Die Untoten

Auch Reiters Großmutter Valerie setzte einen Schritt ins Reich der Ärzte, auch sie war Stationsgehilfin wie einst Albine Pecha. Sie arbeitete im Wilhelminenspital, dort, wo die Stadt ausfranst in den Wienerwald. Sie musste ihre Tochter Inge, Reiters Mutter, durch die Nachkriegszeit bringen. Valerie war eine Frau ihrer Zeit. Trümmerfrauen wie sie trugen zum raschen Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft bei, oder wie Reiter es formuliert: »Sie hat aus nichts etwas machen können.«

Sie sammelte die Essensreste der Patienten in sogenannten Menagegeschirren, trug diese zu ihrem »Grabeland«, das waren jene kleinen Grünlandparzellen, die den Wienern in der NS-Zeit zur Selbstversorgung zugeteilt wurden. Valerie zog ihr Gemüse und fütterte die Hasen mit den Küchenresten aus dem Wilhelminenspital. Sie hatte eine hervorragende Hasenzucht, die Leute haben ihr das Fleisch im Schleichhandel förmlich aus den Händen gerissen, erzählt Reiter. Man gab ihr Geld dafür, aber auch Getreide. Daraus buk sie Brot und braute Bier. »Ihr Bier war enorm beliebt.« So hat sie sich mit Schwarzhandel in der Nachkriegszeit über die Runden gebracht.

Am Flötzersteig ergatterte sie einen Schrebergarten, ein Privileg im Roten Wien. »Dort bin ich in der Kleinkindzeit herangewachsen«, erzählt Reiter. Die Großmutter hat im Wilhelminenspital gearbeitet, die Mutter versah Dienst im Wiener Magistrat, der Vater in einem Textilunternehmen. Und Reiters Urgroßmutter Emma, jenes Mädchen, das früh geheiratet hatte, nahm sich liebevoll um Christian an. Er nannte sie Uma, er verehrte sie. Sie war davon überzeugt, »ein Kind gehöre an die frische Luft«, und frische Luft gab es im Wien der späten fünfziger Jahre eben vor allem am Friedhof. »Daher ist die Uma mit mir tagein, tagaus auf den Ottakringer Friedhof gegangen, ich kenne ihn auswendig.«

Da fand die nächste Prägung des späteren Gerichtsmediziners Christian Reiter statt. »Beim Pflegen der Gräber hat sie mir von ihren hier begrabenen Schwestern und ihrem Mann erzählt, vom Jakob und der Urgroßtante. Ich lehnte neben diesen polierten Grabplatten«, sagt Reiter, »und hörte mir das alles an.« Er hatte seine Matchbox-Autos dabei. »Die konnte ich auf diesen glatten Steinen schön rollen lassen, da sie seitlich abschüssig sind.«

Und während Christian Reiter spielte und in sich versank, malte er sich aus, wie all die Toten aussehen, die unter den Grabplatten liegen. »Wie haben sich ihre Gesichter verändert? Sind sie älter geworden? Schauen sie immer noch so aus wie früher?« Das hat auch die Uma nicht gewusst, wer hatte damals schon Tote gesehen? Höchstens die Studenten im Gerichtsmedizinischen Museum. »Deshalb habe ich mir die Toten wie Schneewittchen im Glassarg vorgestellt, friedlich schlafend, unberührt.«

Gewissheit hatte Christian Reiter nicht, woher auch? »Schon in meiner Kindheit schlummerte dieser Wunsch zu erfahren, wie ein Mensch nach dem Sterben aussieht, was mit ihm dann geschieht und ob er zerfällt.« Dieser Wunsch »wurde wachgeküsst, als ich Gerichtsmediziner wurde. Ich gestehe, dass ich mich immer darum gerissen habe, Exhumierungen zu machen. Mein Glück war, dass den meisten meiner Kollegen davor eher graust.«

Reiter schmunzelt, wenn er diese Geschichte erzählt. Denn er weiß natürlich, dass die Toten unten in der Erde, irgendwann wir alle, nicht wie Schneewittchen aussehen. Aber über sehr lange Zeit wussten das die meisten Menschen nicht. Lange dachten sie, wir zerfallen innerhalb weniger Tage zu Staub.

