltung bringen in jenes Gelass, das ihr Sterbezimmer werden sollte.«

Ein Illustrator erscheint auf dem Spitalsgelände und porträtiert sie aus der Ferne. Postkarten der Pecha, damals offenbar bei den Wienern wie Heiligenbildchen begehrt, kann man heute noch im Internet um vier Euro kaufen.

Die Stadt bangt mit dem berühmten Arzt Müller und der Pflegerin. Und die beiden fiebern buchstäblich ihrem Tod entgegen. Minister, Stadtphysikus und Journalisten erkundigen sich abwechselnd im Spital. Tag für Tag berichten Zeitungen über das Drama, drucken Fieberkurven, zitieren aus letzten Abschiedsbriefen, streuen Gerüchte. Laut dem Deutschen Volksblatt drohe eine Pestepidemie wegen der Fahrlässigkeit der Ärzte, die mitten in Wien mit Pestbazillen experimentieren statt draußen auf dem Land.

Auch Doktor Schilder notiert detailliert in sein Tagebuch. Etwa das letzte Gespräch mit seinem Vorgesetzten Dr. Müller, der in der Baracke lebt. Es ist der Dialog eines Dramas.

Schilder an Müller: »Bazillen sind bis jetzt bei Ihnen nicht gefunden worden!«

Müller: »Aber was reden Sie denn da? Spielen Sie doch keine Komödie, ich habe ja ganz lockeres rötliches Sputum. Woher soll denn das auf einmal kommen? Und woher das Fieber? Das ist Pestpneumonie, das muß ich am besten wissen, habe sie doch auch in Bombay gesehen. Da gibt’s keine Zweifel!«

Schilder: »Vielleicht ist es dennoch etwas anderes?«

Müller: »Nein, nein, es ist aus mit mir! Von der Pestpneunomie ist noch niemand aufgekommen, die Sterblichkeit ist hundert Prozent — in fünf Tagen bin ich tot (…) Lassen Sie mich sterben, ohne Komödie!«

Pecha und Müller empfangen einen Priester, doch der Gottesdiener darf nur durch ein geschlossenes Fenster die Sterbesakramente erteilen.

Eine Pflegeschwester dient Pecha bei der Beichte »als Mittelsperson«, das Mädchen beichtet nur eine symbolische Sünde. Dann erteilt der Priester durch die Scheibe die Absolution, eine Hostie wird auf einen Teller in ein Tuch gelegt. Doktor Müller sitzt derweil auf seinem Bett, die Hände auf den Knien. »Seine Augen werden feucht, als ihn der Priester fragt, ob er allen vergebe, wie Gott ihm vergibt«, notiert sein Assistent Schilder in seinen Memoiren.

Müller schreibt wie ein zum Tode Verurteilter seine Abschiedsbriefe an die Eltern, den Bruder, die Schwester. »Ich möchte, um niemanden zu gefährden, auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Die Asche ist zu sammeln, nochmals zu desinfizieren und bei der Großmutter in Döbling zu begraben!« Seinem Bruder Otto, einem bekannten Wiener Polizeioffizier, trägt er auf, dem siebzig Jahre alten »Dienstmädchen Herlitzka« warme Winterschuhe zu kaufen, »denn es wird kalt, und die Alte ist sehr empfindlich«.

Am 23. Oktober stirbt Müller. Eine Woche später folgt ihm die Pflegerin Pecha nach. In einem Nachruf heißt es: »Eine trübe Stimmung liegt über Wien. Die Kliniken sind geschlossen, denn die Wissenschaft hat zwei Menschenleben gefordert.« Wenn Heldentum darin begründet liege, »dass man Opfer seines Berufes werde«, so hätten die beiden Toten Heldenruhm errungen. Müllers Asche liegt in einem Ehrengrab der Stadt Wien, neben ihm ruht die kremierte Albine Pecha. Eine Büste im alten Allgemeinen Krankenhaus erinnert an ihn. Auf sie wurde vergessen.

Christian Reiter legt das dünne weiße Seidenpapier auf den von seinem Urgroßvater Jakob Wenzl gezeichneten Pestbazillus des Meerschweinchens und klappt den Band zu. Und dann verrät er, dass ihn im Jahr 1994 ein Anruf ereilte. Im westindischen Surat sei der Pesterreger wieder aufgetaucht. Hundert Tote, zweihundert Infizierte zählten die indischen Behörden. Die Wiener Magistratsbürokratie geriet in Sorge. »Es könne sein, dass in irgendeinem Wiener Hotel ein Inder nächtige, der infiziert sei«, hatte eine Beamtin Reiter gewarnt und ihn umgehend »zum Pestbeauftragten Wiens« ernannt. Einen logistischen Plan für die ganze Stadt hätte er erarbeiten sollen. Reiter lächelt milde und sagt: »Vermutlich hätten wir dann das Hotel mit dem Flammenwerfer desinfiziert.« Die Zeichnungen seines Urgroßvaters hätten aber seine »visuelle Datenbank so aufgefrischt, dass ich auch einen Pesttoten erkannt hätte«.

