Es ist ein trüber Herbstmorgen, Christian Reiter erwartet mich diesmal nicht in seinem Studierzimmer, sondern an der Adresse Sensengasse 2, seinem früheren Arbeitsplatz. Er wird mich frühmorgens durch die Seziersäle und die gerichtsmedizinische Sammlung führen. Hier züchtete er Fliegenlarven, hier sezierte er zirka zehntausend Menschen, um zu klären, ob sie eines natürlichen Todes starben oder aufgrund von »Fremdverschulden«
Das Institut für Gerichtsmedizin residiert neben dem ehemaligen k. k. Garnisonsspital, links und rechts stehen zwei Anbauten aus den sechziger Jahren. Als ich vor fast einem Vierteljahrhundert das letzte Mal die Seziersäle betreten habe, um mit Reiter eine Radiosendung aufzunehmen, stank es hier nach Verwesung und Tod. Das Leichenhaus, sagte Reiter damals sarkastisch, »ist schon ein bisserl abgelebt«. Das war eine Untertreibung. Es war in einem desaströsen Zustand, kaputtgespart, die Leichen lagen nackt am Gang herum.
Das ist heute Geschichte. Das Institut ist renoviert. So wie der Campus des alten Allgemeinen Krankenhauses, an dessen Ende die Gerichtsmedizin untergebracht ist. Und so wie der Narrenturm, der über Jahrzehnte vor sich hin moderte. Gerichtsmedizin, AKH und Narrenturm sind nur ein paar Gebäude eines einst nahezu revolutionär-modernen Spitalsbezirks, erbaut unter dem Habsburgerkaiser Joseph II.
Zwischen der Spitalgasse, der Lazarettgasse, der Sensengasse schuf der aufgeklärte Monarch ein Zentrum der modernen Medizin. Große Reformer, wie der 1745 geborene Johann Peter Frank begründeten die »medizinische Polizey«, ein öffentliches Gesundheitswesen und eine Sozialmedizin, die die Armut als die »tödlichste Krankheit der Welt« erkannte. Hier forschten die Mediziner der Wiener Moderne, die Straßen ringsum tragen ihre Namen. Hier führten aber auch Nazi-Ärzte Eingriffe an jenen Menschen durch, die sie als »erbbiologisch minderwertig« klassifizierten.
Reiter forschte hier nicht nur im Auftrag der Wissenschaft oder der Medizin über den Tod, er untersuchte auch Knochen und Schädel von Menschen, die schon lange gestorben waren, die er enterdigte, die er aus Grüften holte oder die — auch das kam vor — einfach gestohlen wurden, so wie Mary Vetsera, die Geliebte des Thronfolgers Rudolf.
Adelige, Komponisten, Pfarrer, mehr oder weniger Berühmtheiten, die die Geschichte der Stadt und des Landes prägten, landeten hier auf dem Tisch — zumindest lagen ihre Reliquien unter Reiters Mikroskop: Paracelus, Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert oder Ötzi, der Mann aus dem Eis. Auch ihn hat Reiter untersucht.
Für zwei Stunden ist Reiter mein Führer durch dieses Totenreich. Einige, die hierherkamen, haben das Haus nie wieder verlassen, manche von ihnen landeten in Teilen in der Sammlung des gerichtsmedizinischen Instituts.
Etwa das Präparat Nummer 10. »Es wurde beim Abmähen eines Getreidefeldes vollkommen vertrocknet aufgefunden«, erklärt Christian Reiter. Wir stehen vor einer spindeldürren, kleingewachsenen erwachsenen Frau, der Kopf reicht uns gerade einmal bis zu den Schultern, »verstorben zwischen den Jahren 1850 bis 1870, genau lässt sich das nicht rekonstruieren«. Sie wurde außerhalb der Stadtmauern Wiens aufgefunden, dort, wo einst der Pulverturm stand und heute die besseren Wiener Viertel liegen. Der Pulverturm, verrät die Stadtchronik, ist 1779 »bei einer Explosion in die Luft geflogen, als hätte man zu gleicher Zeit tausend Kanonen abgefeuert«. 92 Menschen mussten sterben, rund um den zerstörten Bezirk wuchs eine Gstätten, und in der Grünfläche fand man rund hundert Jahre später die Mumie dieser kleinen Frau.