»Schauen Sie«, sagt Reiter und zieht Obduktionsberichte aus einer Mappe, verfasst von einem »Contagionsarzt« und einem »Feldscherer«, einem Seuchenmediziner und einem Wundheiler. Dreihundert Jahre sind die Berichte alt, Contagionsarzt Glaser erzählt darin, was er gesehen hat, als er die »Truchen« der Toten öffnete.

Wir schreiben das Jahr 1731. Die Aufklärung und der aufgeklärte Absolutismus der Maria Theresia werden in den nächsten Dekaden Europa und die Welt verändern. Damals aber, im Barock, fürchteten sich selbst die stärksten Männer des Balkans immer noch vor blutsaugenden Teufeln, die nächtens aus Gräbern steigen.

Am Anfang des 18. Jahrhunderts, als das Morden und Metzeln während der Türkenkriege 1718 durch den Frieden von Passarowitz beendet worden war, saßen die Heiducken an der Südostgrenze zum Osmanischen Reich, dort, wo heute Serbien liegt. Sie beschützten Habsburgs Eroberungen. Die Heiducken waren zwar furchtlose Freischärler und Söldner, aber sie waren abergläubisch und hatten in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts auf einmal panische Angst vor Vampiren.

Eine mysteriöse Todesserie in dem Dorf Medveđa löste so große Angst unter der Bevölkerung aus, dass die Wehrbauern dem Kaiserhof in Wien damit drohten, die Stellungen zu verlassen. Die Grenze zum Osmanischen Reich wäre ungesichert gewesen. In Medveđa, gelegen zwischen Belgrad und Niš, am Nordufer der Morava, soll sich damals etwas Unheimliches zugetragen haben. Untote, sogenannte »Vampyre«, würden nächtens den Lebenden das Blut aus den Körpern saugen, und zwar so inniglich, dass »am Hals dunkle Knutschflecken zu sehen waren«, erzählt Christian Reiter.

So steht es auch in den Protokollen jener Zeit, die im Wiener Hofkammerarchiv lagern; eine Kopie davon liegt auf Reiters Tisch. Er hat die darin akribisch beschriebenen Fälle analysiert und versucht, dem Geheimnis des Vampyrismus auf die Spur zu kommen. War es wirklich nur Aberglaube, wovon die Leute berichteten? Oder hatte der Vampyrismus einen wahren Kern? Gab es Untote? Oder Menschen, die anderen das Blut aussaugten? War ein Verbrechen die Ursache der Todesserie? Oder etwas anderes?

Immer wieder drangen vor allem aus dem heutigen Serbien und Bulgarien Meldungen über Vampyre an den Wiener Hof. Dieser entsandte sachverständige Ärzte, um die Angelegenheit an Ort und Stelle aufzuklären. Der Seuchenarzt Dr. Glaser bekam den Auftrag, die Gräber der »Untoten« zu öffnen und eine Leichenschau durchzuführen.

Die Vampyre standen im Verdacht, Alte und Schwache, Mütter im Wochenbett, aber auch ganz junge, gesunde Menschen in den Dörfern hinweggerafft zu haben. Auch Schafe, Ziegen, Rinder hätten die Teufel ausgesaugt. Eine »Vervampyrungsepidemie« habe in Serbien geherrscht, erzählt Reiter. Mehr als ein Dutzend Menschen des kleinen Dorfes fieberten, delirierten, träumten von Untoten, die aus den Gräbern steigen, sich auf die Brust ihrer Opfer setzen, ihnen den Hals zuschnüren und sie zu Tode küssen, ihnen die Lebenskraft aussaugen. Die Bevölkerung hatte gegen die Epidemie ein Rezept: Ausgraben der Untoten, Pfahl durchs Herz, Abschlagen der Köpfe, am Scheiterhaufen verbrennen. Das war die Praxis, um sich vor Vampyren zu schützen. 1731 brach dann in Medveđa die Vampyr-Seuche aus.