Als der Erste Weltkrieg und die Monarchie 1918 ihr Ende finden, schlägt auch Reiters Urgroßvater die letzte Stunde. Im Alter von 53 Jahren stirbt Jakob Wenzl an den Folgen von Diabetes, seine Frau Emma war da gerade 34 Jahre alt, die beiden hatten ein gemeinsames Kind, Valerie, die Großmutter Reiters. Sie lebten weiter am Yppenplatz 8, einem Zinshaus in Ottakring. Emma verdingte sich in der Zwischenkriegszeit damit, den Haushalt einer betuchten Apothekerfamilie zu führen. Vor den Fenstern des Hauses wird in jenen Jahren ein Bunker gegraben, Frauen, Alte und Kinder suchten dort Deckung. Der Ehemann Valeries, Reiters Großvater, wird an die Ostfront geschickt und fällt in Stalingrad.

In Wien tobt der Krieg nur kurz. Anders als andere Städte Hitlerdeutschlands wird Wien nicht komplett zerstört. Einige Häuser um den Yppenplatz werden bombardiert, Haus Nummer 8 bleibt verschont. Vielleicht auch deshalb, weil Reiters Großmütter einen Erlass der Stadtverwaltung befolgten, wonach sämtliche Dachböden von brandgefährdenden Gegenständen zu räumen seien. Also stiegen die beiden Frauen ins Dachgeschoß. Dort entdeckten sie die geheimen Schätze des Jakob Wenzl, eine pathologisch-gerichtsmedizinische Sammlung.

»Er hat ja viele Präparate gezeichnet«, erzählt Reiter. Die Ärzte und die Pathologen hätten Körperteile »in einem Glasl gebracht« und gesagt: »Machen Sie mir davon eine schöne Abbildung! Die Präparate waren in Formaldehyd oder Alkohol eingelegt, und die Auftraggeber haben sie dann nicht mehr abgeholt, sie hatten ja jetzt ihre Lithografien und brauchten die Modelle nicht mehr.« So fanden die Körperteile vieler Menschen im Gebälk des Hauses am Yppenplatz ihre letzte Ruhe, zumindest bis die Alliierten mit ihren Geschwadern kamen, um die Stadt von den Nazis zu befreien.

Hunderte Gläser mit menschlichen Organen, Föten oder »Kindesleichen mit irgendwelchen Missbildungen« entdeckten die Frauen, sie packte das Grauen. Sollen sie den Fund den Behörden melden? Würden die Gestapo oder vielleicht später die Russen ihnen glauben, dass Jakob Wenzl die Körperteile nur abgemalt hatte? Oder würden sie die Aufmerksamkeit des NS-Regimes und seiner gefürchteten Exekutive auf sich ziehen? »Man wollte ja mit denen nichts zu tun haben«, sagt Reiter.

Emma und Valerie, Urgroßmutter und Großmutter, schmieden daher einen Plan. Sie schleppen die Präparate heimlich über das Stiegenhaus hinunter in ihre Küche und schütten Formalin und Alkohol in den Abfluss. »Die Präparate haben sie dann in der Küche am Schneidbrettl in kleine Bröckerl zerschnitten. Und meine Großmutter hat mir immer erzählt, wie sehr ihr gegraust hat, da irgendwelche Körperteile in kleine Gulaschstückerln zu zerschneiden.« In der Nacht sei sie »mit einer Einkaufstasche auf die Reichsbrücke gegangen und hat die Leichenteile in die Donau geschmissen«. Reiter fragte sie später: »Du, Oma, habt’s ihr euch da nicht überlegt, dass euch ein Polizist aufhalten hätte können und sagen, was haben Sie in der Tasche? Weil dann wärt’s wahrscheinlich nicht nur ins Gefängnis gekommen, sondern da hättet’s vielleicht auch die Todesstrafe kriegen können. Weil wenn ihr mit einer zerschnittenen Kindesleiche von der Gestapo auf der Reichsbrücke gefunden werdet’s, wo ihr was hineinschmeißt’s — sehr riskant.« Die Großmütter aber antworteten: »Nana, das war die beste Methode.«

Die Großmütter haben leider noch etwas anderes vernichtet. Die unzähligen Probedrucke jener Bücher, die Wenzl illustrierte. Von jedem Werk, das er gestaltete, bekam er seinerzeit ein Musterexemplar. Auch diese Werke waren auf dem Dachboden gelagert und galten als entflammbar.

Großmutter Emma gestand: »Wir haben sie alle verheizt. Erstens haben wir nichts zum Heizen gehabt. Und zweitens musste der Dachboden geräumt werden.« Was für Schätze, meine Güte, trauert Reiter noch heute: »Ich bin überzeugt davon, dass da viele Präparate dabei gewesen sind, die eigentlich ins Museum, in den Narrenturm gehört hätten.« Dort, wo einst der Diener Barisch wohnte und besoffen auf die siebenhundert Versuchstiere aufpasste, ehe ihn eines in die Hand biss, ist heute ein Museum.