Kein Tier hat an ihr genagt, kein Insekt hat sie bis heute zersetzt, sie muss sofort — wohl im Winter — ausgetrocknet sein. Und weil diese kleine Frau so anmutig war und ihre Identität nie geklärt wurde, stellte man sie in die gerichtsmedizinische Sammlung. Wie eine Statue bewacht sie das Museum, den Blick nach unten gerichtet, den Mund geöffnet, trägt sie das lange dünne Haar offen.
Mediziner verwandelten ihren Körper in ein Präparat, schnitten ihn mittels Vertikalschnitt auf, klammerten die Hälften mit einem Scharnier zusammen — »wir können sie aufklappen«, erklärt Christian Reiter und öffnet die Mumie wie ein dreidimensionales anatomisches Lehrbuch. Man sieht dann ihre Wirbelsäule und vertrocknete Eingeweide, sieht in das Innere ihres Schädels. Es sind Einblicke, die vor 150 Jahren selten waren. Reiter sagt: »Und dann ist da noch etwas …«
Während des Sommers, wenn das Sonnenlicht die Fenster des meterhohen Saales flutet, bildet sich unter den Füßen der kleinen Frau eine kleine Pfütze, so, als ob sie schwitzte. »Riechen sie es?«, fragt Reiter und nähert sich mit der Nase dem Körper, »sie riecht ein bisschen nach Salami.« Das sei nichts Ungewöhnliches. Mumien seien im Grund Fleisch, dem man Flüssigkeit entzogen habe. »Wie Speck?«, frage ich. »Ja«, erklärt Reiter, wenn man früher am Land »in der Selch oder in der Speis Rauchfleisch aufgehängt hat, dann hat es auch geschwitzt.«
Nummer 10 ist eines von 2500 Präparaten, die hier im Institut in der Sensengasse 2 verwahrt sind. Gerhard Roth, der Schriftsteller, bemerkte in seiner Reportage über dieses Museum, hier seien »wie auf einer Bühne Tragödien von Verbrechen, Verrat, Einsamkeit, Verzweiflung, Eifersucht und Hass« zu sehen. Man kann es anders betrachten: Der Saal ist nicht nur die Dokumentation des Bösen, sondern auch das Reich der Aufklärung. Es ist die älteste und bedeutendste gerichtsmedizinische Studiensammlung der Welt.
Man betritt diesen für die Öffentlichkeit unzugänglichen Saal über eine unscheinbare Tür, von ihr führen links und rechts zwei Treppen ins Totenreich hinab, am Rande der Stufen stehen die Skelette von Hingerichteten neben jenen von Mordopfern, Kriegstote sind hier zu sehen und Wasserleichen. Sie stecken noch in ihren alten Lederstiefeln. Das Museum, sagt Reiter, sei die »Bibliothek von Alexandria im Fachgebiet Gerichtsmedizin«. Jedes Exponat ist ein Buch, das der Tod geschrieben hat, um den Lebenden zu helfen.
Die Seiten, die hier aufgeschlagen werden, bestünden, so schreibt Ernst Hausner in einem gewaltigen Bildband zu dem Museum, »zumeist aus Fleisch und Blut, sie präsentieren die Resultate von Taten und Tatwerkzeugen, herbeigeführten oder schicksalhaften Ereignissen, sie zeigen (in Teilen) vor allem die Betroffenen«. Die Täter, so bemerkt er, bleiben trotz all der Realität ihres Wirkens »zuerst ins Unsichtbare entrückt«.
In fünf Reihen sind hier Glaskästen aufgestellt, in denen Gerichtsmediziner die Asservate nach einzelnen Kapiteln gerichtsmedizinischer Lehrbücher geordnet haben. Hier ruhen »Knochenpräparate, Trockenpräparate, Feuchtpräparate, Korrosionspräparate, Injektionspräparate, Aufhellungspräparate und Moulagen, Modellplastiken und Gipsabformungen«. Daneben bewachen groteske Fettwachsleichen, mumifizierte Kinder, eingetrocknete Tiere oder sogar Schrumpfköpfe — »der Zwidere« und »der Gmiatliche«, wie Reiter sie nennt — diesen Hades, bestehend aus den Einzelteilen von Mitmenschen.
Es ist völlig ruhig in diesem Saal, bis auf ein gespenstisches Knacken, das durch das »arbeitende Holz« der Balken des Hörsaals verursacht wird, wie Professor Reiter erklärt. Es durchbricht die Stille, die auch dem Respekt vor den Toten geschuldet ist. Neben den Mumien und den in Formalin gelegten Körperteilen ruhen hier dutzende Totenköpfe, die von Verbrechern eingeschlagen wurden, aber mit Drähten wieder kunstvoll zusammengesetzt worden sind, damit Studenten an ihnen lernen konnten. Sie seien »mazeriert« worden, sagt Reiter, ausgekocht und als Trockenpräparate verwahrt. Und später »sind sie zwar identifiziert, aber nicht mehr bestattet worden«. So fanden sie hier ihre ewige Ruhe.