Glaser erschien, um die Toten auszugraben. Schriftlich dokumentierte er, was er sah. Öffnen wir mit ihm den Sarg jener Frau, mit der alles begonnen haben soll: Miliza, etwa fünfzig Jahre alt, vielleicht auch sechzig, eine Geburtsurkunde gab es nicht. Sie habe nichts »diabolisches geglaubet, oder gekünstlet«, sondern nur »zwei Schaff gegessen (…) welche die Vampyres umgebracht«. Durch das Verspeisen sei sie selbst zum Vampyr geworden. Sieben Wochen sei sie nach ihrem Tod im Grab gelegen, und zwar »in keiner Truchen, sondern bloß in feichter Erden«. Sie hätte doch schon längst verwest sein müssen, glaubten die Ärzte, »alleine sie war noch vollkommen, das Maul offen habend, das helle frische Bluth auß Nasen und Maul herausgelassen, der Leib noch aufgeblasen und mit Bluth unterlaufen, welches suspect vorkommet«.

Sie ist nicht die Einzige. Da ist eine junge Mutter namens Stanno, die nach dem Gebären gestorben sei, auch sie von Vampyren getötet. Oder Ruschiza, »ein Weib von 40 Jahren«. Glaser notiert, sie sei »halb suspect«. »Peter, ein Künd von 15 Tag alt«, hingegen »sehr suspect«.

Glaser begutachtete die Leichen nur äußerlich. Die Obduktion erledigte ein Wundarzt, ein sogenannter Feldscherer namens Flückinger vom Militärkommando Belgrad. Feldschere waren dafür da, die Verletzten auf den Schlachtfeldern zu versorgen. Sie lernten ein paar medizinische Grundbegriffe und das Amputieren von Gliedmaßen. Und sie sollten dafür sorgen, dass keine Seuchen ausbrechen. Feldscher Flückinger berichtete der Obrigkeit zunächst von den Erzählungen der Dorfbewohner, wonach ein Heiduck namens Arnout Paole schon vor Jahren von Vampyren »geplagt« worden wäre. Er habe im Wahn die »Erden des Vampyrs Grabes gegessen« und sich »mit dessen Blut geschmiret«, um endlich erlöst zu werden.

Arnout Paole starb unter mysteriösen Umständen, beim Sturz von seinem eigenen Heuwagen hatte er sich das Genick gebrochen. Vierzig Tage nach der Beerdigung grub man ihn aus und erschrak, weil er »ganz vollkommen und unverweesen« war. Auch ihm sei Blut aus Augen, Nase und Mund geflossen, das Totenhemd war blutgetränkt, im Sarg sei das Blut geschwommen, die Fingernägel seien ihm abgefallen und neue gewachsen. Die Heiducken seien überzeugt gewesen, dass »er ein würcklicher vampyr seye«. Daher: Pfahl durch das Herz! Gekrächzt hätte der Leichnam beim Pfählen. Die Heiducken verbrannten den armen toten Teufel und warfen die Reste zurück ins Grab.

Die geöffneten Gräber offenbarten den blanken Horror. Miliza lag drei Monate unter der Erde, aber ihre Haut war noch rosa, zart und faltenfrei. Verwundert waren die Dorfbewohner »über ihren fettn und vollkomenenen leib«. Einhellig bekundeten sie, »das (…) das weib (…) zeit ihres lebens ganz mager und ausgedört außgesehen« habe. Ist sie im Sarg fett geworden, weil sie die Lebenden nächtens ausgesaugt hat? Dazu passte, was vor dem Öffnen beim Horchen am Sargdeckel vernommen worden war, nämlich ein Schmatzen und Schlucken, ein Kauen und Grunzen. Bei toten Männern kam noch etwas Unerhörtes hinzu, die »wilden Zeichen der Erektion«, eine »Vergrößerung des Penis«.

13 Menschen sind binnen kürzester Zeit in dem Dorf gestorben, zählte Reiter nach. Vor allem Frauen und Kinder starben zum Teil qualvoll. Da war Joviza, der von seiner Schwiegertochter Stanoika erzählte, die von einem verstorbenen Burschen namens Milloe nächtens aufgesucht und »gewürget« worden sei. Da war das »Weib Russa«, da waren der kleine Joachim, der drei Tage nach einem Gastmahl verstarb. Oder ein »Mägdelein von 10 Jahren«, das völlig »unverweesen« in der Erde lag »und in der Brust villes frisches Geblüeth« hatte.

Was war geschehen?, fragte sich Reiter, wieso sterben so viele Menschen, haben Knutschflecken am Hals und delirierten? Wieso liegen in den Gräbern schmatzende Leichen mit rosa Haut, die beim Einsargen noch schlank waren und auf einmal dick geworden sind? Und warum haben einige der Betroffenen zuvor Schafe gegessen oder waren nach einem Festmahl verstorben? Wieso starben die Wöchnerinnen und hatten blutige Flüssigkeiten in der Brusthöhle?