Welchem Zweck dienen diese Präparate heute? Wozu brauchen wir sie, frage ich Reiter, während wir von der Eisentreppe auf diese Sammlung hinabschauen. Das Museum archiviert eine Kulturgeschichte der Not und des Verbrechens, führt Reiter aus. Es dokumentiere die Leidensgeschichten der Opfer, nicht selten armer Frauen und ihrer Kinder. Es gebe Fälle, die man heute im Seziersaal nicht mehr sehen könne und schon gar nicht als museale Präparate aufheben könne: die Fettwachsleiche in den Stiefeln etwa. Sie sei nach vielen Jahren im Museum eines Tages von Käferlarven befallen worden. Man habe sie bedampft und von Ungeziefer befreit, denn »wo gibt es so etwas noch zu sehen?«
Die Studierenden könnten hier Todesursachen sehen, die es Gott sei Dank nicht mehr zu beklagen gebe. Wenn sich ein junger Gerichtsmediziner über das gesamte Spektrum der Todesarten informieren möchte, auch historischer Mordmethoden, »dann hat er hier die Möglichkeit, anhand der Präparate diese Wissenslücken zu füllen«. Man könne hier »im Wortsinn etwas, was man noch nicht kennt, begreifen, angreifen, anschauen«.
Bedächtig und mit dem notwendigen Ernst schreiten wir zwischen den Glasvitrinen, die auf mich wie Glassärge eines kleinen Friedhofs wirken. Sie sind zwar nicht mit den Namen der Verstorbenen beschriftet, sondern erzählen von der Phantasie und der Mordlust des Menschen. »Verbrennung mit Schwefelsäure, Eifersuchtsattentat des Gatten, verstorben nach acht Tagen«, lese ich auf einem Asservat. Man sehe hier die Hautveränderungen an der Brustkorbvorderseite einer Frau, sagt Reiter, die »Säure-Abrinnspuren«. Daneben ein paar Regale mit »Verätzungen der oberen Verdauungswege«.
Früher, erklärt Reiter, lagerten in den Küchen unter der Abwasch alle möglichen Substanzen, die man im Haushalt gebraucht hat, etwa Salzsäure oder Natronlauge. Hausfrauen, die aus dem Leben scheiden wollten, »es aber nicht übers Herz brachten, sich zu erhängen«, tranken von der Säure und starben einen qualvollen Tod. Reiter zeigt nun auf Leberpräparate, die Spuren von Phosphorvergiftungen dokumentieren. Wieder eine Todesart, die es heute nicht mehr zu sehen gebe, erzählt Reiter und berichtet von einem Stubenmädchen, das »ungewollt schwanger geworden ist und ein paar Schachterln Zündhölzer in einem Reinderl am Herd erwärmt« habe, um den Phosphor zu schmelzen und diesen als Abtreibungsmittel zu trinken. Die Organe sind handwerklich kunstvoll arrangiert, mit dünnen unsichtbaren Schnüren aufgespannt, wirken sie, als würden sie in den Glaszylindern schweben.
In den unteren Reihen der Regale sind sogar tätowierte Hodensäcke und Penise ausgestellt, offenbar haben die Gerichtsmediziner früher Interesse an den Stücken gefunden. Ich lese später in Hausners Bildband nach, dass man von manchen Toten offenbar noch bis in die siebziger Jahre Präparate anfertigte. Die Akte eines in Alkohol gelegten Geschlechtsteils vermerkt: »1951, gestorben an Schädelbruch, Verkehrsunfall. Fahrerflucht«. Noch 1976 schnitt man einem Toten den Penis samt Hodensack ab und konservierte ihn, offenbar weil er einen »an der Vorhaut befestigten Schweinsborstenanhänger« trug, ein Piercing, das damals als Kuriosum galt. Der Mann sei durch Schüsse schwer verletzt worden und starb im Spital. »Nur für meinen Schatz Kathy«, »Nur für Damen«, ist auf konservierten Häuten zu lesen.
All die Ornamente, Blumen, Heiligenbilder und Widmungen erinnern Reiter an »naive Bauernmalerei«, an »Hinterglasmalerei«, an »gestickte Deckerln mit Kreuzstich«. Gerichtsmediziner seien »große Fans des Tätowierens, weil es dadurch wesentlich leichter ist, unbekannte Leichen zu identifizieren«. Für einen Gerichtsmediziner seien Tätowierungen daher etwas Feines, sie erleichtern die Arbeit. Und natürlich waren sie einst etwas Seltenes, aber auch etwas Ethnographisches, das man nicht so einfach wieder in den Sarg legen wollte.
Wir schreiten von einer Vitrine zur nächsten, Neugier vertreibt das anfängliche Grausen. Ich studiere und notiere die Beschriftungen der menschlichen Körperteile, weil sie auch Aufschluss geben über das Schicksalhafte, aber auch das Grausame unserer menschlichen Existenz. »Zerreißung des Herzens durch Sturz aus dem zweiten Stock«, »sexuell motivierte Bisswunden bei Lustmord«, »abgebissener Daumen«, »Schleifspuren am Schuhwerk und an den bloß gelegten Knochen eines Fußes durch Treiben in der Donau«, »nach dem Tode vom eigenen Hund angenagt«, »Fruchtabtreibung«. Es sind jene Menschen, die am Vortag nicht wussten, was ihnen tags darauf widerfahren wird. Jeder von uns könnte hier ausgestellt sein, wäre er vor mehr als fünfzig Jahren gestorben.
Wir halten bei zwei Kindern, die am Dachboden entsorgt und von Nagern angebissen wurden; sie liegen in der Vitrine, die den Tod von Kindern und Säuglingen dokumentiert. Armut, medizinische Unterversorgung und wohl auch Scham hat den hier ausgestellten Babys das kurze Leben gekostet. »Kindsmord durch Erdrosseln«, »Kindsmord durch Halsdurchschneiden«, »Kindsmord durch Erschlagen« und »Kindsmord durch Faustschlag«. Reiter hebt ganz vorsichtig diesen einen kleinen Totenkopf aus dem Regal, er ist dünn wie Papier: »Wir wissen, wie eingeschlagene Schädel bei Erwachsenen ausschauen. Aber wir wissen aus der täglichen Erfahrung wenig, wie es aussieht, wenn ein erwachsener Mensch auf den Schädel eines fünf Monate alten Kindes mit der Faust schlägt.« Hier können wir es studieren.
Nur ein paar Schritte weiter zwei »verblindete« Kästen, in ihnen lagert die sogenannte »Systematische Sammlung verschiedener Hymenalformen«. Erst vor einigen Jahren wurden diese Schränke mit weißen Folien blickdicht gemacht. Während die männlichen Gemächte in den unteren Regalreihen wie Kunstwerke ausgestellt werden, sind die weiblichen Organe schamhaft versteckt. Wir lassen den Kasten verschlossen, aber ich erinnere mich noch an den Besuch aus Studententagen: Die Genitalien waren wie seltene Schmetterlinge aufgespannt. Die Sammlung irritierte schon damals. Reiter erklärt, die Gerichtsmedizin habe bis in die achtziger Jahre von der Justiz die Aufgabe übertragen bekommen, nach Sexualdelikten den »Zustand der Jungfräulichkeit« zu untersuchen. Schon damals, erzählt er, sei dieser Auftrag den Ärzten zutiefst zuwider gewesen. »Wir haben wieder eine Defloration. Die Polizei kommt mit dem Opfer in einer halben Stunde«, hieß es, »und viele Kollegen haben sich mit einem dicken Buch am Klo eingesperrt und waren längere Zeit nicht greifbar.« Bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts seien »nicht-deflorierte und deflorierte Hymen« bei Obduktionen »rausgeschnitten und aufgespannt« worden, um Gerichtsmediziner dadurch auszubilden, Vergewaltigungen aufzuklären. Mit der DNA-Methode sei dieser Befundbereich obsolet geworden, sagt Reiter, »aber jetzt haben wir zwei Kästen mit diesen Präparaten und fangen nichts mehr damit an, weil wir sie nicht brauchen«. Umgekehrt seien sie »ein Zeichen ihrer Zeit, ein Kulturdenkmal, das wir aufbewahren müssen«. Als Mahnmal einer patriarchal-gewalttätigen Gesellschaft und einer Justiz, die von dieser geprägt war.