Wieso sahen sie alle nicht so aus wie Schneewittchen im Glassarg? Oder zumindest wie die toten Soldaten auf den Schlachtfeldern. Das Volk wusste, wie Leichen aussehen. In wenigen Wochen sind sie skelettiert. Auf den Schlachtfeldern sah man das oft.

Reiter hatte einen Verdacht. Zunächst forschte er nach dem damals herrschenden Klima: Und tatsächlich zeigen die Jahresringe in Baumscheiben jener Zeit, dass der Sommer 1731 sehr heiß gewesen war. »Die Schafe der Heiducken mussten sich mit Disteln zufriedengeben und im Erdreich nach Wurzeln suchen.« Und im Erdreich schlummerte der Tod. Nicht in Gestalt von Vampyren, sondern in Gestalt des Bacillus anthracis. Dessen Sporen überleben Jahrzehnte im Erdboden und lösen, wie der Hygieniker Robert Koch hundert Jahre später herausgefunden hat, eine heimtückische Krankheit aus: den Milzbrand.

Koch hat den Erreger 1876 entdeckt, er ist eine Zoonose, eine Krankheit, die vom Tier auf den Menschen und umgekehrt übertragbar ist. Und sein Kollege Louis Pasteur erkannte, dass Schafe schneller an Milzbrand erkranken, wenn sie im Maul Verletzungen aufweisen, verursacht etwa durch das Mampfen von Disteln. Die infizierten Schafe wiederum übertrugen den Milzbrand auf den Menschen — in Form luftgetrockneter Schafwürste oder bei Schlachtungen durch Berührung von Fell und dem Konsum von unzureichend gekochtem beziehungsweise gebratenem Fleisch.

Zu jener Zeit wurden im Herbst die schwachen, möglicherweise kranken Tiere gegessen, weil man befürchtete, sie nicht über den Winter zu bringen. Der Brauch des Ganslessens zu Martini, sagt Reiter, rühre wohl auch daher.

Der Fall war relativ einfach zu lösen: Miliza, die erste Tote, hatte verseuchtes Schaffleisch gegessen und etliche Bewohner angesteckt. Frauen im Wochenbett und ihre Neugeborenen waren zu schwach, die Krankheit zu überleben.

Bleibt eine Frage: Wieso schmatzen die Leichen im Grab? Wieso spucken sie Blut? Wieso haben sie Erektionen? Reiter lächelt: »Das kenne ich aus der täglichen Praxis. Für einen Gerichtsmediziner ist dieses Erscheinungsbild, dass eine magere Person nach dem Tod voluminös wird, dass sich ein Penis aufbläht, völlig normal.« Das seien die Folgen von Fäulnisprozessen. Reiter: »Bei der Fäulnis kommt es zur Gasentwicklung, und so werden Magere durch die Gase aufgeblasen. Es kommt auch zu einem Gaseintritt in den Hodensack und in den Penis.«

Und die rosa Haut? Die Oberhaut der Leichen gehe »zigarettenpapierartig ab«. Darunter liegt die Lederhaut. »Die ist rosa und glänzend und glatt.«

Und das Schmatzen? »Die Leichen schmatzen, weil die Gase aus der Lunge über die Atemwege nach oben austreten. Ist Flüssigkeit im Rachen, dann entsteht ein blubberndes Geräusch, das wie Schmatzen klingt.«

Das war die Hexerei an der Grenze zwischen dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich. Wo etliche Schlachten geschlagen worden sind und Tiere wie Menschen auf den Felder verendeten, gab es eine Milzbrand-Epidemie. Wer die körperlichen Folgen des Milzbrand-Erregers sehen will, sagt Reiter, könne das pathologische Museum im Narrenturm besuchen, es liegt gleich neben dem gerichtsmedizinischen Institut. Dort, wo der pestkranke Tierpfleger Barisch seine Dienstwohnung hatte, sind fünfzigtausend Objekte zu sehen, darunter kolorierte Gipsabdrücke von entzündeten Gedärmen, Pusteln und Geschwüre der Haut und Lungenentzündungen nach Einatmen jenes Bakteriums, das die Heiducken »Vampyr« genannt haben.