Wir schlendern an der Totenmaske von Luigi Lucheni vorbei, dem Hilfsarbeiter und Anarchisten, der im Alter von 26 Jahren Elisabeth, die Kaiserin von Österreich, mit einer Feile erstach. Daneben der Kasten mit den »Stich- und Schnittverletzungen«. Wien besitze »die größte Sammlung von Schädeln nach Selbstmord durch Erhacken«, klärt Reiter auf und deutet auf ein Asservat: »Wir sehen, dass hier sicherlich hunderte Male auf den Kopf geschlagen wurde, so lange, bis der Knochen so zertrümmert war.« Selbstmord durch Erhacken sei fast immer mit Schizophrenie kombiniert.
Die Beschriftungen der Totenschädel in den Glasvitrinen lauten folgendermaßen: »Zahlreiche Hiebe mit Bügeleisen«, »Mit einer Holzhacke erschlagen«, »Hiebe mit Steinklopfer«, »Spatenhiebe«, »Von der Dampftramway überfahren«, »Mit Maurerhammer erschlagen«, »Hiebe mit Schmiedehammer«, »Mit einem Holzprügel erschlagen«. Zwei nebeneinander ruhende Schädel tragen rosa Zahnprotesen. »Sohn erschlug seine beiden Eltern mit einem 2 Kilo Gewicht.« Ob das einstige Ehepaar je damit gerechnet hat, hier in dieser Form die letzte Ruhe zu finden? Reiter sagt: »Damals wurden diese Köpfe auf richterlichen Beschluss als Beweismittel für den Prozess abgetrennt, ausgekocht, aufgehoben und dann nicht mehr bestattet. Hier im Museum haben sie ihre letzte, auch bedeutungsvolle Ruhestätte gefunden.«
Wir schreiten weiter. Reiter zeigt auf ein offenes Regal: »Dieser Kasten umfasst den Themenkreis Mumifizierung.« Ägyptische Köpfe schauen uns mit zornig aufgerissenen Mündern an. Kein Wunder, angesichts des Frevels der Nachwelt. Apotheker aus ganz Europa beauftragten Grabräuber, Mumienschädel zu exportieren. Warum? Reiter holt aus. Ägyptische Mumien seien nicht nur mit Natron eingesalzen, sondern auch mit Erdpech konserviert worden. Die Hirne seien entfernt, die Köpfe mit »Mum« gefüllt worden, Erdpech, Bitumen. Apotheker verarbeiteten es zu Zugsalbe, wenn sich Menschen einen Schiefer eingezogen hatten, aber auch als Medikament bei Durchfall. »Eine sehr archaische Medizin«, sagt Reiter, aber »Mumia vera pulverisata« war begehrt. Immer wieder entdecke die Polizei Mumien oder mumifizierte Präparate auf Dachböden oder in Mülltonnen. Reiter zieht nun ein mumifiziertes Bein aus dem Regal. Vor einigen Jahren wurde es in einer Mülltonne im Nobelbezirk Wien-Döbling gefunden.
»Was sagen Sie dazu?«, fragte ihn die Polizei.
Reiter antwortete: »Es ist eindeutig eine untere Extremität, wobei die Proportionen nicht ganz passen.« Fersenbein, eine Wachstumsfuge, kein erwachsenes Individuum. Ein Kleinwüchsiger? Ein Kind?
»Nein, dafür war der Fuß zu groß.« Reiter entdeckte bei Röntgenuntersuchungen im Fuß Knöchelchen, die eigentlich dort nicht hingehören — sogenannte Sesambeine, kugelige, zusätzliche Knochenstrukturen, die der menschliche Fuß nicht kennt. Ein Veterinär löste das Rätsel. »Das ist der Fuß eines Bären.« Eine Familie hatte Bärenschinken aus Slowenien importiert und nach dem Verzehr die Knochen weggeschmissen. »So kam der Hinterlauf des Bären in unseren Besitz.«
Das Knacken im Gebälk hat aufgehört. Es ist still in diesem Saal, in dem die Wissenschaft den Tod aufklärt und zugleich der Vergänglichkeit und der Verwesung trotzt. Aber nicht alles hier ist tot. Es gibt auch Leben. Speckkäfer würden sich hier »immer irgendwo durchwurschteln« und die Mumien und Fettwachsleichen riechen. Sie alle stünden in Gefahr, dass sie aufgefressen werden. Mit einer Pyrethrumbombe habe man die Käfer deshalb hier »ausgegast«. Wenn die Leichen hier kaputtgehen, sagt Reiter, »dann können wir uns ja nicht einfach auf dem Friedhof neue holen«.